Warum Georgiens „Gesetz zur Transparenz ausländischer Einflussnahme“ der Verfassung widerspricht
Seit dem Frühjahr 2024 befindet sich Georgien in einer besonders angespannten Lage. Zum zweiten Mal hat die Regierung das „Gesetz zur Transparenz ausländischer Einflussnahme” initiiert und damit für große öffentliche Empörung gesorgt. Infolge gingen Hunderttausende friedlich auf die Straße, um zu protestieren – seit dem Kampf um die Unabhängigkeit in den 1990er Jahren hat es in Georgien kaum noch solche Proteste gegeben.
Bereits im Frühjahr 2023 hatte die Regierungspartei das Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht, doch nun, beim zweiten Vorstoß, hat die Regierung ihre Position nicht geändert: Anfang Juni 2024 trat das Gesetz „Ausländische Einflussnahme“ in Kraft – und das trotz Massenprotesten und ernster Warnungen durch die westlichen Partnerländer sowie der internationalen Organisationen wie UN, des Europarats, der Europäischen Union, der OSCE/ODHIR sowie der Venedig-Kommission. Dem ungeachtet überstimmte das Parlament das Veto der Präsidentin: Weil diese sich weigerte, das Gesetz zu unterzeichnen, wurde es vom Parlamentspräsidenten ratifiziert. Dies hatte zur Folge, dass die Verhandlungen über den Beitritt Georgiens zur Europäischen Union ausgesetzt wurden.
Das in der Verfassung verankerte Ziel einer EU-Integration ist in Gefahr
Daraufhin stellte die georgische Präsidentin beim Verfassungsgericht den Antrag auf Durchführung einer abstrakten Normenkontrolle. Zu untersuchen war, ob das „Gesetz zur Ausländischen Einflussnahme“ konform ist mit Artikel 78 der georgischen Verfassung. Dort steht geschrieben: „Die Verfassungsorgane haben im Rahmen eigener Befugnisse alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, die für die vollständige Integration Georgiens in die EU und euro-atlantische Organisation erforderlich sind.“
Die Integration in die Europäische Union stellt das nationale Interesse dar, denn durch die georgische Verfassung kommt der Wille der großen Mehrheit des georgischen Volkes zum Ausdruck. Bei Artikel 78 der Verfassung Georgiens handelt es sich um eine Übergangsbestimmung. Die Klausel gilt bis zum Eintritt Georgiens in die EU und hat innerhalb der Verfassung wichtige Bedeutung und Kraft und eine besondere Bindungswirkung: In Artikel 78 wird nicht etwa ein Ideal formuliert – vielmehr ist er mit der systematischen, an alle Verfassungsorgane gerichteten Positionierung in der Verfassung und seines Inhalts nach als verbindliches Staatsziel zu verstehen.
Nach zahlreichen Warnungen erklärte der Europäische Rat schließlich in seiner Schlussfolgerung vom 27. Juni 2024, dass er die Verhandlungen mit Georgien als Bewerberland eingestellt habe und verwies dabei vor allem auf die negativen Auswirkungen des Gesetzes „Ausländische Einflussnahme“, sowie auf die Einschüchterung einer zunehmenden Zahl von Menschen wie den Vertretern der Zivilgesellschaft, politischen Führern und Zivilaktivisten, sowie auf Drohungen und körperliche Angriffe gegen Journalisten.
Aufgrund dessen ist evident, dass die Verabschiedung und die Folgen des Gesetzes „Ausländische Einflussnahme“ einen eindeutigen Verstoß gegen eines der Hauptziele von Artikel 78 darstellen – das Gesetz verstößt damit also gegen die georgische Verfassung. Es unterbricht den Prozess für die vollständige Integration Georgiens in die Europäische Union, indem es ernsthafte Hindernisse verursacht.
