Die USA nach den Midterms: „Ein Signal für den Erhalt der Demokratie“

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Die Wahler­geb­nisse zeigen: Die Ameri­kaner wollen die Werte schützen, die die Nation zusam­men­halten. Und auch Umfra­ge­er­geb­nisse zeichnen kein allzu düsteres Bild vom Zustand der Demokratie. Warum uns das jedoch nur kurzfristig beruhigen kann, analy­siert Mathias Risse.

Vor den Zwischen­wahlen am 8. November war mir sehr mulmig zumute. Demoskopen sprachen von einer roten Welle, auch von einer roten Flut, die Frage war nur, wieviel republi­ka­ni­sches Wasser auf die Biden-Präsi­dent­schaft fallen würde. Es ging nicht nur darum, dass dann mehr Trump-Nachplap­perer wie Lauren Boebert und Marjorie Taylor Greene im Reprä­sen­tan­tenhaus sitzen und dort mit einer republi­ka­ni­schen Mehrheit unter dem prinzi­pi­en­losen Kevin McCarthy als Sprecher die Politik mitbe­stimmen würden. Auch ein Mehrheits­wechsel im Senat hatte eine hohe Wahrschein­lichkeit, der unter anderem den früheren Football Star Herschel Walker als Senator des Staates Georgia ins Parlament hätte bringen können (dessen politi­scher Sachver­stand in einem schlechten Sinne atembe­raubend ist und dessen eigenes Leben all dem wider­spricht, was er unter dem Deckmantel konser­vativ-christ­licher Moral dem Land aufzwingen möchte). Zudem ging es auch um viele Ämter in Bundes­staaten, deren Aufgabe es ist, Wahlen zu überwachen. Vergleiche mit der Weimarer Republik sind in den letzten Jahren oft gemacht worden, auch mit der rasch umgesetzten Gleich­schaltung, mit der die Nazis, als sie einmal an der Macht waren, jedwede Kontroll­me­cha­nismen aushe­belten. Erschre­cken­der­weise waren diese Vergleiche angebracht. Wie so viele andere, so hatte auch ich befürchtet, dass der 8. November der erste große Tag der Gleich­schaltung werden würde. Und dann eben auch einer, an dem eine Welle von Menschen in die zwei Kammern des Parla­mentes gespült würde, deren Kandi­da­turen an einem Nachäffen von Lügen über die Wahl von 2020 hingen – was es nur gewis­sen­losen oder unglaublich naiven Menschen möglich machte, zu diesem Kreis zu gehören.

Inflation als Bidens „problem from hell“

Es gehört zum politi­schen Rhythmus der USA, dass die Partei des Präsi­denten bei Zwischen­wahlen Wähler­stimmen einbüßt. Das passiert nicht jedes Mal, aber seit geraumer Zeit doch meistens. Der Präsident wird für alles Schlimme verant­wortlich gemacht, und so wird dann seine (bisher eben immer seine) Partei zwei Jahre nach Amtsan­tritt abgestraft. In diesem Jahr kam noch hinzu, dass das Politik­ge­schehen von einem veritablem „problem from hell“ getrieben wurde: Inflation. Wer will den Präsi­denten unter­stützen, wenn man sich jeden Monat weniger leisten kann, und die massiven Inter­ven­tionen der Regierung in der Wirtschaft zu den schlimmsten Corona-Zeiten dafür auch glaub­würdig mitver­ant­wortlich gemacht werden können? Zudem waren Bidens Umfra­ge­werte schlecht, obwohl die Regierung einige umfas­sende Geset­zes­pakete durch­ge­bracht hat, die den USA eine Indus­trie­po­litik von ganz neuem Kaliber geben. Es geht um Infra­struktur, erneu­erbare Energie­formen, und dann auch um Micro­chips, allesamt Gesetze, die in vielen Aspekten auf Stärkung allein der ameri­ka­ni­schen Wirtschaft ausge­richtet sind, auch auf Kosten befreun­deter Wirtschaften. Diese Dinge – die eigentlich auch moderate Republi­kaner hätten überzeugen sollen – schienen aber nicht durch­zu­dringen in der dichten Infla­ti­ons­rhe­torik. Auch die Tatsache, dass vor ein paar Monaten der landes­weite Schutz der Möglichkeit von Abtreibung vom Obersten Gerichtshof abgeschafft wurde (woraufhin dann in einigen roten Staaten Abtreibung unmit­telbar illegal wurde), schien nicht mehr wahrge­nommen zu werden. Aus all diesen Gründen eben war mir mulmig.

