Wer rasselt mit dem Säbel?

Foto: kremlin.ru/Wikimedia: Zapad 2013, CC BY 4.0

Zapad 2017 und die prekäre Sicher­heits­lage im Osten Europas

Vorbe­mer­kung

Wer würde nicht liebend gern dem Krieg ein für allemal eine Absage erteilen und den Rüstungs­haus­halt auf Null fahren? Die folgende Analyse des Mili­tär­ex­perten Gustav Gressel negiert nicht den Wunsch nach Frieden. Sie stellt aller­dings die Vorstel­lung in Frage, dass der Frieden in Europa gesichert wird, wenn nur die NATO radikal abrüstet.  Gressel analy­siert die Logik hinter den jüngsten russi­schen Groß­ma­nö­vern an der Ostflanke der NATO, und seine Schluss­fol­ge­rungen sind beun­ru­hi­gend: Russland demons­triert seine Fähigkeit, innerhalb kurzer Frist die balti­schen Staaten und Polen zu über­rollen. Ob dieses Szenario ernsthaft erwogen wird, wissen wir nicht. Es dient aber so oder so zur Einschüch­te­rung der Länder in der „näheren Nach­bar­schaft“ Russlands. Es geht um die Demons­tra­tion, wozu Russland in der Lage wäre, wenn es will – und um den Test, wie ernst es die NATO mit ihrer Beistands­ga­rantie für alle ihre Mitglieder meint. Gressel analy­siert detail­liert die mili­tä­ri­schen Kapa­zi­täten auf beiden Seiten. Dabei geht es nicht nur um die Zahl der Soldaten, Panzer und Flugzeuge, sondern um die tatsäch­liche Kampf­fä­hig­keit dieser Truppen. Dabei schält sich ein klarer Vorteil der russi­schen Seite heraus. Welche Schluss­fol­ge­rungen sollten wir daraus ziehen? Muss der Westen seine mili­tä­ri­schen Fähig­keiten wieder stärken, um die russische Führung schon im Vorfeld abzu­schre­cken, die Operation Krim und die Inter­ven­tion in der Ostukraine anderswo zu wieder­holen? Und was sind wir der Sicher­heit unserer mittel-osteu­ro­päi­schen Nachbarn schuldig? Die Debatte ist eröffnet.


Gustav C. Gressel

Wer rasselt mit dem Säbel?
Zapad 2017 und die prekäre Sicher­heits­lage im Osten Europas

Vom 14. bis zum 20. September 2017 übten russische und weiß­rus­si­sche Soldaten an der polnisch-litaui­schen Grenze den „Vertei­di­gungs­fall“. Das offi­zi­elle Manö­ver­skript ist bizarr, passt jedoch in die üblichen Narrative russi­scher Manöver: „Sepa­ra­tisten“ aus drei fiktiven Nach­bar­staaten dringen nach Weiß­russ­land vor, unter­stützt von starken Luft­streit­kräften der NATO. Der Russi­schen Armee gelingt es durch die rasche Mobi­li­sie­rung schnell verleg­barer Kräfte, den Angriff zu stoppen, die „Terro­risten“ einzu­kreisen und den russi­schen Luftraum gegen Feind­an­griffe abzu­schotten. Dass im Zuge dieses „rein defen­siven“ Manövers die drei fiktiven Staaten, aus denen die vermeint­li­chen „Terro­risten“ stammen (welche nicht zufällig an Polen, Litauen und Lettland erinnern), zerschlagen und besetzt werden, wird nur am Rande erwähnt.

