Ukraine-Krieg als Stresstest für die Energiewende
Russlands Überfall auf die Ukraine war auch ein Schock für die deutsche Energiepolitik. Das bisherige Erfolgsmodell Deutschland beruhte auf einer dreifachen Externalisierung: Der Auslagerung unserer Sicherheit an die USA – Auslagerung unseres Wachstums an China und Auslagerung unserer Energieversorgung an Russland (eine viel zitierte Formel der Politikwissenschaftlerin Constanze Stelzenmüller).
Alle drei Prämissen entpuppen sich jetzt als Schwachstellen und Krisenfaktoren. Die USA werden nicht auf Dauer bereit sein, die Lasten für Europas Sicherheit zu tragen; China und Russland sind machtpolitische Gegenspieler und systemische Rivalen zu den liberalen Demokratien des Westens. Für sie sind wirtschaftliche Beziehungen kein Selbstzweck, sondern Machtinstrumente in einem großen geopolitischen Spiel. Die Erwartung, dass wirtschaftliche Verflechtung mit der Zeit zu einer politischen Liberalisierung oder zumindest zu einer Einbindung in eine regelbasierte Weltordnung führen würde, ist gescheitert.
Unsere bisherige Trennung zwischen Sicherheitspolitik einerseits, Wirtschafts- und Energiepolitik andererseits ist nicht länger haltbar. Ab sofort ist die drastische Reduzierung strategischer Abhängigkeiten von unseren geopolitischen Gegnern angesagt. Eine totale Entkopplung ist weder wünschenswert noch realistisch – vor allem mit Blick auf China –, aber strategische Klumpenrisiken müssen abgebaut, Lieferketten und Absatzmärkte diversifiziert, neue Allianzen aufgebaut werden.
Energiepolitisch gibt es kein Zurück mehr zum Status quo ante mit Russland. Der Ausstieg aus russischen fossilen Energieträgern – Öl, Gas, Kohle – ist irreversibel, weil Russland auch nach jedem denkbaren Ende des Ukraine-Krieges eine Gefahr für die europäische Sicherheit bleiben wird, solange im Kreml ein neo-imperialer Geist herrscht, der auf Restauration der „russischen Welt“ zielt und den Westen als Gegner sieht.
Es ist genauso gekommen, wie es die Kritiker der deutschen Russlandseligkeit prophezeit haben: Der Kreml setzt Energie als politische Waffe ein. Die Verknappung des Gasangebots – die schon vor Beginn des russischen Angriffs einsetzte – ist ein Mittel der Destabilisierung und Spaltung Europas.
Die Politiker und Manager, die uns sehenden Auges in die Energieabhängigkeit von Russland geführt haben, waren mit Blindheit geschlagen. Ein exemplarisches Beispiel ist der Verkauf des größten europäischen Gasspeichers (Rheden) an Gazprom im Tausch gegen die Beteiligung deutscher Firmen an neuen Gasfeldern am russischen Polarkreis. Der Deal hatte den Segen des damaligen Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel; abgesichert wurde er durch Bürgschaften des Bundes in Milliardenhöhe. War es politische Naivität, die Aussicht auf lukrative Geschäfte oder ging es um die „Achse Berlin-Moskau“ als strategisches Projekt?
Ähnliche Fragen stellen sich angesichts der Tatsache, dass die Verträge für NordStream 2 nach der russischen Okkupation der Krim und der militärischen Intervention in der Ostukraine unterschrieben wurden – trotz aller Kritik und aller Warnungen europäischer Partner.
Abkopplung von Russland
Jetzt ist guter Rat teuer. Wir stecken in dem Dilemma, im Eiltempo Alternativen zu fossilen Energieträgern aus Russland zu erschließen, ohne unsere Klimaziele auszuhebeln. Kurzfristig steht beides in einem Spannungsverhältnis, langfristig wird der Übergang zu einem Erneuerbare-Energien-System auch die europäische Energiesouveränität stärken.
Robert Habeck hat diesen Konflikt eingeräumt, als er zu Beginn des Krieges davon sprach, dass Energiesicherheit im Zweifel vor Klimaschutz geht. Die aktuelle Energiekrise hat uns vor Augen geführt, wie sehr moderne Industriegesellschaften auf eine gesicherte Energieversorgung angewiesen sind. Energie ist der Blutkreislauf, von dem alles abhängt: Produktion, Transport und unser Alltagsleben, das an einer gesicherten Strom- und Wärmeversorgung hängt. Die Abhängigkeit von russischem Gas ist die Achillesferse unserer Energieversorgung, weil Öl und Kohle in viel höherem Grad auf dem Weltmarkt verfügbar sind. Als zentrales Problem entpuppt sich nicht die nackte Versorgungssicherheit – die bekommen wir in einem Kraftakt gewährleistet –, sondern die exorbitant steigenden Kosten quer durch die Energiekette.
