UN-Migrationspakt: Völkerrecht auf der Höhe der Zeit
In Deutschland hat die AfD eine Kampagne gegen den UN-Migrationspakt organisiert: Angeblich schaffe er ein Menschenrecht auf Migration. In Wirklichkeit reguliert der Pakt nicht nur Migration – in Zeiten wiedererstarkender nationaler Egoismen stabilisiert er auch die internationalen Beziehungen.
Alle reden vom „Migrationspakt“ – meinen damit aber meistens den Flüchtlingspakt. Der aber steht noch gar nicht zur Verabschiedung an. Im Text des Migrationspaktes wird ausdrücklich auf den Unterschied zwischen Migranten und Flüchtlingen hingewiesen. Der hier in Rede stehende Pakt heißt auch nicht – in Analogie zum „Globalen Pakt für Flüchtlinge“ – „Globaler Pakt für Migranten“, sondern „Globaler Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“. In Wirklichkeit geht es also um die Errichtung eines internationalen Regimes für grenzüberschreitende Wanderungen von Menschen, die nicht Flüchtlinge sind. Tatsächlich ist Migration für die meisten Länder ein nicht so drängendes Problem. Die weitgehende internationale Regellosigkeit ist das eigentliche Problem. Wenn dann noch – wie in Deutschland – die jahrzehntelange innerstaatliche Weigerung hinzukommt, Einwanderung als eine Dimension entwickelter und dynamischer Gesellschaften anzuerkennen und sie gesetzlich zu steuern, dann ist die Gefahr nicht fern, dass sich der durch die unvorbereitete Begegnung mit der Migration ausgelöste gesellschaftliche Stress in Panik verwandelt.
Der Pakt soll zu allererst die Staaten für das Verständnis des internationalen Charakters der Migration sensibilisieren. Er zielt auf die Etablierung eines internationalen Regimes, das die Möglichkeit eines fairen Ausgleichs unter den in diesem sozialen Feld grenzüberschreitend wirkenden Interessen und Akteuren schafft. Dazu gehört auch die schwierige Abgrenzung zwischen legaler und illegaler Migration. In diesem Feld spielen naturgemäß Migranten eine zentrale Rolle. Aber nicht weniger bedeutsam sind die anderen Akteure: die Herkunfts‑, Transit- und Zielländer der Migranten, die in jenen Ländern wirkenden zivilgesellschaftlichen Akteure mit verschiedenartigen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Interessen, internationale Institutionen und schließlich auch Kräfte der internationalen Zivilgesellschaft.
Tunnelblick der internationalen Rücksichtslosigkeit
Nicht rechtlicher Status und subjektive Rechte von Migranten bilden daher den methodischen Ausgangspunkt für das Regelungsziel des Paktes, sondern ein objektives internationales Ordnungsinteresse. Der Pakt ist daher auch nicht als eine internationale Rechteerklärung – oder gar als die Schöpfung eines neuen Menschenrechts auf Migration – zu verstehen. Dennoch ist es sicher kein Zufall, dass das Datum der Verabschiedung des Paktes auf den 10. (und 11.) Dezember 2018 fällt – den Jahrestag der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die UN-Generalversammlung vor siebzig Jahren. Im Text des Paktes wird auf die menschenrechtlichen Quellen immer wieder Bezug genommen. Ohne selbst Quelle eines neuen Migrations-Menschenrechts zu sein, fügt er den Menschenrechten der Migranten allerdings eine gerade für sie besonders wichtige Dimension hinzu: unter der Geltung des Paktes sollen Migranten mit Hilfe einer Schutzverpflichtung der Staaten in die Lage versetzt werden, ihre bereits bestehenden Menschenrechte effektiv auszuüben. Das mag manchen enttäuschen. Aber bietet nicht die Bestimmung der Menschenrechte als notwendiges Element eines funktionierenden internationalen Migrationsregimes einen höheren Schutz als die Deklaration eines neuen Menschenrechts im luftleeren Raum?