Dieses Drehbuch ist nicht nur aus poli­ti­schen Gründen bizarr – wer glaubt im Ernst, dass die NATO polnisch-litaui­schen „Sepa­ra­tisten“ in Weiß­russ­land mili­tä­risch beispringen und damit einen Krieg mit Russland riskieren würde?  Es ist auch mili­tä­risch unstimmig. Sinn macht es erst, wenn man das offi­zi­elle Narrativ genauer durch­leuchtet : Die balti­schen Sepa­ra­tisten sind eine reine Erfindung der Kreml-Propa­ganda und dienen nur der Legi­ti­ma­tion für einen Angriffs­krieg. Die schnell verlegten Luftlande- und Spezi­al­kräfte erwischen die NATO auf kaltem Fuße und erobern blitz­artig die balti­schen Staaten und Ostpolen. Die russi­schen Luft­ver­tei­di­gungs­kräfte schlagen dann NATO-Luft­an­griffe zurück, die wohl die erste Reaktion des Bünd­nisses auf die hand­streich­ar­tige Besetzung einiger ihrer Mitglieds­länder gewesen wären. Dann ist das Szenario wieder stimmig und macht auch mili­tä­risch „Sinn“. Aller­dings verliert dann das Manöver auch jedes defensive Feigen­blatt. Die angeb­liche Bedrohung aus dem Westen ist nur der Vorwand für eine offensive, auf terri­to­riale Eroberung ausge­rich­tete Militärstrategie.

Es ist nicht das erste Mal, dass die russi­schen Streit­kräfte den Angriffs­krieg gegen Europa üben. 2009 und 2013 lief das jeweilige „Zapad“-Manöver nach sehr ähnlichem Manö­ver­skript ab und endete ebenso mit der Besetzung der Balti­schen Staaten. „Lagoda 2012“ widmete sich der exakten Wieder­ho­lung des Angriffes auf die Balti­schen Staaten und Finnland aus dem Jahr 1939 – nur unter Bedin­gungen des 21. Jahr­hun­derts. „Baltic 2015“ simu­lierte die Inbe­sitz­nahme Aalands, Gotland und Bornholms als Reaktion auf die angeb­liche Unter­stüt­zung skan­di­na­vi­scher Staaten für einen „Maidan“ in Moskau. Das Manöver „Kavkas 2012“ probte den Angriffs­krieg gegen Georgien. „Kavkas 2008“ endete tatsäch­lich mit der mili­tä­ri­schen Inter­ven­tion in diesem Land. Blitzin­spek­tionen „zu Manö­ver­zwe­cken“ im Frühjahr 2014 verschlei­erten die Vorbe­rei­tungen zur Inter­ven­tion in der Ukraine. In diesem Sinne ist es kaum verwun­der­lich, dass „Zapad 2017“ für erhöhte Nervo­sität in Kiew, Riga, Tallin und Warschau führte. Hinzu kommt das Problem der geringen Trans­pa­renz russi­scher Manö­ver­tä­tig­keiten. Offi­zi­elle Manöver der russi­schen Streit­kräfte im euro­päi­schen Teil bleiben stets klein, um sich um die Zulassung von Beob­ach­tern zu drücken. Aller­dings werden parallel zahl­reiche andere Manöver, Blitzin­spek­tionen, und Mobi­li­sie­rungen durch­ge­führt, die in Summe eine weit höhere Zahl übender Truppen ergeben. Diese paral­lelen Übungen erfolgen meistens ohne Anmeldung oder genauere Infor­ma­tionen. Jenseits von Satel­li­ten­auf­klä­rung und elek­tro­ni­scher Über­wa­chung hat der Westen kaum Möglich­keiten sich ein Bild der Lage zu machen. Auch fanden gleich­zeitig zu Zapad 2017 weitere Manöver im Nord­kau­kasus und nahe der ukrai­ni­schen Grenze statt. In West­eu­ropa wird dieser latenten mili­tä­ri­schen Unsi­cher­heit der Staaten in Russlands „naher Nach­bar­schaft“ wenig Aufmerk­sam­keit geschenkt. Gerade in Deutsch­land erfreut sich das Argument, eine mili­tä­ri­sche Konfron­ta­tion Russlands mit der NATO sei für Moskau suizidal und daher auszu­schließen, großer Beliebt­heit. Man verweist gerne darauf, dass die summierten Vertei­di­gungs­bud­gets der NATO (zusammen USD 884,9 Milli­arden) das Russlands (USD 46,6 Milli­arden) bei weitem über­steige.[1] Doch diese Rechnung macht es zu einfach. Ausge­ge­benes Geld sagt noch nichts über vorhan­denes mili­tä­ri­sches Potential aus. Gerade in Europa versi­ckert über­pro­por­tional viel Geld inVer­tei­di­gungs­mi­nis­te­rien, Beschaf­fungs­kom­mis­sionen, Quar­tier­meis­ter­ab­tei­lungen, Mili­tär­aka­de­mien, Planungs­stäben aller 28 Mitglied­staaten – ein büro­kra­ti­scher Überbau, den sich Russland nur einmal leisten muss. Gerade in Europa sind nach dem Kalten Krieg einige Armeen derart klein geschrumpft bzw. jeder seriösen Übungs- und Kampf­fä­hig­keit beraubt, dass für das verfüg­bare Vertei­di­gungs­budget keine ernst­zu­neh­mende mili­tä­ri­sche Leistung erworben wird. Es bleibt ein unifor­mierter Verwal­tungs­ap­parat mit ein paar Rumpf­truppen für innere Assis­tenz­leis­tungen und Tradi­ti­ons­pflege zurück.

