Debatte: Corona für die Neujustierung von Wirtschaft und Gesellschaft nutzen!
Die Corona-Pandemie habe deutlich gemacht, was viele Bürger in den letzten Jahren nicht mehr für möglich gehalten hätten, meint die Wirtschaftswissenschaftlerin Uta Meier-Gräwe. Politik habe sich als handlungsfähig erwiesen und im Interesse des Gemeinwohls entschlossen und schnell agiert. Wie könnten die Erfahrungen mit der Pandemie das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft in Zukunft verändern? Zurück zum Primat der Politik?
Über Jahre als alternativlos ausgegebene Grundsätze, wie die schwarze Null oder die Schuldenbremse, wurden über Bord geworfen. Verwundert reiben wir uns die Augen: Binnen kürzester Zeit werden 1,5 Milliarden Euro locker gemacht, um ein gerade auf 80% aufgestocktes Kurzarbeitergeld zu zahlen und drohende Insolvenzen abzuwenden. Schon ist die Rede von der „Corona-Solidargemeinschaft“. Der bayerische Ministerpräsident entpuppt sich als besonders zupackender Krisenmanager. Schulen in Bayern bleiben länger geschlossen als anderswo und das legendäre Oktoberfest wurde für 2020 gerade abgesagt. Aber war es nicht eben dieser Markus Söder, der die Grünen noch vor ein paar Monaten bei jeder sich bietenden Gelegenheit als „Verbotspartei“ attackiert hat? Vergessen und vorbei.
Führende Politiker/innen bieten plötzlich im Interesse der Gesundheit der Bevölkerung einflussreichen Unternehmen und ihren Verbänden Paroli, die bereits wieder eine schnellere Rückkehr zur „Normalität“ fordern.
Schwere Schnitzer, wie ihn Gesundheitsminister Jens Spahn – trotz Abstandsgebot – im völlig überfüllten Aufzug des Gießener Universitätsklinikums geliefert hat, treten gegenüber der Anerkennung für parteiübergreifendes Handeln im Interesse der Gesundheit und insbesondere des Schutzes von Risikogruppen wie alte Menschen und solche mit Vorerkrankungen in den Hintergrund. So haben sich viele eigentlich einen fürsorglichen Sozialstaat vorgestellt. Gleichzeitig betonen Regierungsvertreter/innen von Bund und Ländern immer wieder, dass die bürgerlichen Freiheitsrechte vollumfänglich wiederhergestellt werden sollen, sobald es die Lage erlaubt. Die Kanzlerin nennt die Pandemie eine „demokratische Zumutung“ – in der Tat. Die Zustimmungswerte für entschlossenes Regierungshandeln schnellen derzeit in die Höhe. Auch wenn das schnell wieder kippen kann: Sollte die Coronavirus-Pandemie wirklich eine Chance zur grundsätzlichen Neujustierung von Wirtschaft und Gesellschaft eröffnen? Es könnte so sein.
Sehnsucht nach den alten Verhältnissen?
Ein Zurück zur früheren Normalität, wie wir sie bis zum Februar 2020 gelebt haben, wird es jedenfalls nicht geben. Die rückwärtsgewandte Romantisierung des Status Quote ante, die sich hier und dort beobachten lässt, je länger der Lockdown andauert, wäre in jedem Fall fatal. Erinnern wir uns: Die Blütezeit der neoliberalen Ideologie einer unbegrenzten Globalisierung, die mit dem notorischen Ruf nach einer Verschlankung des Staates und mehr Eigenverantwortung für alles und jedes einher ging, war schon lange vor der Corona-Krise vorüber. Sie hat zu erheblichen sozialen Verwerfungen weltweit und zu einem Vertrauensverlust in die Institutionen des Rechtsstaates beigetragen. Auch das Erstarken der Rechtspopulisten ist in diesem Kontext zu sehen. Vielen von uns war im Grunde klar, dass das Paradigma des Neoliberalismus, das davon ausging, dass eine globalisierte Wirtschaft gleichsam naturwüchsig gesellschaftlichen Wohlstand für alle generieren würde, seine Heilsversprechen nicht eingelöst hat. Stichworte wie die Finanzkrise von 2008 oder die ungelöste Flüchtlingskrise mögen an dieser Stelle genügen. Die hemmungslose Verwertungslogik von natürlichen und sozialen Ressourcen unseres Planeten über Jahrzehnte hinweg hat eine schwere Klimakrise und eine wachsende soziale Polarisierung weltweit verursacht. Gleichwohl hat die Globalisierung und die damit verbundene Industrialisierung der vormaligen „Dritten Welt“ zu einem nie gekannten sozialen Aufstieg von Milliarden Menschen geführt. Für viele vormals benachteiligte soziale und kulturelle Gruppen wie Schwule und Lesben oder religiöse Minderheiten hat sie auch neue Freiheiten hervorgebracht.