Die rote Welle blieb aus

Dann kam alles ganz anders. Die rote Welle blieb aus. Von Flut spricht niemand mehr. Die Demokraten haben die Senats­mehrheit gehalten. Georgia geht in eine Stichwahl, und daher ist noch nicht entschieden, was aus Herschel Walker wird. Aber viele der Trump-Speichel­lecker sind nirgendswo hinge­kommen. Kein einziger ist in einem “swing state“ in ein Amt gekommen, von dem aus man Wahlaus­zäh­lungen überwacht. Kein Bock ist Gärtner geworden. Erst eine Woche nach der Wahl stand endgültig fest, dass die Republi­kaner im Reprä­sen­tan­tenhaus die Mehrheit bekommen, und erst am Ende der Stimm­aus­zählung wird feststehen, wie dünn genau die sein wird. Nancy Pelosi ist es als Sprecherin kraft ihrer Persön­lichkeit gelungen, die Fraktionen innerhalb der Demokra­ti­schen Partei zusam­men­zu­halten, wenn es darauf ankam. Es ist offen, ob das Kevin McCarthy bei den weitaus diver­seren Republi­kanern auch gelingen wird. Einige Trump-Anhänger, wie Matt Gaetz, haben schon angekündigt, dass sie noch nicht einmal seine Wahl zum Sprecher unter­stützen werden. Und damit ist es auch noch offen, wie genau sich das Reprä­sen­tan­tenhaus ins Regie­rungs­ge­schehen einbringen wird in den nächsten zwei Jahren.

DeSantis‚ beunru­hi­gender Aufstieg

Ganz klar gewonnen hat am 8. November Ron DeSantis, der Gouverneur von Florida, der nicht nur wieder­ge­wählt wurde, sondern der üblicher­weise demokra­tische Bezirke wie Miami-Dade an sich ziehen konnte. DeSantis ist auf einen Schlag das Gesicht der republi­ka­ni­schen Zukunft geworden: Der 8. November ist der Anfang vom Ende von Donald Trump und der Beginn einer neuen Phase bei den Republi­kanern. Sympto­ma­tisch dafür ist auch, dass Trumps Versuch, nun auch DeSantis mit einem seiner destruk­tiven Spitz­namen zu versehen („Crooked Hilary,“ „Pocahontas“), kläglich gescheitert ist. „DeSanc­ti­mo­nious“ wollte er ihn nennen, aber über ein müdes Lächeln bei dem ein oder anderen gingen die Reaktionen nicht wirklich hinaus. Am 15. November hat Trump zwar seine erneute Kandi­datur angekündigt. Und natürlich bleibt er bei großen Teilen der Basis beliebt und versucht nun den Ameri­ka­ne­rInnen einzu­reden, dass sie noch nicht wirklich verstehen, wie schlecht es ihnen eigentlich geht, und dass sie ohne ihn aus diesem Schla­massel einfach nicht heraus­kommen. Aber er wirkte müde, als er diese Botschaften an den Mann und die Frauen bringen wollte, und die Anzahl der republi­ka­ni­schen Grandes, die sich von ihm distan­zieren, steigt täglich. Aller­dings sollte der rasante Aufstieg des erst vierund­vier­zig­jäh­rigen DeSantis niemanden beruhigen, der sich um die Zukunft der Demokratie schert. DeSantis steht für die Norma­li­sierung autori­tärer Politik, und hat das in Bereichen wie der staat­lichen Kontrolle von Lehrplänen, Wähler­un­ter­drü­ckung, Erschwerung von Demons­tra­tionen und Umgang mit schutz­su­chenden Immigranten unter Beweis gestellt. Er sagt von sich selbst, dass Gott mit ihm einen Kämpfer geschaffen habe, und dieser Kämpfer hat sich in Florida von der Disney Corpo­ration bis hin zu Schul­kindern schon mit fast allen angelegt, die sich nicht mit ihm abfinden wollen. Die Böcke sind am 8. November nicht zu Gärtnern aufge­stiegen, aber das kann uns nur sehr kurzfristig beruhigen.

Ein Signal für die Vertei­digung der Demokratie

Gleich­zeitig ist eine Botschaft der Zwischen­wahlen klar: Die Ameri­kaner wollen die Werte schützen, die die Nation zusam­men­halten können. Die Wähle­rInnen wurden durch Inflation motiviert, waren aber auch entschlossen, die Demokratie zu vertei­digen, indem sie sich gegen dieje­nigen zur Wehr setzten, die die Recht­mä­ßigkeit der letzten Präsi­dent­schaftswahl anzweifeln und Biden als einen illegi­timen Präsi­denten abstempeln. ´Election deniers´ nennen wir sie hier. Selbst die Trumpisten, die an diesem Tag verloren haben, machten bisher kaum Anstalten, die Recht­mä­ßigkeit ihrer Verluste anzuzweifeln, obwohl Trump selbst schon am Wahltag Signale dahin­gehend gesetzt hat. Die USA scheinen dieser Lesart überdrüssig geworden zu sein.

