Warum Boris Johnson keine Angst vor Neuwahlen hat
Boris Johnson hat ein Abkommen mit der EU im letzten Moment ausgehandelt. Auch wenn das Parlament dagegen stimmen sollte, würde dies Johnson nicht besonders schaden. Er stellt sich auf die Neuwahlen ein – und ist siegesgewiss.
In der letzten Minute konnten sich Großbritannien und die EU auf ein Austrittsabkommen einigen. Boris Johnson triumphierte, auch wenn er viele Zugeständnisse machen musste. Das größte davon ist eine de facto Zollgrenze in der Irischen See, die entstehen soll, um eine harte Grenze auf der irischen Insel zu verhindern. Gleichzeitig soll aber Nordirland formell die EU-Zollunion zusammen mit dem Rest des Landes verlassen. Ein kompliziertes System von Zollbestimmungen, Regelungen und Kontrollen soll dafür sorgen, dass der Plan umgesetzt wird. Das Abkommen braucht aber noch eine Zustimmung des Parlaments, die keineswegs sicher ist.
Trotzdem kann Johnson zufrieden sein. Sein politisches Kalkül scheint aufzugehen. Mal für mal ging er große Risiken ein und scheiterte oft. Doch jetzt könnte ihm ein wahrer Coup gelingen. Man könnte Johnson als einen Spieler sehen, der jede Gelegenheit ausprobiert und vor nichts zurückschreckt.
Ausgang der Unterhausabstimmung ungewiss
Johnsons Risikospiel ist noch nicht zu Ende. Am Samstag wird das Parlament zu einer Sondersitzung zusammenkommen, um über das Austrittsabkommen abzustimmen. Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament sehen für Johnson momentan nicht gut aus. Die nordirische Democratic Unionist Party (DUP) erklärte bereits, dass sie den ausgehandelten Deal wegen der Zollgrenze in der Irischen See ablehne. Der Labour-Chef Jeremy Corbyn kritisierte das Abkommen ebenfalls und kündigte an, dass seine Partei dagegen stimmen werde. Auch die Liberaldemokraten, die den Brexit ablehnen, sind dagegen. Johnson muss also nicht nur diejenigen Euroskeptiker in der eigenen Fraktion überzeugen, die auf der Seite der DUP stehen. Er braucht auch die Stimmen von jenen Konservativen Abgeordneten, die er im September aus der Fraktion ausgeschlossen hatte, überdies Stimmen aus der Labour-Fraktion.
Doch selbst wenn Johnson im Parlament verliert, könnte er innenpolitisch als Gewinner aus der Abstimmung hervorgehen. Sein Hauptversprechen im Kampf um das Amt des Parteivorsitzenden war, den Brexit bis zum 31. Oktober durchzuführen, „koste es, was es wolle“. Mit diesem Versprechen konnte er die Mehrheit der Mitglieder der Konservativen Partei für sich gewinnen. Und jetzt stellt er sich schon auf die Neuwahlen ein, die sehr wahrscheinlich kommen werden, wenn das Austrittsabkommen abermals vom Parlament abgelehnt wird. Das Versprechen, den Brexit durchzusetzen, wird bei einer großen Mehrheit von konservativen Wählern auf Resonanz stoßen.
Johnson fürchtet Neuwahlen nicht
Boris Johnson könnte in den Wahlkampf ziehen und sich damit brüsten, dass er alle Möglichkeiten ausprobiert hat, um den Brexit bis Ende Oktober zum Abschluss zu bringen. Die Beschädigung der britischen Demokratie, hohe Kosten für die Wirtschaft und eine ungewisse Zukunft nahm Johnson in Kauf. Er versuchte, das Parlament für fünf Wochen in den Zwangsurlaub zu schicken, und löste eine Verfassungskrise aus. Er schloss 21 moderate Abgeordnete aus der Fraktion aus, unter anderem mehrere Ex-Minister und den Enkel von Winston Churchill. Doch nicht einmal das scheint ihm in den Augen der Tory-Wähler geschadet zu haben. Die moderaten Rebellen wurden entmachtet und Johnsons Machtspiel ging auf.