Wachsende Ungleichheiten und fragwürdige Freiheiten – Zwei Seiten einer Medaille
Der Soziologe Ulrich Beck prägte bereits Ende der 1980er Jahre die These von der fortschreitenden Individualisierung. Menschen lösen sich zunehmend aus den Zwängen von tradierten Familien- und Verwandtschaftszusammenhängen heraus, um zu Autor/innen ihrer Biographie und zu selbstbestimmten Kapitänen ihrer Lebensläufe jenseits von Stand und Klasse zu werden. Dass hat zwar so nie für alle Menschen gestimmt, aber die Suchbewegungen nach mehr Selbstverwirklichung und Authentizität in einer ausdifferenzierten Konsumgesellschaft, die immer neue Bedürfnisse weckt und sie als Events der Erlebnisgesellschaft verkauft, nahmen damals ihren Anfang. Inzwischen treiben sie allerdings höchst seltsame Blüten. Ist es tatsächlich ein Fortschritt an Freiheit, dass sich betuchte Rentnerehepaare auf überdimensionierten Kreuzfahrschiffen einquartieren und sich von einer neuen „Service class“ über und unter Deck monatelang bedienen und „just for fun“ über die Weltmeere schippern lassen? Oder dass Freundinnen für 22,90 Euro pro Flug nach London übers Wochenende zum Shoppen fliegen und das mehrmals im Jahr? Geiz ist geil. Wirklich? Unwillkürlich kommt einem das Wort „dekadent“ in den Sinn.
Auf der anderen Seite: Der massive Ausschluss von Menschen vom gesellschaftlichen Wohlstand, insbesondere der neuen Dienerklasse, deren Lebenswirklichkeit Christoph Baumann in seinem Buch „Die Rückkehr der Diener. Das neue Bürgertum und sein Personal“ (2016) in einer Art von eingeschlossener Beobachtung für New York eindrücklich beschrieben hat. Und das ist ja keineswegs nur in den USA der Fall. Wie kommen wir eigentlich dazu, unsere Carekrise in kolonialistischer Manier unter Rückgriff auf unterbezahlte transnationale Hausangestellte nach dem Geschäftsmodell der 24-Stunden-Indoor-Pflege „lösen“ zu wollen und ihnen kein Recht auf einen 8‑Stunden-Tag zu gewährleisten, unterlegt mit dem lapidaren Hinweis, dieses ließe sich im privaten Umfeld ohnehin nicht kontrollieren? Hier verbreitet sich gerade in deutschen Privathaushalten ein Beschäftigungsverhältnis, dass weit unter den Standards des deutschen Arbeitsrechts liegt. Auch das kann so nicht bleiben. Ganz abgesehen von den Versorgungslücken, die auf diese Weise in den Herkunftsländern dieser Frauen entstehen. Auch sie haben Kinder und betreuungsbedürftige Familienangehörige.
Wer sind die Leistungsträger unserer Wirtschaft?
Corona hat jedenfalls endlich auch für die breite Öffentlichkeit deutlich gemacht hat, was in Fachkreisen schon seit Jahren betont wird: Das Funktionieren einer Gesellschaft wird nicht nur durch Hochqualifizierte gesichert, die sich gern als die eigentlichen „Leistungsträger“ sehen, sondern eben auch durch Reinigungskräfte, Kassiererinnen, Erzieherinnen, Sozialarbeiter, Müllwerker und Pflegekräfte, oft mit migrantischem Hintergrund. Dieser Tatbestand darf sich aber eben nicht nur in einer verbalen und symbolischen Anerkennung äußern. Vielmehr muss sich die Systemrelevanz dieser Berufe in einer entsprechenden Bezahlung und in der selbstverständlichen Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand niederschlagen. Wirtschaft ist Care, so hat es die Schweizer Theologin Ina Prätorius auf den Punkt gebracht. Überlassen wir also keinesfalls denen die Definitionsmacht für die Zeit nach Corona, die schon wieder dabei sind, die Grundrente oder die geplante Einmalzahlung für Pflegekräfte in Frage zu stellen.