Selbst dort, wo für Geld tatsäch­lich auch mili­tä­ri­sche Leistung ange­schafft wird, heißt das noch lange nicht, dass diese auch zu jener Zeit und an jenem Ort abgerufen werden kann, an dem sich eine mili­tä­ri­sche Bedrohung aufbaut.  Der Großteil des mili­tä­ri­schen Poten­tials der NATO liegt in den USA. So es nicht gebunden ist – etwa durch mili­tä­ri­sche Opera­tionen im mittleren Osten oder Bünd­nis­ver­pflich­tungen in Asien – muss es erst über den Atlantik nach Europa verlegt werden. In Europa stehen etwa die Hälfte aller NATO-Land­streit­kräfte unter türki­scher Flagge. Wie sich Ankara im Falle einer mili­tä­ri­schen Konfron­ta­tion mit Russland im Baltikum verhält, ist ange­sichts der sprung­haften Außen­po­litik Erdogans eine offene Frage. Doch selbst wenn Ankara wollte, besitzt es nicht über die Kapazität, mili­tä­ri­sche Kräfte rasch in den Norden Europas zu verlegen. Nach der Türkei unterhält Grie­chen­land die zweit­größten Land­streit­kräfte in Europa – zumindest auf dem Papier.

Das führt zur nächsten Frage: wie hoch ist die Einsatz­be­reit­schaft euro­päi­scher Armeen tatsäch­lich? Russland hat durch zahl­reiche Manöver und Mobi­li­sie­rungs­übungen gezeigt, dass es den Bereit­schafts­grad von etwa 60% seiner Land­streit­kräfte durchwegs halten konnte. Nach Angaben der European Defense Agency waren 2014 etwa 57% der in Land­streit­kräften aller EU Mitglied­staaten ange­stellten Soldaten in verle­gungs­fä­higen Verbänden orga­ni­siert. Aber nur 19% dieser Verbände waren für eine längere Operation geeignet, wobei sich starke Unter­schiede zwischen einzelnen Mitglieds­staaten auftun.

