Joue pas de Rock ’n‘ Roll pour moi
Als Erben von ’68 inszenieren sich viele Grüne immer noch gern als Rock ’n‘ Roller der deutschen Politik. Lasst das sein! ruft ihnen Peter Unfried in seiner neuen LibMod-Kolumne zu. Erstens spielt ihr längst eine andere gesellschaftliche Rolle, und zweitens ist Rock ’n‘ Roll für die wirklich Jungen ziemlich out. Das „große Ding“ ist jetzt „das verantwortliche Umgehen mit der eigenen Freiheit zum Wohle des Ganzen.“ – Und, liebe Leser, was hört ihr so zu Weihnachten? Immer noch Elvis und die Stones oder eher die Weihnachtsmesse des großen Johann Sebastian Bach, der zu seiner Zeit so etwas wie der Rock ’n‘ Roller des Barock war?
Von Fischer zu Habeck: Die Grünen und ihr grandioser Rock ’n‘ Roll-Irrtum.
Bei den Grünen muss es immer noch rocken. „Cem Özdemir rockt das oberbayerische Bierzelt“ – so was schreiben sie gern mal über eine Wahlveranstaltung auf Twitter. Als letzten Wahlslogan nahmen sie die Variation eines Nena-Textes („Liebe/Zukunft wird aus Mut gemacht.“). Gern werden auch Bezüge zum langjährigen Bundesaußenminister Joschka Fischer hergestellt, der sich bei seinem Abschied in der taz als „letzter Rock’n’Roller der Grünen“ bezeichnet hatte. Naja, eigentlich hatte Fischer gesagt, er sei „einer der letzten Live Rock ’n‘ Roller“, aber die bescheidene Differenzierung ging umgehend verloren. Der jüngste Spitzenkandidat Özdemir wollte sogar einmal Unions-Politiker („Bitte lasst den Rock ’n’ Roll in Ruhe“) von Rockmusik fernhalten, um die Einheit von Grünen und Rock zu schützen.
Jüngst kam auch noch der neue grüne Hoffnungsträger Robert Habeck daher und beschwor bei der Bekanntgabe seiner Kandidatur als Parteivorsitzender, den „Blues des Scheiterns von Jamaika“ als Dauergroove. Deshalb, sagte Habeck, „müssen wir den Rock ’n’ Roll des Gelingens spielen.“
In weiten Teilen von Partei und entsprechenden Milieus scheint es eine Übereinkunft zu geben, dass die Grünen Rock‘ n Roll brauchen und möglichst viel davon. Man möchte kraftvoll und jung erscheinen und hofft wohl auch, damit den pietistischen Moralismus zu bannen, den Grüne wie Sven Giegold ausstrahlen. Dennoch ist das grüne Insistieren auf Rock ’n‘ Roll ein grandioser Irrtum.
Neulich sprach ich mit einem Chefredakteur eines Rockmagazins und er sagte mehr so en passant: „Rock ist tot.“ Aber sowas von. Rock ist großartige Musik, großartige klassische Musik. Aber es ist keine Bewegung und kein Lebensstil mehr, der etwas Zeitgemäßes leisten könnte.
Rock ’n‘ Roll (später nur noch Rock) war eine Freiheitsbewegung, genau wie 1968 eine Freiheitsbewegung war, aus der die Grünen entstanden sind. Es ging bei 1968 nicht um das große Ganze, sondern es ging gegen das große Ganze. Es ging um individuelle Freiheitserweiterung in einer verkrusteten, autoritären, patriarchalen, nationalistischen, bigotten und verklemmten Post-Adenauer-Zeit. Klar, ein paar wollten auch die Räterepublik und den weltweiten antiimperialistischen Kampf, aber die meisten Aktivisten wollten ihre emanzipatorischen Minderheitenprojekte voranbringen. Und die ganz große Mehrheit wollte einfach anders leben, als die Alten, die im Wohnzimmer saßen und über Kuhlenkampffs Herrenwitzchen lachten, die aus dem Schwarzweiß-Fernseher in der neuen Schrankwand herausdröhnten.