Was kommt nach dem neoliberalen Paradigma?
Wenn das neoliberale Paradigma der Privatisierung und des weitgehenden Rückzugs des Sozialstaates angesichts dieser Analyse ausgedient hat, was kann an seine Stelle treten? Der Soziologe Andreas Reckwitz schlägt angesichts der weitgehenden Komplexität und Eigendynamik der Gesellschaft einen „einbettenden, regulierenden“ Liberalismus (Das Ende der Illusionen 2019) vor. Es gelte zum Beispiel die materielle und soziale Infrastruktur – also Verkehr, Gesundheit, Energie, sozialen Wohnungsbau, Bildung und öffentliche Sicherheit, die in den zurückliegenden Jahren partiell privatisiert wurden, wieder verstärkt in staatliche Hand zu nehmen: Es handle sich hierbei um eine Grundlagenökonomie, deren Funktionsfähigkeit die Basis der Lebensqualität für alle darstellt (S. 297). Ganz in diesem Sinne argumentiert auch der Bundesärztekammerpräsident Klaus Reinhardt. Er fordert für die Zeit nach der Krise ein neues Finanzierungsmodell für Krankenhäuser in Deutschland. „Kliniken sind Einrichtungen der Daseinsfürsorge und keine Industriebetriebe. Krankenhäuser müssen dem Patienten dienen, nicht dem Profit.“ Das müsse sich ins kollektive Gedächtnis einbrennen, forderte Reinhardt. Genau.
Carearbeit ist das Fundament von Wirtschaft
Das gilt allerdings ebenso für den sozialen Wohnungsbau, für Bildungseinrichtungen, Frauenhäuser und Altenpflegeeinrichtungen. Zurecht betont die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Hauswirtschaft, Professorin Dr. Angelika Sennlaub, dass es um eine höhere Wertschätzung von Berufen der Sozialen Arbeit, der Hauswirtschaft und haushaltsnaher Dienstleistungen, Gesundheit, Pflege und Erziehung (SAHGE-Berufe) gehe und diese in ihrer Gesamtleistung zu betrachten sind. Es darf nicht zugelassen werden, dass die Leistung einzelner Berufsgruppen herausgelöst werden, weil das wiederum zu ganz und gar unangebrachten berufsständischen Abgrenzungen und Hierarchisierungen führen würde. Gut geschulte Reinigungskräfte in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Schulen sichern eine essentielle Grundversorgung, auf der alles andere aufbaut. Es mutet schon einigermaßen grotesk an, dass sich die derzeit so gefragten Mitglieder von Bildungs- und Expertenkommissionen, die ihre eigenen Kinder auf privilegierten Privatschulen und Gymnasien gut versorgt wissen, im Angesicht der Corona-Pandemie offensichtlich erstmals mit den teils katastrophalen hygienischen Bedingungen an öffentlichen Schulen befasst haben. Ein weiteres Beispiel für pathologisches Lernen. Und auch so manches Regierungsmitglied wäre gut beraten, sich diesbezüglich etwa an den längst vorliegenden Handlungsempfehlungen des Zweiten Gleichstellungsberichts zu orientieren. Bereits im Januar 2017 wurde die Entwicklung einer zusammenhängenden Strategie zur Aufwertung und Neubewertung der SAHGE-Berufe nachdrücklich gefordert. Das ist über drei Jahre her.
Und es geht auch nicht an, dass Mütter nun über Monate Kinderbetreuung, Homeschooling, Haushalt und Homeoffice irgendwie privat organisieren. Auch in diesem Handlungsfeld ist kreatives und schnelles politisches Handeln gefragt. Demgegenüber ist ein Rückfall in tradierte Muster der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung das Letzte, was wir jetzt brauchen können.