Noch dras­ti­scher wird die Dispa­rität an der Ostflanke der NATO. Im Mili­tär­be­zirk West unterhält Russland 212 Batail­lone an Kampf- und Unter­stüt­zungs­truppen, 261 Kampf­flug­zeuge, über 100 Kampf- und Trans­port­hub­schrauber[1]. In den angren­zenden EU bzw. NATO Staaten Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Norwegen, Polen und Schweden befinden sich zusammen 154 Batail­lone, 314 Kampf­flug­zeuge, 28 Kampf- und 202 Trans­port­hub­schrauber[2], zu denen sich noch drei NATO Batail­lone in den balti­schen Staaten und drei US Batail­lone in Polen gesellen. In den balti­schen Staaten selbst stehen 19 Batail­lonen Kampf- und Unter­stüt­zungs­truppen (zu Hoch­zeiten des Kalten Krieges standen 19 NATO Batail­lone allein in West­berlin, welches flächen­mäßig doch kleiner ist als die drei balti­schen Staaten) sowie acht Kampf­flug­zeuge der NATO Air Policing Mission. Am Schwarzen Meer stehen in Rumänien und Bulgarien zusammen 59 Batail­lone Kampf- und Unter­stüt­zungs­truppen, 75 Kampf­flug­zeuge, sechs Kampf­hub­schrauber und 90 Trans­port­hub­schrauber[3] russi­schen Streit­kräften von[4] 98 Batail­lone Kampf und Unter­stüt­zungs­truppen, 278 Kampf­flug­zeuge, 99 Kampf und über 72 Trans­port­hub­schrauber auf der Krim und im Raum Rostow gegenüber (letztere hätten aller­dings das Schwarze Meer amphi­bisch zu über­winden). Dass sich die unmit­tel­baren Anrai­ner­staaten der Ostflanke technisch nicht auf dem Stand west­eu­ro­päi­scher NATO-Staaten befinden – und schon gar nicht auf dem der USA – , kommt zur nume­ri­schen Unter­le­gen­heit hinzu.

Die bloße Gegen­über­stel­lung von Trup­pen­stärken und Waffen­sys­temen verzerrt das Bild. Die Kapa­zi­täten des Westens verteilen sich eine Vielzahl von auf  Staaten ohne einheit­liche Komman­do­struktur, die nicht alle Mitglied der NATO sind.

Das Baltikum sticht dabei besonders als Achil­les­ferse ins Auge. Die Statio­nie­rung von drei multi­na­tio­nalen Batail­lonen (eines davon unter deutscher Führung) hat zwar das poli­ti­sche Risiko einer mili­tä­ri­schen Eska­la­tion für Moskau erhöht (russische Soldaten müssten nicht nur auf Balten schießen, sondern auch auf Ameri­kaner, Briten, Deutsche und Franzosen), aller­dings ändern sie die mili­tä­ri­schen Kräf­te­ver­hält­nisse im Baltikum nicht maßgeb­lich. Nach inten­siven Plan­spielen und Simu­la­tionen kam etwa die RAND Coope­ra­tion zu der Erkenntnis, dass die NATO die balti­schen Staaten nicht länger als 60 Stunden halten könnte. Die Studie ist durchaus glaubhaft. Sollte es den russi­schen Streit­kräften gelingen, durch ein rasches Absetzen von Luft­lan­de­kräften die neuen multi­la­te­ralen Batail­lone in ihren Kasernen zu binden und diese durch rasche mecha­ni­sierte Vorstöße zu umgehen – wie in Zapad 2017 geübt – könnte Russland im Baltikum die NATO vor voll­endete Tatsachen stellen, bevor deutsche, britische und ameri­ka­ni­sche Truppen in die Gefechte eingreifen konnten.

