Gespräch mit Ivan Krastev: Die EU wird durch die Krisen politischer werden
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Mehr InformationenDie EU, wie wir sie kannten, existiert nicht mehr, so Ivan Krastevs Ausgangsthese. Der Zukunftsoptimismus nach dem Ende des Kalten Kriegs ist geschwunden, die lange Linie der Liberalisierung durch eine antiliberale Gegenbewegung gebrochen. Überwunden geglaubte Konzepte von Machtpolitik und Souveränität sind zurück auf der Tagesordnung. Aber nach Europa kommt Europa. Die EU wird politischer. Die historischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede fallen stärker ins Gewicht. Darauf müssen flexible Antworten gefunden werden. – Ivan Krastevs Stimme hat Gewicht. Er ist Präsident des Centre for Liberal Strategies in Sofia, arbeitet mit zahlreichen internationalen Institutionen und zählt zu den bekanntesten europäischen Intellektuellen.
Ralf Fücks: Ivan, herzlich willkommen.
Ivan Krastev: Das Vergnügen ist ganz meinerseits.
Ralf Fücks: Dein letztes Buch „Europadämmerung“ (engl.: After Europe) hat hohe Wellen geschlagen. Warum „Europadämmerung“? Das klingt sehr pessimistisch. Du ziehst sogar Parallelen zur Auflösung des Habsburgerreichs. Glaubst du, wir sind in solch einer kritischen Situation?
Ivan Krastev: Nein, ich bin keiner von denen, die grundlegend fatalistisch sind. Aber das gegenwärtige Problem der Europäischen Union zu verharmlosen, wird ein Fehler sein.
Vor allem nach dem Brexit ist die Desintegration der Europäischen Union nicht undenkbar. Und noch wichtiger ist, dass wir keine klare Idee davon haben, wie eine Desintegration der Europäischen Union konkret aussehen könnte. Wie viele Länder sollen noch austreten, damit wir anfangen, uns vor einer Auflösung zu fürchten? Was geschieht, wenn einige liberale Demokratien in der Europäischen Union sich in autoritär geführte Regime verwandeln?
Aus meiner Sichtweise müssen wir jenseits des Alltäglichen erkennen, dass die Europäische Union, wie wir sie kannten, nicht mehr existiert. Ich denke, nach Europa kommt Europa. Aber es ist sehr wichtig zu erkennen, welches Europa und wie es entstehen kann.
Ralf Fücks: Gibst Du die Europäische Union in ihrer derzeitigen Verfasstheit auf – diese spezifische Kombination aus einer Union von Staaten und einer Union von Bürgern?
Ivan Krastev: Ich glaube, ich gebe etwas komplett anderes auf. Die Europäische Union war sehr stark ein elitäres Projekt, bezogen auf die institutionelle Integration. Dieses konnte wegen der Indifferenz der Öffentlichkeit aufblühen.
Das ist nicht mehr der Fall – zum Glück oder auch nicht. Die Öffentlichkeit ist in die Europapolitik eingetreten. Und ich glaube, als Ergebnis erhalten wir eine andere, sehr viel politischere Union.
Paradoxerweise – nach der Krise – sind die beiden bedeutenden Konzepte, welche zuvor die europäische Debatte prägten, – klassischer Föderalismus und klassische Souveränität – beide sind tot. Sie sind tot, weil auf der einen Seite eine unproblematische Souveränität mit einer europäischen Identität, bei der nationale Identitäten nicht wichtig sind, nicht mehr zu erwarten ist.
Aber auf der anderen Seite, besonders wenn wir sehen, was in Großbritannien nach dem Brexit geschieht, ist es eine Illusion zu glauben, dass Nationalstaaten die Europäische Union verlassen und wieder an den Punkt zurückkehren können, wo sie vor dem Beitritt waren.
Ralf Fücks: Was denkst Du, sind die Hauptursachen für diese Krise des gegenwärtigen Modells? Ist es die Spannung zwischen nationaler Souveränität und Globalisierung? Ist es das Demokratiedefizit der europäischen Politik? Ist es die soziale Polarisierung, die wir in vielen europäischen Gesellschaften beobachten? Was sind die treibenden Kräfte für diese Unruhe?
Ivan Krastev: Ich denke, es gibt mehr als nur einen Grund – und das ist Teil der Geschichte. Ich glaube, dass die Weltordnung nach dem Kalten Krieg – und die Europäische Union war sehr stark ein Projekt, das auf der Realität des Kalten Krieges und dann der Welt nach dem Kalten Krieg basierte – verschwunden ist.
Diese Weltordnung ist verschwunden wegen der Globalisierung. Diese wurde vor ein paar Jahren von der Mehrheit als nützlich wahrgenommen. Und dann plötzlich bekamen die Menschen Angst davor.
Ich gebrauche immer diesen einfachen Vergleich: vor zehn Jahren war der Tourist das Symbol von Globalisierung. Er kommt, er lächelt, er gibt Geld aus.