Neujustierung von nachhaltigem Wirtschaften und persönlichen Freiheiten
Nach Corona werden neue Spielregeln für die Wirtschaft gelten müssen: Das Primat der Politik könnte sich etwa darin manifestieren, dass Konjunkturprogramme für die Automobilindustrie ausschließlich Anreize für alternative Antriebstechnologien setzen oder die Einführung eines Gutscheinmodells für haushaltsnahe Dienstleistungen realisiert wird – ein Vorhaben, das im aktuellen Koalitionsvertrag zwar formuliert, aber immer noch nicht in Angriff genommen wurde. Auch grenzenlos globalisierte Versorgungsketten sind zu hinterfragen. Angesichts der Knappheit von bestimmten Medikamenten und Schutzkleidung wird zurecht überlegt, bestimmte Produktionslinien zumindest teilweise (wieder) im eigenen Land bzw. in Europa zu implementieren.
Ein vorsorgender Staat, der dem Paradigma eines „einbettenden Liberalismus“ folgt, muss zugleich auch die Klimakrise entschieden angehen. Es wird den Aktivistinnen der „Fridays for Future – Bewegung“ in Zukunft nicht zu vermitteln sein, warum die während der Corona-Pandemie entschlossen agierenden politischen Entscheidungsträger nicht auch entschiedener den Ausstieg aus fossilen Energieträgern und die ökologische Transformation der Industriegesellschaft vorantreiben können.
Auch unsere persönlichen Freiheiten werden in bestimmtem Umfang eingehegt, d.h. begrenzt werden müssen. Nein, die Corona-Pandemie ist keine Strafe Gottes für menschliche Verfehlungen. Sie ist vielmehr ein systemisches Phänomen. Es spricht jedenfalls einiges dafür, dass die Anfälligkeit für mikrobische Infektionen mit der fortschreitenden Landnahme und zurückgedrängten Habitaten für wildlebende Tierarten steigt. Und eh wir auf China zeigen: Deutschland gehört inzwischen zu einem der Hauptimportländer von exotischen Tierarten. Reptilien und Amphibien gelten hier zu Lande inzwischen als beliebte Haustiere. Nicht nur Tierschützer treibt das um. Jetzt erlangt das Ganze plötzlich auch gesundheitspolitische Relevanz. Ein vorsorgender Sozialstaat müsste die Importe von Wildfängen in die EU entschieden einschränken, um in Zukunft das Risiko für Pandemien zu senken. Und ja, wir werden auch ganz grundsätzlich über unser Verhältnis zur Natur nachdenken müssen: Andreas Reckwitz ist vollkommen zuzustimmen: Die Eigendynamik der Gesellschaft bedarf bestimmter Rahmungen, und die individuelle Freiheit „kann nicht grenzenlos gelten“ (S.292). Auch das ist freilich keine neue Erkenntnis. Sie liegt dem Recht als kollektiver Ordnung der Freiheit zugrunde. Woran es mangelt, ist seine Umsetzung.
BürgerInnenräte und Zukunftsbündnisse als neue demokratische Beteiligungsformen
Last but not least wird es bei einer Neujustierung von Wirtschaft und Gesellschaft nach Corona auch darum gehen, die politischen Teilhabechancen der Bürgerinnen und Bürger über ihr Wahlrecht und die Reaktivierung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts hinaus merklich zu erweitern. Christian Felber, Protagonist der Gemeinwohlökonomie, plädiert für innovative Verfahren, die eine erweiterte Partizipation ermöglichen: In Konventen, die sich aus Bürger/innen unterschiedlicher Altersgruppen, sozialer und kultureller Milieus und Berufe zusammensetzen, könnte über gesellschaftsrelevante Themen diskutiert und politische Empfehlungen beschlossen werden. Ein guter Anfang wäre, dem Vorschlag von Robert Habeck, einem der Bundesvorsitzenden der Grünen, zu folgen und Bürgeinnenräte bzw. Zukunftsbündnisse zu gründen. Diese sollten sich aus zufällig gelosten Bürgerinnen und Bürgern zusammensetzen, die über Konsequenzen aus der Pandemie beraten und gesellschaftliche Schlüsse daraus ziehen. „Holt das Wissen, die Erfahrung, die Ideen der Leute ab!“, schreibt er auf seiner Internetseite.
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