Im Baltikum – wie auch anderen expo­nierten Stellen der Ostflanke – wäre die NATO im Fall der Fälle auf die rasche Heran­füh­rung von Reserven ange­wiesen. Dabei stellen sich zwei Probleme: das erste ist der Transport selbst. Es fehlt an entspre­chender Planung, an Eisen­bahn­wa­gons zur Verladung von schwerem Gerät, an Koor­di­na­tion zwischen den Bahn­ge­sell­schaften, an Trans­port­flug­zeugen, und in vielen Teilen Europas an Infra­struktur (Entla­de­flug­häfen und Bahnhöfe). Zudem fehlt es mitt­ler­weile an Flie­ger­ab­wehr­ein­heiten, um diese Infra­struktur vor russi­schen Luft- und Rake­ten­schlägen zu schützen. Das zweite Problem ist zeit­li­cher Natur. Die russi­schen Streit­kräfte sind auf eine sehr rasche Verlegung und schnellen Angriff ausgelegt. 2012 forderte der damalige russische Gene­ral­stabs­chef Geras­simov, binnen sieben Tagen nach Alar­mie­rung ein Corps (ca. 30.000 Mann) in einem Opera­ti­ons­ge­biet verfügbar zu haben und nach einem Monat drei Corps (ca. 90.000 Mann). Nach Putins eigenen Angaben fiel der Einsatz­be­fehl zum Einmarsch in der Krim in der Nacht vom 20. zum 21. Februar 2014, am 27. Februar war die Besetzung der Halbinsel im vollen Gange und dafür etwa 25.000 Mann aller Teil­streit­kräfte im Einsatz. Ende März war der russische Aufmarsch an der ukrai­ni­schen Grenze abge­schlossen. Etwa 90.000 russische Soldaten standen einge­teilt in drei operative Manö­ver­gruppen (Corps) an den Grenzen der Ukraine. Addiert man die Beiträge der Truppen des Innen­mi­nis­te­riums und des Minis­te­riums für Kata­stro­phen­schutz zu dem Aufmarsch, steigt die Zahl auf etwa 150.000 Mann. Man hätte Geras­simov 2012 also durchaus ernst nehmen sollen.

Auf der anderen Seite ist die die Speer­spitze der Eingreif­truppe der NATO (5000 Soldaten) nach fünf Tagen verle­gungs­fähig, die gesamte NATO Response Force (45.000 Mann) nach 30 Tagen. Verle­gungs­fähig heißt aller­dings, dass die Soldaten dann geschlossen und kampf­be­reit vor das Kaser­nentor treten – das kann auch in Spanien sein, je nachdem, welche Nation gerade die Response Force stellt. Sie müssten dann erst in den Einsatz­raum verlegt werden und sich dort neu formieren – was je nach Große und geogra­fi­scher Lage eine bis vier Wochen dauert. Zudem ist es unwahr­schein­lich, dass die NATO ihre Respose Force synchron zum russi­schen Aufmarsch mobi­li­siert. Sollte – wie 2008 oder 2014 – Russland seine Mobi­li­sie­rung hinter Manövern verschleiern, würden die oben genannten fünf Tage der schnellen Eingreif­truppe erst am Tag vier oder fünf des russi­schen Aufmar­sches beginnen. Das, was die NATO dann nach 30 Tagen an die Ostflanke schicken kann, ist höchstens geeignet, den russi­schen Angriff zu verlang­samen oder aufzu­halten, nicht aber zurück­zu­schlagen und die besetzten Staaten zu befreien. Dafür müsste die NATO weitere Verbände ihrer Mitglied­staaten mobi­li­sieren, Kräfte aus Übersee nach Europa trans­por­tieren und sich an der Ostflanke neu formieren. Dafür braucht sie sechs Monate Zeit. Erst dann wäre man stark genug, die balti­schen Staaten zurück­zu­ge­winnen. Ob es die poli­ti­sche Bereit­schaft für eine solche mili­tä­ri­sche Kraft­an­stren­gung gäbe, ist fraglich.