Nach der allgemeinen Theorie der Staatszweckbestimmungen müssen sich Gerichte ebenso wie die Gesetzgeber und Exekutive bei der Auslegung von Gesetzen auf Staatszweckbestimmungen beziehen. Daher ist das georgische Verfassungsgericht verpflichtet, nicht nur die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu prüfen, sondern auch nach Artikel 78 zu handeln und als Verfassungsorgan im Rahmen eigener Befugnisse alles für die vollständige Integration Georgiens in die EU zu tun.
Verletzung der Grundrechte von Einzelpersonen NGO‑s und Medienorganisationen
Gegen das Gesetz „Ausländische Einflussnahme“ sind beim Verfassungsgericht von Georgien Verfassungsbeschwerden von insgesamt 122 Nichtregierungsorganisationen sowie von der parlamentarischen Opposition eingegangen. Ebenfalls haben deutsche Professoren eine Stellungnahme (Amicus Curiae) beim Verfassungsgericht eingereicht.
Das Verfassungsgericht prüft nun die Verfassungsbeschwerden. Sollte es dabei zu dem Ergebnis kommen, dass keine Verfassungsverletzung vorliegt, wird das Gesetz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) angefochten. Der EGMR fällte sein Urteil aufgrund von 2013 bis 2018 eingereichten Beschwerden gegen Maßnahmen gegen 73 russische NGOs, die sich unter anderem für Bürgerrechte, die Umwelt und Bildung einsetzten. Dieser sieht im russischen Gesetz über „ausländische Agenten“ einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Nach dem Urteil heißt es, „das Gesetz, das seit 2012 in Russland gilt und 2020 erweitert wurde, öffne staatlicher Willkür Tür und Tor.“ Es stelle eine Verletzung der Meinungsfreiheit sowie der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit dar, die von der Europäische Menschenrechtskonvention garantiert sind (Ecodefence ua gg Russland, Urteil vom 14.6.2022). Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg prüfte den gleichen Fall gegen Ungarn und setzte ihn außer Kraft. Weil aber Georgien kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union ist, fällt es nicht unter der Zuständigkeit des EuGH.
Im Falle des Gesetzes „Ausländische Einflussnahme“ ist festzuhalten: Es widerspricht den in der georgischen Verfassung verankerten Rechten von Einzelpersonen und den Grundrechten von NGOs und Medienorganisationen. Schauen wir auf beide Punkte genauer.
Die Rechte von Einzelpersonen
Artikel 8, Absatz 3 des Gesetzes „Ausländische Einflussnahme“ sieht Eingriffe in das Privatleben einer Person vor. Diese Bestimmung bezieht sich auf die Daten, die gemäß Artikel 3 Absatz b) des Gesetzes „zum Schutz der Personaldaten“ geschützt sind. Dabei handelt es sich um die personenbezogenen Daten wie zum Beispiel ethnische Zugehörigkeit, politische Meinung, religiöse oder andere Überzeugungen, Mitgliedschaft in einer Berufsorganisation, Gesundheitszustand, Sexualleben, genetische Identifikationsdaten und andere persönliche Daten.
Nach dem Gesetz „Ausländische Einflussnahme“ kann durch das Justizministerium von jeder Person, die in Verbindung mit NGOs steht, gefordert werden, Einsicht in ihre die Daten zu gewähren. Der genannte Eingriff ist willkürlich, hat kein legitimes Ziel und lässt sich durch nichts rechtfertigen, denn diese persönlichen Daten können nichts mit finanzieller Transparenz zu tun haben. Damit verstößt diese Bestimmung gegen Artikel 15, der das Recht eines jeden Einzelnen auf Unverletzlichkeit des Privat- und Familienlebens, des persönlichen Freiraums und der Kommunikation schützt.
