Wie Biotech­no­logie die Ernährung revolutioniert

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Erhalt von Ökosys­temen, Kreis­lauf­wirt­schaft, reduzierter Fleisch­konsum: Können wir durch den Einsatz von Mikro­or­ga­nismen nachhal­tiger leben – ohne schmerz­lichen Verzicht? Der Biologe und Wissen­schafts­kom­mu­ni­kator Martin Reich über die Revolution aus dem Mikrokosmos.

Die Menschheit nutzt Mikro­or­ga­nismen bereits seit Jahrtau­senden, um Lebens­mittel zu verfeinern, haltbar zu machen oder sich an ihnen zu berau­schen. Anthro­po­logen sind überzeugt, dass sowohl die spiri­tuelle Entwicklung unserer Vorfahren als auch das Meistern der Neoli­thi­schen Revolution, also des Übergangs vom Jagen und Sammeln zu einem sesshaften Leben mit Ackerbau und Viehzucht, durch Mikro­or­ga­nismen befördert oder gar erst ermög­licht wurden.

Mikro­or­ga­nismen als Verbündete im Kampf gegen den Klimawandel

Heute steht die Menschheit erneut an einem histo­ri­schen Schei­deweg. Knapp die Hälfte der bewohn­baren Erdober­fläche nutzen wir für die Produktion unserer Nahrungs­mittel. Klima und Ökosysteme drohen aus den Fugen zu geraten. Und erneut könnten uns unsere Verbün­deten aus dem Mikro­kosmos helfen, diese Heraus­for­de­rungen durch eine biolo­gische Revolution zu meistern. Wenn wir ihnen doch nur mehr Beachtung schenken würden.

Heutzutage nutzen wir Mikro­or­ga­nismen nicht nur für eine indus­tria­li­sierte Form der tradi­tio­nellen Fermen­tation, mit der wir Käse, Sauer­kraut, Bier, Sauerteig, Essig und viele andere Lebens­mittel produ­zieren. Durch die Fortschritte der Biotech­no­logie ist es seit einigen Jahrzehnten möglich, wichtige Arzneien, Enzyme, Vitamine und Aromen mit genetisch verän­derten Mikro­or­ga­nismen herzu­stellen, anstatt sie aus Tieren, Pflanzen oder fossilen Rohstoffen zu gewinnen.

Promi­nente Beispiele sind das Insulin, für dessen Gewinnung früher absurd viele Tonnen tieri­scher Bauch­spei­chel­drüsen benötigt wurden, und das Labenzym Chymosin, das bei der Herstellung von Käse zum Einsatz kommt und früher nur aus Kälber­mägen gewonnen werden konnte.

Indem die jeweilige genetische Infor­mation für die Produktion dieser chemi­schen Verbin­dungen in einen passenden Mikro­or­ga­nismus eingebaut wurde, konnten die Tiere aus dem Prozess heraus­ge­kürzt werden. Für solche spezi­ellen Anwen­dungen, bei denen kleine Mengen hochprei­siger Stoffe herge­stellt werden, hat sich die Biotech­no­logie inzwi­schen als Methode der Wahl etabliert.

Vielfältige Einsatz­mög­lich­keiten biotech­no­lo­gisch optimierter Mikroorganismen

Und warum auch nicht? Wir haben uns das wachsende Verständnis für die Biologie der Mikro­or­ga­nismen und die Entwicklung neuer Methoden zunutze gemacht, um die Herstellung unserer Lebens­mittel und Medika­mente zu verbessern. Auch für viele weitere Anwen­dungen kommen biotech­no­lo­gisch optimierte Mikro­or­ga­nismen in Frage oder bereits zum Einsatz: für die Produktion von Kraft­stoffen und zahlreicher Chemi­kalien, die Reinigung verschmutzter Gewässer und Böden, die Etablierung einer echten Kreis­lauf­wirt­schaft, in der alle Reststoffe durch Mikro­or­ga­nismen verwertet werden.

Doch der größte Hebel für den Erhalt einer lebens­werten Welt für kommende Genera­tionen liegt in der Kombi­nation der tradi­tio­nellen Fermen­tation mit den neuesten Methoden der Biotech­no­logie für die Produktion dessen, was auf unseren Tellern landet.