Der junge Mensch saß in seinem Zimmer und seinem Leben wie in einem Gefängnis. Er wollte raus – und Rock ’n‘ Roll war ein Weg in die Freiheit. Nicht umsonst wurde der Satz legendär: „Mach‘ deine Negermusik leiser“. Das war der böse Vater mit potentiell monströser Nazivergangenheit, der den alten Zeiten der Arier und ihrer Marschmusik nachtrauerte. Genau wusste man es nicht, denn außer autoritären Feldwebelsätzen sprach der Vater nichts.
Rock ’n‘ Roll forderte das Establishment der Elterngeneration heraus. Gegen die Unterdrückung von Gefühlen und realen Regungen setzte Rock ’n‘ Roll die freie Entfaltung des Ich in allen lebbaren Identitäten, Lebenstilen, Liebesbeziehungen oder auch nur Frisuren. Es war der Aufstand des Moments gegen die Kontinuität, der Aufstand des Gefühls gegen die Rationalität, der Aufstand des Singulären gegen das Allgemeine. Die Themen des Rock ’n‘ Roll sind ficken, saufen, tanzen, Drogen, Hotelzimmer zertrümmern. Es geht um Intensität: sich auszudrücken, sich zu spüren, etwas Besonderes zu sein, zu „leben“ im Gegensatz zum nur atmen.
Heute ist Rock ’n‘ Roll das Alte, das Verschnarchte, das schon stark Angeranzte, eine untergehende Kultur und Industrie. Rock ist für meine Kinder, was für mich Schlager war. Sogenannte Musik für Leute, die keine Ahnung von Musik haben und auf dem Sofa vor sich hinschnarchen, während draußen das Leben ist. Wenn die gegen irgendetwas rocken würden, dann gegen Rock.
Das ist das eine. Das andere ist: Die gesellschaftlichen Herausforderer von heute wenden sich gegen die Gesellschaft und ihre Lebensstile, wie sie von Rock ’n‘ Roll-Bewegung hervorgebracht wurden. Es ist eine Gegen-Emanzipationsbewegung. Die autoritären Nationalisten sind im Kern radikale Anti-68er. 50 Jahre nach 1968 sind wir in einem neuen Kulturkampf. Aber unter umgekehrten Vorzeichen: Was AfD-Politiker „linksrotgrünversifft“ nennen, ist nichts anderes als die emanzipierte, liberale, bürgerliche Normalität dieser Gesellschaft. Diese verdankt sich auch der Lebensleistung von früheren Anti-Establishment-Rebellen wie Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer und Winfried Kretschmann.
Wenn der Rock ’n‘ Roll also die Kultur ist, mit der man den Mainstream herausfordert, so müsste er sich jetzt gegen diese bürgerlichen Normen der liberalen Gesellschaft richten. Oder er muss sie verteidigen. Dann ist er aber keine Protestkultur, sondern eine Establishmentkultur.
Nun will ich überhaupt nicht bestreiten, dass Robert Habecks großes Projekt darin besteht, die Übernahme von Verantwortung für das Gemeinsame mit einer zeitgemäßen Ästhetik der Coolness zu versöhnen. Aber gerade deshalb funktionieren die Rock ’n‘ Roll-Analogien eben nicht mehr. Existentialismus-Konsum und das Befriedigen von Ich-Sehnsüchten in allen Ehren, aber das große Ding ist jetzt das verantwortungsvolle Umgehen mit der eigenen Freiheit zum Wohle des Ganzen. Das ist nun mal das Gegenteil von Rock ’n‘ Roll. Und wenn wir mal ausnahmsweise gnadenlos ehrlich mit uns selbst sind, dann müssen wir zugeben: Rock ’n‘ Roll war eigentlich immer auch FDP.
Es ist eine schöne Pointe der Geschichte, dass Emmanuel Macron in diesen Tagen den Rock ’n‘ Roll zu Grabe getragen hat, in der Person von Johnny Hallyday, des größten französischen Rock ’n‘ Rollers. Macron, berichtete die FAZ, verabschiedete mit maximalem Pathos den alten Helden der Fünften Republik – und begrüßte im gleichen Moment die Welt des Neuen. Seine Welt. Einer von Hallydays größten Hits heißt übrigens: Joue pas de Rock ’n‘ Roll pour moi. In Englisch: Don’t play your Rock ’n‘ Roll to me. Das könnten die Grünen echt mal langsam beherzigen.
Peter Unfried ist Chefreporter der taz und Autor.
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