Bislang war es nur durch die strikte Einhaltung strafrechtlicher Verfahren möglich, an solche Informationen zu gelangen. Nun aber greift das Gesetz willkürlich auf die am meisten geschützten personenbezogenen Daten der Bürger zu. Faktisch führt das zu einem strafrechtlichen Verfahren, jedoch ohne dass die sonst dabei üblichen strafrechtlichen Schutzmechanismen greifen – wie beispielsweise die Beteiligung eines Richters oder Anwaltes am Strafverfahren. Für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit bei Eingriffen in das Privatleben durch den Staat wurde in der Rechtstheorie eine sogenannte Sphärentheorie erarbeitet. Man unterscheidet zwischen Intimsphäre, Privatsphäre sowie Sozial- und Öffentlichkeitssphäre: Unter Intimsphäre sind höchstpersönliche Informationen erfasst, wie beispielsweise solche zum Gesundheitszustand oder zum Sexualleben. Die Intimsphäre darf so gut wie nie verletzt werden. Sie ist nahezu unantastbar, da dieser Bereich unmittelbar mit der Menschenwürde verknüpft ist. Die Auskunftspflicht, die Informationen aus der Intimsphäre betrifft, geht deshalb über den Bereich des Rechts auf Privatsphäre hinaus und stellt, bezugnehmend auf Artikel 9, einen Eingriff in die Menschenwürde dar.
Genannte Gesetzesbestimmung greift in die Rechte besonders schutzbedürftiger Gruppen ein, beispielsweise die von Personen, die in den von Russland besetzten georgischen Gebieten leben. Georgische Nichtregierungsorganisationen und Vereine leisten der in diesen Gebieten lebenden Bevölkerung bedeutende Hilfe – insbesondere in den Bereichen Bildung und Gesundheit. Auch in Fällen von häuslicher Gewalt sowie bei der Aufnahme beruflicher, kultureller und künstlerischer Aktivitäten unterstützen sie beträchtlich. Finanziert werden solche Förderprojekte wiederum von der EU, sowie von einzelnen EU-Ländern und den USA. Menschen, die in den von Russland okkupierten georgischen Gebieten leben und Hilfe durch diese Organisationen erhalten, verheimlichen dies zu ihrem Schutz. Werden nun ihre Daten veröffentlicht, bedeutet das für diese Menschen große Gefahr – ihr in Artikel 10 garantiertes Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit wird demnach verletzt.
Grundrechte von NGOs und Medienorganisationen
Hauptzielgruppe des Gesetzes „Ausländische Einflussnahme“ sind die Zivilgesellschaft sowie Medienorganisationen.
Das Gesetz „Ausländische Einflussnahme“ zielt darauf ab, ein amtliches Register von Nichtregierungsorganisationen und gemeinnützigen Organisationen, von Rundfunkveranstaltern, Printmedien sowie von Inhabern und Nutzer von Internetdomänen zu erstellen – sofern diese in einem Kalenderjahr mehr als 20 % ihres Gesamteinkommens von einer „ausländischen Macht“ beziehen. Solche Organisationen müssen registriert werden als „Organisation, die Interessen der ausländischen Macht vertreten“. Diese Organisationen müssen sowohl ihre Registrierung als auch andere Dokumente veröffentlichen.
Allein der Name „Organisation, die Interessen einer ausländischen Macht vertritt“ führt zu einer Stigmatisierung dieser Organisationen: Sie schadet ihrer sozialen Identität, disqualifiziert ihre Bedeutung in der Gesellschaft und verursacht rufschädigende, sozialimageschädigende und demütigende Bewertungen. Dementsprechend verstößt eine solche herabwürdigende Darstellung gegen gleich zwei Grundrechte von Nichtregierungs- und Medienorganisationen: Gegen Artikel 22, in dem das Recht auf Vereinigung verankert ist, sowie gegen Artikel 17, in dem die Rechte auf Meinungsfreiheit sowie Informations‑, Massenmedien- und Internetfreiheit formuliert sind.
Das Gesetz „Ausländische Einflussnahme“ verpflichtet als Vertreter einer ausländischen Macht registrierte Organisationen unverzüglich zur Auskunft über die Details ihrer Tätigkeit – und zwar unabhängig vom Umfang der angeforderten Informationen und/oder dem Zeitaufwand für deren Abruf und Bearbeitung.
