Ungarn: Wie denkt die Jugend unter Orban?

Quelle: Flickr/​habeebee

Mit Kampagnen gegen die Euro­päi­sche Union, Migranten und den Libe­ra­lismus versucht die Regierung von Ungarn die öffent­liche Meinung zu beein­flussen. Hat Sie damit Erfolg? Veszna Wessen­auer vom Thinktank Political Capital unter­sucht die Einstel­lungen von jungen Menschen zu Europa, Russland und Demokratie.

Laut Ralf Dahren­dorf dauert es sechs Monate, um ein poli­ti­sches System zu ersetzen, sechs Jahre, um ein Wirt­schafts­system umzu­wan­deln und 60 Jahre, um eine Gesell­schaft zu ändern. Die unga­ri­sche Gesell­schaft durch­läuft schon seit mehr als 28 Jahren einen Demo­kra­ti­sie­rungs­pro­zess, und inzwi­schen gibt es deutliche Anzeichen für einen Wandel der jüngeren Gene­ra­tionen in Ungarn. Die Anzeichen sind ambi­va­lent, da die Jugend hinsicht­lich ihres Bekennt­nisses zu demo­kra­ti­schen Werten und poli­ti­scher Parti­zi­pa­tion ein sehr unter­schied­li­ches und komplexes Bild abgibt. In den folgenden vier Punkten werde ich die wesent­li­chen Tendenzen bei der unga­ri­schen Jugend darlegen, die sich aus den neuesten Meinungs­um­fragen ergeben.

Weit­ver­brei­tete Unzu­frie­den­heit mit und geringem Interesse an der Politik und dem öffent­li­chen Leben

Laut einer neueren Studie über die Jugend in den V4-Ländern, die vom National Demo­cratic Institute (NDI – Natio­nales Demo­kra­ti­sches Institut) in Zusam­men­ar­beit mit Political Capital (PC) in Auftrag gegeben wurde, ist die Jugend in Ungarn mehr­heit­lich mit der gegen­wär­tigen poli­ti­schen Lage und mit der unga­ri­schen Regierung unzufrieden.


Bist du persön­lich mit der gegen­wär­tigen poli­ti­schen Lage in Ungarn zufrieden? Rechts: Und in welchem Maße bist du mit der unga­ri­schen Regierung zufrieden? (NDI-PC, 2018)

In einem ähnlichen Bericht über die Haltung der unga­ri­schen Jugend gegenüber der EU wurde fest­ge­stellt, dass bei den unga­ri­schen Jugend­li­chen ein geringes Maß an poli­ti­schem Interesse weit verbreitet ist. Nur 22% von ihnen sprechen regel­mäßig mit ihren Verwandten oder Freunden über Politik, und 25% disku­tieren nie oder fast nie über poli­ti­sche Themen. Wenn sie sich selbst im poli­ti­schen Spektrum einordnen sollen, sieht sich die Mehrheit gewöhn­lich in der Mitte. Dies zeigt und bestätigt eine alte Tendenz in der unga­ri­schen Gesell­schaft und denen in Zentral- und Osteuropa im Allge­meinen, nämlich ihr geringes Interesse an der Politik und dem öffent­li­chen Leben und ihre Politikverdrossenheit.


Wenn am nächsten Wochen­ende in Ungarn Parla­ments­wahlen statt­finden würden, für welche der aufge­lis­teten Parteien würdest du vermut­lich stimmen? (NDI-PC, 2018)

Obwohl die unga­ri­schen Jugend­li­chen mit der Politik ihres Landes und ihrer Regierung über­wie­gend unzu­frieden sind, ist ihre Bereit­schaft, in Aktion zu treten, über­wie­gend und tradi­tio­nell sehr gering. Eine Wahl­um­frage ist die gängigste Methode, um die poli­ti­sche Parti­zi­pa­tion der Jugend­li­chen fest­zu­stellen: Laut NDI-PC-Studie hatten 83% der Jugend­li­chen gewählt oder hatten es vor.  Gleich­zeitig sagten nur 19%, dass sie schon mal eine Petition unter­schrieben hätten und weitere 16% hätten vor, sich zu enga­gieren. In Bezug auf alle anderen Formen von Betei­li­gung der Bürger ist der Grad an Enga­ge­ment sehr gering.