Ralf Fücks: Und jetzt der Migrant, der Flüchtling.
Ivan Krastev: Genau. Das ist womöglich dieselbe Person, aber jetzt ist der erste sehr viel willkommener. Der zweite ist sehr problematisch.
Ralf Fücks: Oder der Geschäftsmann.
Ivan Krastev: Aus diesem Blickwinkel ist es eine neue Welt. Und in dieser neuen Welt gibt es drei Dinge, die besonders Europa betreffen.
Erstens neigten wir dazu zu glauben, dass wir der Vorbote der kommenden Welt sein werden. Unsere Post-Modernität in Bezug auf Staaten, Post-Souveränität in Bezug auf die Politik.
Dann stellten wir fest, dass das, was wir als universell für die Europäische Union ansahen, sehr außergewöhnlich ist. Es sind nicht nur einfach die Russen oder die Chinesen. Sondern auch die Inder, Brasilianer und Amerikaner. Das Konzept der Souveränität ist zurück.
Zweitens glaubten wir, dass hard power nicht mehr zählt. Alles dreht sich um soft power. Dann kam die Krim und es zeigte sich, dass hard power sehr wohl zählt.
Drittens war vor zehn Jahren die Frage, die sich die Europäer stellten: wie können wir die Welt um uns herum transformieren? Und heute ist die Frage, der wir gegenüberstehen: wie verhindern wir, dass die Welt um uns herum uns selbst transformiert?
Ich glaube, mit dieser Sichtweise kommt es zum großen, radikale Wandel der Politik. Nicht, wenn Du auf die alte Frage eine andere Antwort findest, sondern wenn sich die Frage ändert.
Ralf Fücks: Lass uns die Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa ansehen. Denkst Du, sie unterscheiden sich von dem, was in Westeuropa passiert? Wie viel haben wir gemeinsam? Wo ist der Unterschied in der historischen Erfahrung und der sozioökonomischen Entwicklung?
Ivan Krastev: Es gibt Unterschiede und ich werde sie kurz erwähnen. Aber es ist falsch, die Geschehnisse in Mittel- und Osteuropa nur als ein Vermächtnis der Vergangenheit anzusehen.
Die illiberalen Regime in Mittel- und Osteuropa sind Fremde, die aus der Zukunft kommen, nicht aus der Vergangenheit. Herr Orban hielt im Juli eine Rede. Er sagte: „Vor 25 Jahren glaubten wir in Mitteleuropa, dass Europa das Vorbild ist. Jetzt sind wir das Vorbild.“
Diese Sichtweise ist sehr interessant, denn die Unterschiede existieren in verschiedenen Dimensionen und das sind sehr wichtige Dimensionen.
Eine ist ethnische Homogenität. Mittel-und Osteuropa sind unglaublich ethnische homogene Länder. Das war das Ergebnis aus der Nachkriegszeit.
Ralf Fücks: ..der ethnischen Säuberungen im 2. Weltkrieg und den Monaten danach..
Ivan Krastev: Ergebnis davon war, dass in Ländern wie Polen, wo 1939 ein Drittel der Bevölkerung keine Polen waren, sondern Deutsche, Ukrainer, Juden, jetzt mehr als 96 Prozent der Bevölkerung Polen sind.
Die Betonung nationaler Solidarität – verstanden als ethnische Solidarität – ist viel stärker in Osteuropa als in Westeuropa.
Zweitens, das Erbe von 1968 ist sehr unterschiedlich. In Westeuropa ging es 1968 stark darum, sich mit Leuten zu identifizieren, die anders sind als wir. Es ging stark um die koloniale Schuld des Westens. Es ging um Solidarität mit der Dritten Welt.
In Mittel- und Osteuropa ging es 1968 um ein nationales Erwachen. Es handelte stark von Souveränität, Widerstand gegen die sowjetische Präsenz.
Ralf Fücks: Demokratie bedeutete nationale Souveränität.
Ivan Krastev: Genau, Demokratie bedeutete nationale Souveränität. Demokratie bedeutete Souveränität im Allgemeinen. Widerstand – das war es von unserer Seite. Grundsätzlich basiert die Idee von nationaler Identität in diesen mitteleuropäischen Ländern stark auf den Widerstand gegen bestimmte Typen kosmopolitischer Ideen. Sei es die katholische Kirche, sei es das Habsburgerreich, sei es der internationale Kommunismus aus Moskau. Mit dieser Sichtweise haben wir eine andere nationalistische Tradition, die all diese Länder prägt.
Ein weiterer sehr wichtiger Unterschied wird von vielen Leuten nicht wirklich beachtet. Das lässt sich sogar an den letzten deutschen Wahlen erkennen und wie Ostdeutschland wählte. Migration bedeutet nicht nur die Angst vor denen, die kommen, und der Versuch, sie fernzuhalten. Migration ist auch das Trauma wegen derer, die in den letzten 25 Jahren weggingen.