Zapad 2017 gibt auch Aufschluss, wie die Russi­schen Streit­kräfte mit dieser Situation umzugehen denken. Wie schon vergan­gene Manöver wurden auch diese von Übungen der russi­schen Rake­ten­truppen bzw. Übungen takti­scher Atom­waf­fen­träger flankiert. Die russische Doktrin des „de-eska­la­tiven Einsatzes von Nukle­ar­waffen“ sieht nach geglückter Angriffs­ope­ra­tion die sofortige Androhung bzw. den demons­tra­tiven Einsatz von Nukle­ar­waffen vor, um den Gegner von einer Rück­ge­win­nung der frisch eroberten Gebiete abzu­schre­cken. Aufgrund der Furcht vor einer weiteren nuklearen Eska­la­tion könnten sich die verblie­benen NATO Staaten dann auf ein „Minsk-Format“ für das Baltikum einigen wollen, das die russische Besetzung des Baltikums zwar nicht anerkennt, aber auch nichts Ernst­haftes unter­nimmt, diese anzu­fechten. So ist zumindest die Kalku­la­tion in Moskau.

Nun würde hier der skep­ti­sche Kommen­tator einhaken, dass eine solches Vorgehen für Russland selbst ökono­misch ruinös wäre, und alleine der dann zu erwar­tende Abbruch der wirt­schaft­li­chen Bezie­hungen zur EU für Moskau schwere wirt­schaft­liche und soziale Folgen hätte. Moskau wäre wohl kaum an ökono­mi­schem Selbst­mord inter­es­siert. Doch diese Einschät­zung betrachtet das Interesse der russi­schen Führung in erster Linie mit euro­päi­schen Augen, nicht mit denen der sowje­ti­schen Silowiki. Der Wohlstand und die soziale Sicher­heit der russi­schen Gesell­schaft stehen nicht an der Spitze der Prio­ri­tä­ten­liste des Kremls. Würde Russland mit der Besetzung der balti­schen Staaten davon­kommen, würde dies die NATO und ihre Glaub­wür­dig­keit voll­kommen zerstören, die Euro­päi­sche Sicher­heits­ord­nung, wie wir sie kannten, endgültig auf den Schei­ter­haufen der Geschichte werfen und Russland kraft seiner nuklearen Mittel zur domi­nanten Macht in einem de-insti­tu­tio­na­li­sierten Europa machen, das sich aus Furcht vor der mili­tä­ri­schen Eska­la­tion nach den Inter­essen Moskaus ausrichten müsste. Man muss ein solches Szenario russi­scher Außen­po­litik zumindest einkal­ku­lieren. Die mili­tä­ri­schen Planungen sind genau darauf ausge­richtet. Je leichter und risi­ko­freier ein mili­tä­ri­scher Über­ra­schungs­coup  zu erreichen scheint, desto höher ist die Wahr­schein­lich­keit, dass aus mili­tä­ri­schen Plan­spielen einmal bitterer Ernst wird. Zum Glück betrach­tete die russische Führung das mit der Einlösung der mili­tä­ri­schen Option verbun­dene Risiko in der Vergan­gen­heit als zu hoch – was wäre, wenn der Westen doch entschlos­sener und wehr­hafter reagiert? Europa hatte in der letzten Dekade auch ein gewisses Quäntchen Glück. Die russische Führung schätzte den Westen stets mili­tä­risch stärker ein, als er eigent­lich war.

Vor diesem Hinter­grund erscheint es als erschre­ckend reali­täts­fremd, die defen­siven Manöver der NATO an der Ostflanke als „Säbel­ras­seln“ abtun. Solche Signale mili­tä­ri­scher Abstinenz sind gerade nicht frie­dens­för­dernd. Sie unter­graben die Glaub­wür­dig­keit des Bünd­nisses und erwecken in Moskau den Eindruck, dass ein Teil der Europäer bereits im vorei­lenden Gehorsam der russi­schen Gewalt­an­dro­hung weichen. Das größte Sicher­heits­ri­siko in dieser Beziehung ist aber der gegen­wär­tige ameri­ka­ni­sche Präsident, der durch launische Tweets und erra­ti­sche Aussagen den größten Schaden an der Glaub­wür­dig­keit trans­at­lan­ti­scher Soli­da­rität anrichtet.