Unga­ri­sche Jugend­liche sind pro-westlich, bekennen sich zur EU-Mitglied­schaft und zur Demokratie

Die kürzlich durch­ge­führte Studie von Globsec zur Jugend in Zentral- und Osteuropa  zeigt, dass die Mehrheit der unga­ri­schen Jugend­li­chen ihr Land als Teil des Westens betrachtet, weshalb sie unter den V4-Ländern am meisten westlich orien­tiert sind.  Gleiches gilt hinsicht­lich ihrer Einstel­lung zur EU-Mitglied­schaft und hinsicht­lich ihres Willens, in der EU zu bleiben: 60% der Befragten haben eine positive Wahr­neh­mung der Euro­päi­schen Union und 83% der unga­ri­schen Jugend­li­chen würde für ein Verbleiben in der EU stimmen.

Der Bericht der Bertels­mann-Stiftung zum Euro­skep­ti­zismus unter Jugend­li­chen kam zu einer ähnlichen Schluss­fol­ge­rung: die jungen Menschen von Berlin bis Budapest und von Warschau bis Wien haben eine positive Meinung von der EU. Mehr als zwei Drittel (77%) der Befragten aus den unter­suchten sechs Ländern sehen die Mitglied­schaft ihres Landes in der EU positiv. Die jungen Menschen in diesen sechs Ländern wollen nicht nur in der EU bleiben, sondern sie auch refor­mieren (67%).

Terro­rismus und Migration erzeugen die größten Befürch­tungen der unga­ri­schen Jugendlichen

Immi­gra­tion und Terro­rismus sind die Probleme, die die unga­ri­schen Jugend­li­chen am aller­meisten beun­ru­higen. Laut Bertels­mann-Bericht lehnt es eine Mehrheit der Befragten (72%) ab, dass Ungarn Flücht­linge aufnehmen soll, die aus mili­tä­ri­schen Konflikt­zonen fliehen. Außerdem wurde in der NDI-PC-Studie ermittelt, dass 84% der unga­ri­schen Jugend­li­chen denken, dass Immi­granten keinen positiven Beitrag für unsere Gesell­schaft leisten. Junge Menschen in Ungarn haben keine direkte Erfahrung mit Migranten oder Flücht­lingen, so wie der Rest der Gesell­schaft. Ihre negative Haltung gegenüber Migranten kann mit der Angst schü­renden Kampagne der Regierung, die jetzt schon seit drei Jahren anhält, erklärt werden.

Die NDI-PC-Studie zur Jugend in den V4-Ländern ergab, dass die Demo­kratie von 69% der befragten Ungaren als das best­mög­liche poli­ti­sche System betrachtet wird. Jedoch sind die Antworten zu Aussagen hinsicht­lich der Einschrän­kung von Menschen­rechten zum Schutz der Nation und des Dilemmas zwischen demo­kra­ti­schen Prin­zi­pien und höheren Lebens­stan­dards weniger ermu­ti­gend – die Ergeb­nisse zeigen, dass unter bestimmten Umständen ca. 60% der Befragten Einschrän­kungen von Menschen­rechten oder demo­kra­ti­schen Prin­zi­pien hinnehmen würden. Diese Aussage wurde durch den Bertels­mann-Bericht bestätigt, in dem fest­ge­stellt wurde, dass das Bekenntnis der unga­ri­schen Jugend­li­chen zur Demo­kratie nicht eindeutig ist.  Eine Mehrheit der Befragten (51%) glaubt, dass in gewissen Fällen die Einschrän­kung von funda­men­talen Frei­heiten akzep­tabel ist. Außerdem denken nur 48%, dass die Demo­kratie das beste poli­ti­sche System ist.