Nach der Öffnung der Grenzen gingen viele Osteuropäer nach Westeuropa oder in die USA. Dies passierte in Gesellschaften, die altern und demographisch schrumpfen. Nach UN-Prognosen werden in den nächsten 30 Jahren kleine Gesellschaften wie die bulgarische 27% ihrer Bevölkerung verlieren. Stell Dir vor, was mit den baltischen Ländern passiert, wo in den letzten zehn Jahren zehn Prozent der Bevölkerung wegging. Auf einmal, als Folge der Angst vor Migranten und Gewahr werdend, welche Auswirkungen die Auswanderung hat, entdeckten die Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa ihre Endlichkeit. Deswegen gibt es diese unglaublich feindselige Reaktion gegenüber Flüchtlingen in Gesellschaften, in denen es keine Flüchtlinge gibt.
Ralf Fücks: Lass uns nach vorne schauen. Was denkst du sollten wir tun und was können wir tun als Europäer, um die Krise liberaler Demokratien zu bewältigen? Wie könnte ein Gefühl der Zugehörigkeit wieder gestärkt werden, ein Gefühl für die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns als Europäer?
Ivan Krastev: Ich denke, es gibt durchaus zwei oder drei positive Erkenntnisse nach all diesen Krisenherden in Europa.
Erstens, begannen die Europäer wegen der Krise zum ersten Mal, Europa als eine Schicksalsgemeinschaft wahrzunehmen. Lautlos begannen die Deutschen, sich als Experten der griechischen Wirtschaft zu verstehen. Polen wurden zu Spezialisten für deutsche Innenpolitik. Auf einmal entdeckten wir den anderen und das zum Teil auf eine konfrontative Weise. Aber bedenke, diese konfrontative Auseinandersetzung mit anderen ist viel umfassender. Es ist keine Art politisch korrekter Geschichte, in der wir versuchen, nicht über die Probleme zu reden. Ich denke, es ist gut so, weil so Politik funktioniert.
Zuvor – und das ist typisch für die 1990er – war Identitätspolitik der Bereich von Minderheiten. Und das Schlüsselwort war „Anerkennung“. Es konnten ethnische Minderheiten, religiöse Minderheiten und sexuelle Minderheiten sein. Was jetzt passierte ist, dass die Identitätspolitik zur Mehrheitspolitik wurde.
Ralf Fücks: Und sich von links nach rechts bewegte.
Ivan Krastev: Genau. Und seltsamerweise: was vorher „Anerkennung“ war wurde nun „Respekt“. Und „Respekt“ bedeutet auch: „Sei Dir unserer asymmetrischen Macht bewusst!“
Nicht durch Zufall sagen die Präsidenten Trump und Putin: „Wir werden nicht respektiert.“ Das bedeutet, „Wir werden wie alle anderen behandelt, obwohl wir viel mächtiger sind.“
Und ich denke, heute ist die Verschiebung von identitärer Minderheitspolitik zu identitärer Mehrheitspolitik die zentrale Herausforderung. Das beobachten wir in Ungarn. Das beobachten wir in Polen. Und das grundlegende Problem ist, wie wir das überwinden können.
Aber eine interessante Geschichte dahinter ist: die Tatsache, dass die Europäische Union unter mehreren und nicht nur einer Krise leidet, eröffnet Raum für politisches Manövrieren. Zum Beispiel die Wirtschaftskrise. Hier ist natürlich die deutsche Position: Sei hart, stell die Regeln nicht in Frage.
Aber wegen der Flüchtlingskrise gibt es nun die Idee, dass das Geld, welches Griechen und Italiener für Flüchtlinge ausgegeben, vom Haushaltsdefizit abgezogen werden kann. Schlagartig entsteht durch die Tatsache, dass du mehr als nur eine Krise hast, mehr Flexibilität in dem System.
Und ich glaube, wir brauchen Flexibilität. Die derzeitige Krise ähnelt in gewisser Hinsicht der Krise der 1970er. Aber damals war es eine progressive Welle von links kommend, die die Institutionen attackierte. Und jetzt ist es eine viel mehr konservative Welle von rechts kommend.
Der Erfolg in den 1970er bestand nicht einfach darin, die extremen politischen Bewegungen zu stoppen, sondern, einige der Ideen und Bedenken der protestierenden Leute zu sozialisieren. Das Problem heute ist: Können wir dies jetzt tun, mit viel konservativeren Leuten von rechts kommend, die Angst vor der Globalisierung haben?
Ralf Fücks: Viele Dank. Die europäische Krise ist eine große Herausforderung, aber gleichzeitig auch eine große Chance für eine Neuerfindung der Politik. Vielen Dank, Ivan – wir hoffen auf künftigen Austausch und Kooperation.
Ivan Krastev: Vielen Dank.
Ivan Krastevs Buch „Europadämmerung“ ist bei Suhrkamp erschienen.
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