Die gute Nachricht ist: Wir haben die Abhängigkeit von russischem Gas erstaunlich rasch und drastisch reduziert. Noch vor wenigen Monaten wurde der Untergang der deutschen Wirtschaft heraufbeschworen, wenn russisches Gas ausfällt. Aktuell liefert Russland nur noch Restmengen über die Ukraine, aber wir kommen zurecht und werden – Stand heute – auch einigermaßen glimpflich über den Winter kommen.
Dabei spielen die Auswirkungen hoher Preise auf den Verbrauch und eine konzertierte Kraftanstrengung von Politik und Unternehmen zusammen. Sie führen zur Diversifizierung von Öl- und Gasimporten, zu Einspareffekten bei Industrie und privaten Haushalten und zur Substitution von Gas durch andere Energieträger: Strom und Heizöl in der Industrie, Kohle im Stromsektor.
Der Primärenergiewechsel in der Stromerzeugung war bisher noch ausgesprochen zögerlich – der Anteil von Kohlestrom ist nur moderat gestiegen, im Sommer lieferten Gaskraftwerke mehr Strom als im Vorjahr. In einer akuten Gaskrise eigentlich ein Unding.
Energiepolitische Optionen
Variante 1: Wir bleiben bei Erdgas als „Brückenenergie“ – dann müssen wir russisches Gas in einer Größenordnung von rund 160 Mrd Kubikmeter im Jahr durch alternative Importe ersetzen. Dann stellt sich auch die Frage einer Wiederaufnahme der heimischen Gasförderung. Wir sitzen auf beträchtlichen Reserven – der Haken ist bloß, dass sie nur durch Fracking erschlossen werden können. Ähnlich wie bei der Atomenergie, wo wir uns in einem Verbund mit dem französischen Stromsektor befinden, leisten wir uns auch bei Erdgas eine not-in-my-backyard – Mentalität: Import von Schiefergas aus den USA ja bitte, aber nicht bei uns!
Variante 2: Wir senken den Gasverbrauch schneller als geplant, dann müssen wir im Stromsektor – sofern es beim Atomausstieg bleibt – vorübergehend verstärkt auf Kohle zurückgreifen und Gebäude sehr viel rascher auf Wärmepumpen und Solarwärme umrüsten – sofern es dafür die nötigen Rohstoffe, Bauteile und Handwerker gibt.
Ein drittes, inzwischen unstrittiges Element ist der beschleunigte Umstieg auf Elektromobilität, um die Abhängigkeit von Mineralöl zu senken.
Viertens muss die Energieeffizienz in allen Sektoren vorangetrieben und der Aufbau eines Erneuerbare-Energien-Systems beschleunigt werden. Die Fixierung auf den beschleunigten Zubau von Solar- und Windenergie greift zu kurz. Ohne den zügigen Ausbau der Stromnetze, der Speicherkapazitäten und den raschen Einstieg in eine Wasserstoff-Ökonomie bleibt die Energiewende auf halber Strecke stecken.
Europäisierung der Energiewende
Damit der zügige Übergang in eine neue, klimaneutrale Energiewelt gelingt, müssen wir uns fünftens von der nationalen Engführung der Energiewende verabschieden. Ich befürchte, das ist noch nicht hinreichend bewusst. Wir brauchen mehr europäische und internationale Kooperation und großräumige Netze für grünen Strom und Wasserstoff. Das ist eine Mengen- und Kostenfrage.
Auch bei einer kontinuierlichen Steigerung der Energieeffizienz wird der Strombedarf im Verkehr, der Industrie, im Gebäudesektor massiv steigen. Das erfordert einen Europäischen EE-Verbund mit Wind von den Küsten, Solarstrom aus dem Sonnengürtel rund ums Mittelmeer, Wasserkraft von der Nordsee und den Alpen.
Die Neuauflage des Desertec-Projekts ist daher sehr zu begrüßen. Der massive Ausbau von Solar- und Windstrom in den Wüstenländern Nordafrikas ist ein Beitrag zur ökonomischen Entwicklung und politischen Stabilisierung der Region, ihrer engeren Anbindung an die EU und zur Versorgung Europas mit preisgünstigem Strom und Wasserstoff.
Wasserstoff wird künftig vor allem aus Regionen kommen, in denen klimaneutraler Strom in rauen Mengen und geringen Kosten zu Verfügung steht: aus der Mittelmeer-Region und Nordafrika, der Golfregion, Australien, Chile, hoffentlich auch aus der Ukraine mit ihrer Kombination aus EE und Atomkraft.
Das erfordert den Aufbau strategischer Allianzen und den Ausbau der grenzüberschreitenden Energie-Infrastruktur: Stromnetze, Umrüstung von Gaspipelines auf Wasserstoff, Wasserstoff-Terminals an Nord- und Ostsee. Ohne eine drastische Beschleunigung von Genehmigungsfristen und Bauzeiten wird das nicht klappen.