Stimmst du den folgenden Aussagen eher zu oder stimmst du ihnen eher nicht zu? (NDI-PC, 2018)

Starkes Bekenntnis zur NATO, aber kaum Interesse an Russland-Politik

Laut Globsec-Bericht nehmen ungefähr 60% der unga­ri­schen Jugend­li­chen die NATO als etwas Gutes wahr, und 73–77% der unga­ri­schen Jugend­li­chen würde dafür stimmen, in der NATO zu bleiben, wenn an diesem Sonntag ein Refe­rendum zur NATO-Mitglied­schaft statt­finden würde.

Hinsicht­lich der Wahr­neh­mung von Russland kamen sowohl der NDI-PC-Bericht als auch der Bericht der Bertels­mann­stif­tung zu derselben Schluss­fol­ge­rung: ein großer Teil der unga­ri­schen Jugend­li­chen hat keine Meinung zu Themen, die Russland betreffen. Laut NDI-PC-Studie denken 48% der Befragten, dass Russland keine Fehl­in­for­ma­tionen verbreitet, um den Glauben der Öffent­lich­keit an die Demo­kratie und westliche Insti­tu­tionen zu schwächen. Glei­cher­maßen wurde im Bericht der Bertels­mann­stif­tung fest­ge­stellt, dass die unga­ri­schen Jugend­li­chen die russische Außen­po­litik nicht besonders besorg­nis­er­re­gend zu finden scheinen. Da es nur 29% als Problem betrach­teten, stellte es sich als das Thema aus der Liste heraus, welches die Menschen am wenigsten beunruhigte.


Stimmst du den folgenden Aussagen zu oder stimmst du ihnen nicht zu?
(NDI-PC, 2018)

Chan­ge­maker oder passive Unter­stützer des Status quo?

Bislang haben die Gesell­schaften in Zentral- und Osteuropa einen eher holprigen Weg der Demo­kra­ti­sie­rung beschritten. Die Kultur der Parti­zi­pa­tion der Bürger an gesell­schaft­li­chen Ange­le­gen­heiten ist noch nicht erfolg­reich etabliert, was haupt­säch­lich auf fehlende Visionen und die mangelnde Bereit­schaft der poli­ti­schen Führung zurück­zu­führen ist. Die oben beschrie­benen Ergeb­nisse zeigen, dass der neuen Gene­ra­tion des post-kommu­nis­ti­schen Ungarns diese Visionen ebenso fehlen.

Das unga­ri­sche Bildungs­system ist veraltet und stellt sich nicht den neuen Heraus­for­de­rungen an die euro­päi­sche Gesell­schaft. Die Lehrer folgen dem Prinzip, das nach dem Regime­wechsel in Ungarn etabliert wurde – nämlich dem, dass Politik in der Schule und bei Diskus­sionen im Klas­sen­raum absolut nichts zu suchen hat. Die meisten Lehrer sind nicht darauf vorbe­reitet, rassis­ti­schen Äuße­rungen zu begegnen und wissen nicht, wie sie mit Vorur­teilen und Stereo­typen umgehen sollen. So ist es nicht über­ra­schend, dass unter den unga­ri­schen Jugend­li­chen frem­den­feind­liche Gefühle vorherr­schen, weil den Schülern nicht beigebracht wird, Gene­ra­li­sie­rungen zu hinter­fragen und komplexe gesell­schaft­liche und geopo­li­ti­sche Themen zu untersuchen.

Unter Berück­sich­ti­gung all dessen scheint es so, als würde die unga­ri­sche Jugend in einem Paradoxon leben, welches sich aus dem histo­ri­schen Hinter­grund des Landes, der poli­ti­schen Führung und struk­tu­rellen Defiziten ableitet. Trotz der Tatsache, dass die Jugend­li­chen über­wie­gend desil­lu­sio­niert und mit dem poli­ti­schen System und der Führung unzu­frieden sind, ist ihr Wille, am öffent­li­chen Leben teil­zu­haben und den Staus quo zu ändern, so gut wie nicht vorhanden. Bei der gegen­wär­tigen sozialen und poli­ti­schen Situation besteht der dringende Bedarf, diese Massen zu mobi­li­sieren und sie zu befähigen, ihre Unzu­frie­den­heit im Sinne von demo­kra­ti­schen Werte­vor­stel­lungen auszudrücken.

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