Johnson, dessen großer Traum lange gewesen war, britischer Premierminister zu werden, geht die Politik wie ein Spiel mit hohen Einsätzen ein. Vor dem Referendum über den Austritt aus der EU schlug er sich im letzten Moment auf die Leave-Seite – nicht, weil er ein überzeugter Skeptiker der Europäischen Union war, sondern weil er sich einen taktischen politischen Vorteil erhoffte. Er stimmte im Parlament mehrmals gegen den Deal mit der EU, den seine Vorgängerin Theresa May ausgehandelt hatte, und kritisierte ihn als unakzeptabel – doch als Premierminister übernahm er viele Punkte aus dem Abkommen und machte sogar mehr Zugeständnisse gegenüber der EU als May.
Ganz bewusst hat Johnson seine Bereitschaft demonstriert, zur Not auch ohne Abkommen aus der EU auszutreten. Auch nachdem das Parlament ein Gesetz verabschiedet hatte, das Johnson rechtlich dazu verpflichtete, im Fall eines No-Deals eine Verlängerung der Verhandlungen zu beantragen, bestand er darauf, dass der Brexit in jedem Fall am 31. Oktober vollzogen werden müsse – zur Not ohne Abkommen. Vor den Wahlen ist es für Johnson wichtig zu zeigen: falls er sein Versprechen, den Brexit bis Ende Oktober „um jeden Preis durchzuführen“ nicht erfüllt, dann liege es nicht an ihm. In der Öffentlichkeit soll der Eindruck entstehen, dass Johnson bis zum letzten Moment mit allen Mitteln gegen das Parlament und gegen die EU kämpft. Und falls es doch zu einer Verlängerung der Austrittsfrist kommt, dann obwohl er sich vehement dagegen gewehrt habe.
Weshalb Johnson vergleichsweise beliebt ist
An Johnsons Seite ist der Berater Dominic Cummings, der Chefstratege der Brexit-Kampagne. Seine Anhänger halten ihn für ein Genie, das sich nicht von Konventionen aufhalten lässt. Seine Gegner sehen in ihm dagegen die gefährliche Eigenschaft, keine Prinzipien zu haben und alles aufs Spiel zu setzten, um seine Ziele zu erreichen. Das Überschreiten von roten Linien, die für andere Politiker gelten, ist für Johnson und Cummings Teil der Taktik.
Kommt es zu einer Neuwahl, dürften Johnson und Cummings mit ihrer Taktik durchaus Erfolg haben. Bei den Wählern liegt die Konservative Partei je nach Umfrage derzeit mit 33 bis 38 Prozent vorn. Sie hat einen deutlichen Vorsprung vor dem Hauptkonkurrenten, der Labour-Partei. Boris Johnson wird laut YouGov-Umfrage von 33 Prozent der Wähler als positiv und 47 Prozent als negativ eingeschätzt. Mit solch schlechten Beliebtheitswerten ist er trotzdem der populärste Politiker des Landes.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Oppositionschef Jeremy Corbyn noch unbeliebter als Johnson ist. In der Vergangenheit ist Corbyn mit antisemitischen Äußerungen aufgefallen. Er verhindert bis jetzt, dass sich Labour klar gegen den Brexit stellt. Und mit seinem Wirtschaftsprogramm, das zum Teil Verstaatlichungen oder die komplette Abschaffung von Privatschulen vorsieht, dürfte er wirtschaftsliberal gestimmte Wähler abstoßen. Corbyn ist der beste Oppositionschef, den sich Johnson nur wünschen kann.
Doch ein wichtigerer Grund für Johnsons Popularität ist die Tatsache, dass ein großer Teil der Briten weiterhin überzeugt ist, dass ihr Land die EU verlassen soll. Laut einer jüngsten YouGov-Umfrage glauben noch immer 42 Prozent der Briten, dass es eine richtige Entscheidung gewesen sei, für den Brexit zu stimmen. Wenn es bald zu Neuwahlen kommt, will sich Johnson so viele Stimmen der Brexit-Anhänger wie möglich sichern.
In einer solchen Situation schlägt die Stunde des Spielers. Die Frage ist, was Johnsons Einsätze am Ende für die Wirtschaft und die demokratische Ordnung bedeuten.
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