Eigentlich hätte ich schon vor der Wahl besserer Dinge sein sollen, was zumindest den Ausgang dieser Zwischen­wahlen angeht, denn ich bin Mitautor des am Anfang dieses Jahres veröf­fent­lichten Buches Holding Together: The Hijacking of Rights in America and How to Reclaim Them for Everyone. In diesem Buch machen John Shattuck, Sushma Raman und ich Vorschläge dazu, wie eine Mehrheit zusam­men­kommen könnte, um Werte wie gleichen Schutz aller Rechte (und all derer, deren Rechte es sind) und persön­liche Autonomie als Grund­lagen ameri­ka­ni­scher Politik zu vertei­digen. Das Buch bringt eine politische Bestands­auf­nahme in histo­ri­schem Rahmen zusammen mit einer Reihe natio­naler Umfragen, die 2020 und 2021 für das Carr Center for Human Rights Policy an der Harvard Kennedy School von einer führenden überpar­tei­lichen Meinungs­for­schungs­or­ga­ni­sation, dem National Opinion Research Council an der University of Chicago, durch­ge­führt wurde. Unsere Umfra­ge­daten zeigen, dass 80% der Ameri­kaner aus dem gesamten demogra­fi­schen und politi­schen Spektrum glauben, dass „Ameri­kaner mehr gemeinsam haben, als viele denken.“ Neunzig Prozent sagen, dass „einige Politiker unser Land absichtlich spalten.“ Mit überwäl­ti­gender Mehrheit befür­worten sie die Unantast­barkeit des Stimm­rechtes ohne die ständigen Versuche, Menschen das Stimm­recht streitig zu machen (insbe­sondere den vielen, vielen Millionen, die vorbe­straft sind) oder sie vom Wählen abzuhalten, gleichen Schutz aller Rechte, Rassen- und Geschlech­ter­gleichheit, persön­liche Autonomie und andere grund­le­gende demokra­tische Rechte.

Forderung an die Politik: Unantastbare Grund­rechte und Förderung der Chancengleichheit

Diese grund­le­genden Tendenzen waren dann eben doch wichtiger also sogar die Inflation. Die Zwischen­wahlen bringen zwei Forde­rungen an das politische System zum Ausdruck. Die erste besteht darin, gut etablierte Aspekte der Grund­rechte nicht rückgängig zu machen, auch wenn sich die Menschen über Details mögli­cher­weise nicht einig sind. Zweiund­siebzig Prozent stimmen zu, dass das Recht der Frau, zu entscheiden, ob sie ein Kind gebären möchte, geschützt werden sollte. Ausgangs­um­fragen bei umkämpften Rennen in Pennsyl­vania, Michigan, Virginia, New Mexico und Minnesota zeigen, dass Abtreibung ein wichtiges Thema für die Wähle­rInnen war. Abtrei­bungs­rechte wurden im Übrigen dieses Jahr schon durch Abstim­mungen in zwei roten Bundes­staaten (Kansas und Kentucky), zwei blauen (Vermont und Kalifornien) und einem umkämpften Bundes­staat (Michigan) gesichert. Zudem sind große Mehrheiten entschlossen, andere Aspekte der Gleich­be­rech­tigung zu schützen, die bei den Zwischen­wahlen berück­sichtigt wurden – Rassen­gleichheit (80%), Geschlech­ter­gleich­stellung (75%) und LGBTQ-Gleich­stellung (70%).

Eine zweite Forderung ist, dass die Regierung mehr tut, um Chancen­gleichheit zu fördern, die hart von der wachsenden wirtschaft­lichen Ungleichheit getroffen wird, die ameri­ka­nische Mittel­klasse unter­gräbt und jedwede Chance auf den sogenannten ameri­ka­ni­schen Traum zerstört. Zwar bezeichnen sich nur 27% als „liberal“ (was vielleicht überra­schen mag, wenn man in Massa­chu­setts lebt), aber 62% wollen die Steuern für Millionäre erhöhen, und 70–80% wollen einen breiteren Zugang zur Gesund­heits­ver­sorgung, mehr Unter­stützung für Kinder­be­treuung (Elternzeit gibt es in den USA nur für die, die gutwillige Arbeit­geber haben) und öffent­liche Bildung, Mindestlohn und Unter­stützung für bezahl­baren Wohnraum. Die Wahler­geb­nisse in “swing states” wie Pennsyl­vania, Michigan, Minnesota und Wisconsin zeigen, dass Forde­rungen nach Chancen­gleichheit Menschen über allen Barrieren hinweg zusam­men­bringen, mit der patrio­ti­schen Botschaft, dass „das Land uns allen gehört, nicht nur den Leuten an der Spitze.“