Die Statio­nie­rung von drei multi­na­tio­nalen Batail­lonen im Baltikum und die Verlegung von US Truppen (eine Brigade) nach Osteuropa (derzeit in Polen) ist ein Schritt in die richtige Richtung, wenn es auch an der Gesamt­lage der mili­tä­ri­schen Unter­le­gen­heit der NATO an ihrer Ostflanke wenig ändert. Aber es erhöht das poli­ti­sche Risiko eines mili­tä­ri­schen Aben­teuers und das wiederum erzeugt einen Abschreckungseffekt.Damit ist es aber freilich nicht getan. Die Allianz muss auch über weitere Themen dringend nachdenken:

  1. Eine weitere Verstär­kung der an der Ostflanke statio­nierten Truppen, insbe­son­dere um Flie­ger­ab­wehr und weit­rei­chen­de­Ar­til­lerie. Diese würden den einge­setzten NATO-Verbänden erlauben, unmit­telbar und über größere Distanzen wirksam zu werden. Es wäre dann für die russi­schen Streit­kräfte schwie­riger diese, zu umgehen oder am Eintritt ins Gefecht zu hindern.
  2. Vermehrte, stärkere, und größere Übungen an der Ostflanke,um das Zusam­men­wirken der einzelnen natio­nalen Kompo­nenten unter­ein­ander zu verbes­sern. Ein Ausbau der mili­tä­ri­schen Infra­struktur an der NATO-Ostflanke um Truppen rascher in die Region verlegen zu können.
  3. Eine Auswei­tung der Kompe­tenzen des Alli­ierten Ober­kom­mandos (SHAPE) in Brunssum und gege­be­nen­falls die direkte Unter­stel­lung weiterer Verbände unter das Kommando. Gerade vor dem Hinter­grund der knappen Reak­ti­ons­zeiten wäre es sinnvoll, wenn SHAPE eigen­ständig die Marsch­be­reit­schaft zumindest der NRF anordnen könnte, bzw. die rasche Eingreif­truppe selbst­ständig innerhalb des Bünd­nis­ge­bietes verlegen könnte. Die Vertei­di­gung des Baltikums ist in erster Linie ein Rennen gegen die Zeit. Die Möglich­keit, die Vertei­di­gungs­be­reit­schaft noch vor einem formellen Beschluss des NATO Rates zu erhöhen, gewinnt Zeit und verbaut Moskau die Hoffnung, über obstruk­tive Mitglieder des Bünd­nisses einen Start­vor­teil zu erlangen.
  4. Vertie­fung der gemein­samen Aufklä­rung und Nach­rich­ten­ge­win­nung Richtung Russland, um gefähr­liche Trup­pen­be­we­gungen früh zu erkennen und ein einheit­li­ches Lagebild innerhalb der Allianz herzustellen.
  5. Eine neue Nukle­ar­dok­trin sowie das Üben des nuklearen Ernst­falles, um den nuklearen Einschüch­te­rungs- und Erpres­sungs­ver­su­chen Russlands ein starkes Signal entge­gen­zu­setzen, verbunden mit dem Angebot über den voll­stän­digen Abbau nicht-stra­te­gi­scher Atom­waffen zu verhandeln.