Wir brauchen mehr Pragmatismus bei der Wasserstoff-Farbenlehre, um den Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur und die Umstellung von industriellen Produktionsprozessen auf H2 und synthetische Kraftstoffe zu beschleunigen. Das gilt auch für die Substitution von Flugbenzin durch synthetische Kraftstoffe bzw. die Direktverbrennung von Wasserstoff. Wenn wir damit nicht bis jenseits 2030 warten wollen, muss vorübergehend auch Wasserstoff auf Erdgas-Basis eingesetzt werden.
Energiepreise als kritischer Faktor
Der kritische Faktor wird voraussichtlich nicht die physische Verfügbarkeit von Energieträgern sein, sondern die Energiepreise. Wir haben es mit Preissteigerungen bei Gas- und Stromkontrakten um den Faktor 10 zu tun. Selbst wenn es nicht bei diesem exorbitanten Preisniveau bleibt, werden die Energiekosten nicht mehr auf das alte Niveau zurückfallen. Die Zeit vermeintlich billiger (fossiler) Energien ist vorbei.
Wir haben es mit einer Kombination aus den Kosten für den Aufbau eines neuen Energiesystems, einer politisch gewollten Verknappung und Verteuerung fossiler Energien sowie geopolitischen Konflikten zu tun, die für absehbare Zeit die Energiepreise treibt. Das erfordert gezielte Entlastungen vor allem für einkommensschwache Haushalte und energieintensive Industrien.
Ob es gelingt, die Grundstoffchemie, Stahl, Zement, Aluminiumproduktion in Deutschland zu halten, ist eine offene Frage. Entscheidend dafür ist die dauerhafte Differenz zwischen den Energiekosten bei uns und an den Standorten, mit denen wir im Wettbewerb stehen, etwa den USA und den Golfstaaten. Aktuell ist der Gaspreis für die Industrie in Deutschland etwa fünfmal höher als in Amerika. Klimapolitisch wäre durch die Abwanderung energieintensiver Branchen in andere Weltregionen mit geringeren Umweltstandards jedenfalls nichts gewonnen.
Die bessere Alternative wäre, sich auch in diesen Branchen an die Spitze der ökologischen Transformation zu setzen und den Übergang von Gas und Öl auf Regenerativstrom und Wasserstoff zu beschleunigen. Die Transformationskosten können aber nicht allein von der Industrie getragen werden, solange wir keine vergleichbaren internationalen Wettbewerbsbedingungen haben. Wieweit das Modell der „Carbon Contracts for Difference“ trägt, werden wir sehen. Auch die Reserven der öffentlichen Haushalte sind nicht unbegrenzt.
Jetzt handeln und offen für Innovationen bleiben
Abschließend noch eine Bemerkung zu der Vorstellung, wir könnten die Zukunft unseres Energiesystems bis ins Jahr 2050 vorausplanen. Tatsächlich müssen wir den Umbau des Energiesystems auf der Basis der heute verfügbaren Alternativen vorantreiben, vor allem der Solar- und Windenergie. Aber wir sollten bitte nicht glauben, das sei schon die finale Zukunft eines nachhaltigen Energiesystems. Wir brauchen Offenheit für wissenschaftlich-technische Innovationen auch im Energiesektor.
Welche Rolle künftig thermische Solarkraftwerke, die Kernfusion, eine neue Generation dezentraler, inhärent sicherer Atomreaktoren, Biotechnik (Mikroorganismen als Energielieferanten), technische Photosynthese etc. spielen werden, lässt sich nicht definitiv voraussagen. Gewiss ist nur, dass sich technische Innovationen im Energiesektor mit wachsender Knappheit und steigenden Preisen beschleunigen werden.
Die letzten 20 Jahre waren vor allem durch Sprunginnovationen in der Computertechnik und den Informations- und Kommunikationstechnologien geprägt. Wir hantieren heute mit Geräten und Internetwelten, die vor einer Generation noch als Science-Fiction galten. Solch rasante Umwälzungen werden wir in den kommenden Jahrzehnten auch auf dem Feld der Energietechnik sehen. Der hemmende Faktor sind hier die enormen Infrastrukturinvestitionen und Kapitalkosten für den Aufbau eines Erneuerbare-Energien-Systems. Sie schaffen Pfadabhängigkeiten und erfordern langfristige Kalkulierbarkeit. Das Kunststück besteht darin, dennoch genügend Raum und Flexibilität für Innovationen zu geben, die neue Energiequellen erschließen und Monostrukturen vermeiden.
Der Energiesektor ist das Kernstück einer grünen industriellen Revolution, die gerade erst begonnen hat. Ihre wichtigsten Springquellen sind die Einstrahlung von Sonnenenergie auf die Erde und der menschliche Erfindungsgeist. Die Möglichkeiten, die sich aus dieser Kombination ergeben, sind noch lange nicht ausgeschöpft.
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