Dies könnten die Bausteine ​​einer breiten Mehrheit sein, um ameri­ka­nische Grund­werte zu vertei­digen. Unsere Umfragen zeigen auch, dass die Mehrheit der Ameri­kaner ihre Werte diffe­ren­ziert sieht und Rechte mit Pflichten verbindet, die soziale Solida­rität in einer Demokratie von enormer Größe und Vielfalt schaffen können. Beispiels­weise glauben 78%, dass die Polizei die Öffent­lichkeit vor Verbrechen schützen und gleich­zeitig für Verlet­zungen der Bürger­rechte zur Rechen­schaft gezogen werden kann. Und 69 % glauben, dass das Recht, Waffen zu tragen, die Regulierung von Waffen zum Schutz der öffent­lichen Sicherheit nicht verhindern sollte. System­erhalt vor Parti­ku­lar­in­ter­essen Der Anfang vom Ende von Demokratien ist, wenn breite Gruppen der Bevöl­kerung denken, dass der Sieg ihrer Sache wichtiger ist als der Erhalt des Systems. Die Geschichte des alten Griechen­landes ist übersät mit demokra­ti­schen Fehlschlägen dieser Art, und die römische Republik ist ein paar Hundert Jahre alt geworden, weil es die Römer über diesen Zeitraum geschafft haben, den System­erhalt über Parti­ku­lar­in­ter­essen zu stellen. Den USA ist das auch schon fast 250 Jahre lang gelungen – im Großen und Ganzen. Die Zwischen­wahlen offen­baren Zeichen der Hoffnung, dass sich eine vernünftige Mehrheit heraus­bilden könnte, die Rechte und Pflichten ausba­lan­ciert, sich von politi­scher Polari­sierung entfernt und Grund­werte unter­stützt, die das Land zusam­men­halten können. Und nachdem mir vor dem 8. November ob der Situation in den USA ungemein mulmig zumute war, so bin ich nun erst einmal enorm erleichtert, dass unsere Analyse in Holding Together tatsächlich zutref­fender war als alle Unkenrufe. Aber – aber: Dann ist da eben auch noch DeSantis. Es ist jetzt wahrscheinlich, dass sich die USA von dem Gedröhne Donald Trumps befreien kann, der Politik als Teil des Unter­hal­tungs­sektors versteht und wohl wirklich haupt­sächlich angetreten ist, um seine Familie reicher zu machen (und der jetzt wieder antritt, um weiterhin große Auftritte haben zu können und seine vielen recht­lichen Probleme, straft­recht­liche und zivil­recht­liche, noch etwas auf Abstand halten zu können). Das ständige Geplärre, dass es einfach nicht mit rechten Dingen zugehen kann, wenn er nicht bei allem gewinnt, scheint den Ameri­ka­ne­rInnen nun doch irgendwann zu reichen. Aber viele der Geister, die Trump rief, sind eben doch weiterhin da. Also, nein, die Böcke sind am 8. November nicht zu Gärtner geworden. Aber autoritäre Politik bleibt ein riesiges Problem und wird wohl nun in eine neue Phase treten – wir müssen hoffen, dass die ameri­ka­ni­schen Grund­werte sich auch gegen DeSantis vertei­digen lassen.  Was aus Herschel Walker wird, werden wir Anfang Dezember wissen. Zum Glück ist es jetzt etwas weniger wichtig, als es schien. Aber allemal möchte ich nun mit einem anderen Senats­kan­di­daten schließen, der es geschafft hat:  John Fetterman, der Pennsyl­vania ins Lager der Demokra­ti­schen Partei gebracht hat; durch einen unortho­doxen Wahlkampf, mit dem er auch klarge­macht hat, wie seine Partei die so oft eben von dieser Partei im Stich gelassene, ameri­ka­nische Arbei­ter­schaft erreichen kann. Von diesem Typ Politi­kerIn brauchen wir mehr. Viel mehr. Und allemal haben wir die begründete Hoffnung, dass in einem Land, das von den von uns aufge­zeigten Werten geleitet wird, diese in der Tat auch vermehrt zu finden sein werden.

Textende

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