Tatsächlich ist es wohl auch die durch den Pakt angestrebte Regularisierung von Migration – ihre Anerkennung als Teil der Normalität einer globalisierten und interdependenten Welt – , die den heftigen Widerstand der Gegner des Paktes ausgelöst hat. Sie weisen die dem Pakt zugrunde liegende Annahme zurück, dass Migration eine Angelegenheit von internationalem Interesse ist. Für sie gilt, was US-Präsident Donald Trump auf der diesjährigen UN-Vollversammlung wie folgt formulierte: „Wir erkennen das Recht jeder Nation in diesem Raum an, ihre eigene Einwanderungspolitik im Einklang mit ihren nationalen Interessen festzulegen, ebenso wie wir andere Länder auffordern, unser Recht darauf zu respektieren“. Gesprochen im Angesicht der unbestreitbaren Tatsache, dass, wie es im Text des Paktes heißt, die weltweite Migration „Gesellschaften innerhalb aller Regionen und über sie hinaus verbindet und alle unsere Länder zu Herkunfts‑, Transit- und Zielländern macht“, repräsentiert dieser Satz den Tunnelblick des wohlhabenden und um sich selbst kreisenden Ziellandes, kurz: den Tunnelblick internationaler Rücksichtslosigkeit. Es ist das, was gemeint ist, wenn es im Votum der österreichischen Regierung gegen den Pakt heißt: „Österreich unterscheidet klar zwischen legaler und illegaler Migration.“ Gemeint ist: Österreich als souveräner Staat legt die Kriterien der Legalität der Migration fest und gedenkt nicht, diese Befugnis mit anderen zu teilen.
Der Irrweg des „America First“
Diese Haltung folgt dem tradierten Konzept souveräner Staatlichkeit, demzufolge die Staaten die Erfordernisse ihrer Sicherheit selbst definieren und ihre Interessen ohne Rücksicht auf Dritte durchsetzen müssen. Dritten gegenüber entstehen nur solche Verpflichtungen, denen der Staat zugestimmt hat. Man bezeichnet dieses Konzept als das Anarchie-Paradigma, da es unterstellt, dass die Staatenwelt mangels einer zentralen Regierungsautorität eine herrschafts- und gesetzlose Gesellschaft sei.
Doch die Welt ist schon lange nicht mehr so, wie es dieses – angeblich realistische – Paradigma unterstellt. Staaten, selbst Großmächte, sind heute stärker denn je mit anderen Staaten und grenzüberschreitend agierenden nicht-staatlichen Akteuren verwoben. Die heutige Tendenz verschiedener Staaten, dem Vorbild des Trumpschen „America First“ nachzueifern und „nationale Interessen“ auf eigene Faust zu verfolgen, führt auf einen Irrweg. Eine große Zahl grenzüberschreitend auftretender Probleme für Sicherheit und Wohlstand der Staaten – wie die Folgen des Klimawandels, der Ressourcenübernutzung und eben auch der globalen Bevölkerungswanderungen – können konstruktiv nur durch internationale Kooperation bearbeitet werden. Die Befriedigung nationaler Interessen ist in grundlegenden Bereichen nur durch internationale Kooperation und die Errichtung inter- und supranationaler Institutionen und Verfahren möglich, durch die ein Interessenausgleich auf übernationaler, zum Teil auch auf globaler Ebene, erfolgreich sein kann.
Darin liegt der Kern eines neuen Paradigmas, das des Globalen Regierens. Wenig überraschend hat in diesem Konzept auch das traditionelle völkerrechtliche Prinzip einer Bindung der Staaten allein aufgrund ihrer Zustimmung eine Abschwächung erfahren. Verschiedene Faktoren – so vornehmlich die im Verlauf der Dekolonisierung erfolgte Ausweitung der Vereinten Nationen um eine beträchtliche Zahl neu entstandener, überwiegend armer Staaten – haben Formen internationaler Kooperation ohne rechtliche Verbindlichkeit hervorgebracht. Als sogenanntes „weiches Recht“ – zum Beispiel satzungsgemäß unverbindliche, jedoch politisch häufig bedeutsame Resolutionen der UN-Generalversammlung – bilden sie eine Grauzone zwischen Recht und Nicht-Recht. Gleichwohl stabilisieren sie die internationalen Beziehungen durch ein auf Vertrauen gegründetes Erwartungsmanagement.
Der Migrationspakt folgt diesem durchaus bewährten Modell der internationalen Beziehungen. Er ist gewiss nicht makellos – schließlich geht es um die Ordnung eines politisch hoch umstrittenen Feldes. Aber gerade deshalb ist er ein Beispiel für aufgeklärte globale Interessenpolitik auf der Höhe der Zeit.
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