Vor dem Hinter­grund der „2 Prozent“-Debatte entsteht leider ein verzerrtes Bild von Nach­rüs­tung. Gerade die Links­partei wird nicht müde, das Bild einer wett­rüs­tenden und kriegs­lüs­ternen NATO zu zeichnen. Nun besteht in einigen Bereichen tatsäch­lich Nach­rüs­tungs­be­darf. Vor allem müssen jene mili­tä­ri­schen Fähig­keiten, die nach dem Kalten Krieg abgebaut wurden – Trup­pen­flie­ger­ab­wehr, Steil­feu­er­un­ter­stüt­zung zum Beispiel – wieder aufgebaut werden. Der größte Adap­ti­ons­be­darf besteht aber in anderen Bereichen: Einsatz­be­reit­schaften müssen erhöht werden, Reak­ti­ons­zeiten verkürzt; das Zusam­men­wirken aller Teil­streit­kräfte und der Kampf der Verbun­denen Waffen gegen einen eben­bür­tigen Gegner müssen stärker und vermehrt geübt werden. Es geht nicht darum, die derzei­tigen Armeen stark zu vergrö­ßern. Vielmehr müssen jene am Papier vorhan­denen Verbände auch real einsetzbar sein. Auch das kostet Geld. Aber während der finan­zi­elle Nach­hol­be­darf sich in Grenzen hält, ist der Nach­hol­be­darf in den Köpfen poli­ti­scher Entschei­dungs­träger und vor allem in der öffent­li­chen Meinung noch ein erheb­li­cher. Man hält zu sehr fest am Glauben der eigenen Über­le­gen­heit, wie auch am Wunsch­denken, die gegen­wär­tige Bedrohung Europas durch Russland noch durch Dialog und gute Worte aus der Welt schaffen zu können. Das verkennt, dass gegenüber einem Gegner, der auf mili­tä­ri­sche Macht­po­litik setzt, die Fähigkeit zur mili­tä­ri­schen Abschre­ckung immer noch ein unver­zicht­bares Mittel zur Frie­dens­si­che­rung ist.

[1]    Daten und weitere Angaben über mili­tä­ri­sche Kräf­te­ver­hält­nisse sind entnommen: The Inter­na­tional Institute for Strategic Studies, The Military Balance 2017, London;

[2] Im Einzelnen: eine Panzer‑, drei Mot.-Schützen- und drei Luft­lan­de­di­vi­sionen, vier Luft­lan­de­auf­klä­rungs- bzw. Spezi­al­kräf­te­bri­gaden, zwei Panzer‑, sieben Mot.-Schützen‑, zwei Mari­ne­infan­te­rie­bri­gaden, drei Brigaden taktische Rake­ten­truppen, drei Artil­lerie und drei Luft­ver­tei­di­gungs­bri­gaden, sowie ein Marineinfantrieregiment.

[3] Im Einzelnen: eine Panzer­ka­val­lerie- und zwei Mecha­ni­sierte Divi­sionen (alle polnisch), zwei Panzer‑, fünf Mechanisierte‑, eine Marineinfanterie‑, zwei Luftlande‑, 13 Infanterie‑, eine Artillerie‑, und eine Luft­ver­tei­di­gungs­bri­gade, fünf Mach­a­ni­sierte Infantrie‑, zwei Infan­terie, ein Spezialkräfte‑, drei Aufklärungs‑, ein Marineinfanterie‑, drei Luftlande- und drei Artilleriebataillone

[4] Im Einzelnen: sieben Mechanisierte‑, zwei  Infanterie‑, eine Artil­lerie- und zwei Brigaden Fall­schirm­jäger- bzw. Spezi­al­ein­satz­kräfte sowie vier Artil­lerie- und drei Flie­ger­ab­wehr­re­gi­menter, und vier Aufklärungsbataillone

[5]    Im Einzelnen: einer Panzer- und einer Luft­lan­de­di­vi­sion, drei Panzer‑, drei Mechanisierte‑, zwei Marineinfanterie‑, einer Luftsturm‑, zwei Raketen‑, drei Artillerie‑, drei Fliegerabwehr‑, und einer Aufklä­rungs­bri­gade sowie ein Artil­lerie- und ein Flie­ger­ab­wehr­re­gi­ment. Dabei wurden die orts­ge­bun­denen Kräfte des Mili­tär­be­zirks Süd nicht mitbe­rechnet. In Abchasien, Südos­se­tien, Tsche­tsche­nien, und Armenien einge­setzte Truppen könnten selbst im Konfron­ta­ti­ons­fall mit der NATO kaum abgezogen werden, da sie lokale Aufgaben wahrnehmen.

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