Mikro­bio­lo­gische Ernährungsrevolution

Doch was ist daran neu, wenn wir doch bereits seit einigen Jahrzehnten die Biotech­no­logie nutzen, auch für unsere Ernährung? Der große Unter­schied liegt darin, dass es nun nicht mehr nur um einzelne Hilfs­stoffe geht, wie das Labenzym, oder um Zutaten in geringen Mengen, wie Vitamine und Aromen. Es geht darum, die großen Bausteine unserer Lebens­mittel, also Proteine, Fette und Kohlen­hy­drate auf neue Weise herzu­stellen. Die aller­meisten Ressourcen und die meiste Fläche nutzen wir für die relativ ineffi­ziente Umwandlung von Pflanzen in Fleisch und andere tierische Lebens­mittel. Besonders die Weide­haltung liefert, obwohl sie für einen Großteil der Flächen­nutzung verant­wortlich ist, nur einen Bruchteil der Kalorien und Proteine, die weltweit verzehrt werden. Doch wie soll Fermen­tation tierische Lebens­mittel ersetzen können? In meinem Buch stelle ich drei grund­le­gende Wege vor, wie dies gelingen kann.

Fermen­tation sorgt für inten­si­veren Geschmack pflanz­licher Produkte

Erstens wird die tradi­tio­nelle Fermen­tation, also die Verän­derung pflanz­licher Lebens­mittel, von Produ­zenten veganer Lebens­mittel momentan wieder­ent­deckt. Statt, wie früher, mehr oder weniger dem Zufall zu überlassen, welche Arten von Mikro­or­ga­nismen das Sauer­kraut im Topf fermen­tieren, unter­suchen Wissen­schaftler heute ganz genau, welche Art in Kombi­nation mit welchem Ausgangs­stoff zu erwünschten oder gar unerwar­teten Ergeb­nissen führt. Viele Mikro­or­ga­nismen sorgen für die berüch­tigte Geschmacks­richtung umami, die für tierische Produkte typisch ist und vielen Menschen beim Genuss pflanz­licher Lebens­mittel fehlt. Auch die Textur pflanz­licher Alter­na­tiv­pro­dukte kann durch Fermen­tation positiv beein­flusst werden. Bereits mehrere solcher Produkte sind in Deutschland, Öster­reich und anderen Ländern auf dem Markt. Auf diese Weise kann Fermen­tation also die unbedingt nötige Reduktion des Konsums tieri­scher Produkte und einen Umstieg auf pflanz­liche Lebens­mittel vorantreiben.

Essbare Mikro­or­ga­nismen aus Bioreaktoren

Zweitens ist es schon seit Längerem möglich, essbare und sogar sehr nahrhafte Mikro­or­ga­nismen in Massen zu vermehren und aus ihnen Lebens­mittel herzu­stellen (die Entwicklung des Hefeex­trakts etwa geht auf den berühmten Chemiker Justus von Liebig zurück, der kurio­ser­weise aber nicht an Mikro­or­ga­nismen glaubte). Dies war bisher etwas, das im größeren Maßstab nur in Krisen­zeiten umgesetzt wurde (beispiels­weise während der beiden Weltkriege), nun aber von zahlreichen Startups neu belebt wird. Sie nutzen nahrhafte mikro­bielle Pilze oder auch Bakterien, lassen sie in Biore­ak­toren wachsen und ernten sie für die Herstellung von Lebens­mitteln. Würden wir weniger Tiere und mehr Mikro­or­ga­nismen essen, könnten wir den Flächen­ver­brauch der Landwirt­schaft radikal verkleinern. Denn in der Effizienz der Umwandlung pflanz­licher Nahrung sind die Einzeller den Rindern, Schweinen und Hühnern weit überlegen. Viele Pilze und Bakterien enthalten ein für unsere Ernährung hervor­ra­gendes Spektrum an Nährstoffen, können in großen Tanks, die jenen einer Bierbrauerei zum Verwechseln ähneln, schnell und zuver­lässig produ­ziert und in leckere Produkte verar­beitet werden.