Werden die Informationen nicht unverzüglich weitergeleitet, werden Organisationen mit einer Geldstrafe in Höhe von 5.000 GEL belegt. Eine Anfechtung im Gericht verzögert ihre Wirkung nicht. Eine Organisation kann nicht nur eine sondern gleich mehrere solcher Geldbußen gleichzeitig erhalten. Diese Belastung kann insbesondere für kleine nichtstaatliche, gemeinnützige juristische Organisationen eine existenzielle Bedrohung darstellen.
Sinn und Zweck dieses strengen und willkürlichen Überwachungsinstrument ist die Repression. Das zeigt sich darin, dass Artikel 9 das Gesetz „Ausländische Einflussnahme“ für als „Vertreter ausländischer Macht registrierte Organisationen“ unverhältnismäßig hohe Geldstrafen (von 5.000 bis 25.000 GEL) vorsieht: Wenn beispielsweise ein Beamter wegen Nichterfüllung seiner Meldepflichten mit einer Geldstrafe von 1000 GEL bestraft wird, hat eine NGO oder eine Einzelperson für die gleiche Tat das Fünffache der Geldstrafe zu zahlen. Wobei zu ergänzen ist, dass der Beamte sein Gehalt aus den von den Bürgern gezahlten Steuern erhält.
Für Organisationen, die an der Beobachtung der Parlamentswahlen im Oktober 2024 beteiligt sind, sind die Themen Reputation sowie hohe Bußgeldzahlungen besonders wichtig. Die Registrierung als „Organisation, die die Interessen einer ausländischen Macht vertritt“ und die Verknüpfung der Organisation mit einem solchen Status wird es schwierig machen, die mehrere Tausend Beobachter zu gewinnen, die zur Durchführung und Garantie demokratischer Wahlen erforderlich sind.
Generell verstößt das Gesetz in grober Weise gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit der Rechtsbeschränkung, denn eine solche Einschränkung der Grundrechte ist nicht notwendig. Der Gesetzgeber könnte das gleiche Ziel – das der Transparenz – ohne Stigmatisierung und unverhältnismäßig hohe Bußgelder erreichen.
Fazit
Heute steht Georgien vor einer historischen Entscheidung. Bereits seit dem 17. Jahrhundert bewegt sich das Land langsam und geduldig hin zu Europa. 70 Jahre lang wurde Georgien durch die russische Besatzung daran gehindert, sich ideell und politisch stärker an Europa zu orientieren. Heute sind wir mit der gleichen Gefahr konfrontiert wie schon im Jahr 1921. Damals hat nicht Georgien, sondern hat Russland für Georgien die historische Entscheidung getroffen. Heute aber ist es an der Zeit, diese historische Entscheidung im besten Interesse des georgischen Volkes zu treffen.
Das Gesetz „Ausländische Einflussnahme“ ist nicht nur ein Gesetz. Es ist die Wahl des Landes zwischen Totalitarismus und Demokratie, zwischen autoritativen Strukturen und einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft.
Deshalb ist nun das Verfassungsgericht an der Reihe, um den wahren Willen des georgischen Volkes durchsetzen. Sollte aber die Rechtsstaatlichkeit in Form des Verfassungsgerichts nicht funktionieren, gibt es das Mittel der Demokratie. Die entscheidenden Wahlen liegen vor uns: Am 26. Oktober 2024 werden die Georgierinnen und Georgier beweisen, dass Ihr unerschütterlicher Wille in Artikel 78 der georgischen Verfassung verankert ist und die Verfassungsorgane alle notwendigen Maßnahmen zu treffen haben, um ihr Land nach Europa zu führen und den Boden dafür zu bereiten, damit Georgien zu einem vollständig integrierten Mitglied der Europäischen Union werden kann.
Did you like this article? If yes, you can support the independent editorial work and journalism of LibMod via a simple donation tool.
Donate via PayPal
We are recognized as a non-profit organization, accordingly donations are tax deductible. For a donation receipt (necessary for an amount over 200 EUR), please send your address data to finanzen@libmod.de
Related topics
order Newsletter
Stay tuned with our regular newsletter about all our relevant subjects.