Präzi­si­ons­fer­men­tation: Käse ohne Kuh, Eiweiß ohne Huhn

Drittens können inzwi­schen mithilfe der Biotech­no­logie, ganz ähnlich wie bei Insulin und Labenzym, tierische Proteine und Fette origi­nal­getreu mit Hilfe von Mikro­or­ga­nismen produ­ziert werden. Dazu wird ihnen die entspre­chende genetische Infor­mation im Labor einpro­gram­miert. Anschließend folgt ein Brauprozess, ganz ähnlich der tradi­tio­nellen Fermen­tation im heutigen indus­tri­ellen Maßstab: große Edelstahl­tanks, in denen Mikro­or­ga­nismen gefüttert werden und ihr Werk verrichten. Käse ohne Kuh, Eiweiß ohne Huhn, aber auch Kakao­butter, Enzyme für Honig ohne Bienen und Palmöl ganz ohne die norma­ler­weise nötigen Pflanzen – all das und mehr wird durch die sogenannte Präzi­si­ons­fer­men­tation möglich.

„Wir können ohne schmerz­lichen Verzicht nachhal­tiger werden“

Hinter all diesen Möglich­keiten, wie Fermen­tation uns ein Leben mit weniger Fleisch, Milch und Co. schmack­hafter machen kann, steckt dieselbe Theorie: wir können ohne schmerz­lichen Verzicht nachhal­tiger werden. Im Falle der Ernährung bedeutet dies, dass wir dank einer Revolution aus dem Mikro­kosmos leckere und gesunde Lebens­mittel auf unseren zukünf­tigen Tellern haben und gleich­zeitig durch einen viel gerin­geren Flächen­ver­brauch Ökosysteme erhalten können. Und nebenbei noch das moralische Dilemma auflösen, das viele von uns im Hinblick auf Tierhaltung plagt.

Dabei sehe ich drei Stufen, die wir auf dem Weg zum Ziel beschreiten könnten: zum Ersten könnten wir immer mehr Pflanzen an Mikro­or­ga­nismen statt an Tiere verfüttern. Dies würde die weitere Ausweitung landwirt­schaft­licher Flächen schon sehr effektiv bremsen.

Zweitens sollten wir die heraus­ra­gende Fähigkeit von Mikro­or­ga­nismen nutzen, fast jeden organi­schen Stoff abbauen und verwandeln zu können, um eine echte Kreis­lauf­wirt­schaft aufzu­bauen, die gleich­zeitig auch noch Nahrungs­mittel produ­ziert. Dabei geht es zum Beispiel um Reste aus der Landwirt­schaft, die heute häufig an Tiere verfüttert werden, aber auch zahlreiche Reste aus anderen Industriezweigen.

Drittens sollten wir spezielle Arten von Mikro­or­ga­nismen, die von Gasen statt von Pflanzen leben, für den Aufbau einer Lebens­mit­tel­pro­duktion nutzen, die gänzlich unabhängig von der Photo­syn­these ist. Diese Art der Fermen­tation nennt man Gasfer­men­tation. Sie hat das revolu­tionäre Potenzial, uns von Acker­bauern und Tierhaltern zu Brauern weiter­zu­ent­wi­ckeln. Auch an dieser Techno­logie arbeiten bereits heute einige Firmen.

In meinem Buch beschreibe ich, wie diese unter­schied­lichen Verfahren funktio­nieren, was die Hürden auf dem Weg auf unsere Teller und die großen Chancen für Umwelt und Klima sind. Gleich­zeitig werden auch die Heraus­for­de­rungen, die eine solche Revolution aus dem Mikro­kosmos für Wirtschaft und Gesell­schaft mit sich bringen, beleuchtet. Die mikro­bio­lo­gische Revolution hat schon begonnen – in Forschungs­la­boren, modernen Braue­reien, Pionier­un­ter­nehmen in Industrie und Landwirt­schaft. Jetzt kommt es darauf an, ihre Poten­tiale zu entfalten.

„Revolution aus dem Mikro­kosmos“ ist beim Residenz Verlag erschienen und u.a. hier erhältlich: https://www.residenzverlag.com/buch/revolution-aus-dem-mikrokosmos

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