Kalt erwischt

© Thomas Bresson

Ein Präsident, der sich vor der Nation für seine Wortwahl entschuldigt: Die Proteste der „Gelbwesten“ erschüttern Frank­reich. Ob Emmanuel Macron mit seiner Fernseh­an­sprache und den angekün­digten Sofort­maß­nahmen zu den tiefer liegenden Ursachen der Wut vordringt, ist offen.

Viel ist in den vergan­genen Wochen über die franzö­sische „Gelbwesten-Bewegung“ geschrieben worden. Den zahlreichen Erklä­rungs­ver­suchen gemein ist die Schwie­rigkeit, den vielfäl­tigen Bestand­teilen der Wut dieser amorphen, sich der Struk­tu­rierung verwei­gernden Protest­be­wegung gerecht zu werden. Ganz offen­sichtlich hat sich da ein explo­sives Gemisch der Enttäu­schungen, Ängste und Erbit­te­rungen über mehrere Jahrzehnte angestaut, das aus mindestens vier Grund­stoffen besteht: einem wirtschaft­lichen und einem sozialen, aber auch einem politi­schen und einem kultu­rellen. Alle gleich­zeitig zu entgiften, wird dem Präsi­denten kaum gelingen.

Dass ein erstaunlich hoher Prozentsatz der Gesamt­be­völ­kerung prinzi­pielle Sympa­thien für die relativ kleine Gruppe der protes­tie­renden „Gelbwesten“ hegt, liegt nicht an typisch franzö­si­scher revolu­tio­närer Romantik, sondern am für fast alle Franzosen nachvoll­zieh­baren Aufhänger des Protests: der jahre­langen Kaufkraft-Stagnation bei gefühltem Anstieg der Lebens­hal­tungs­kosten und ungemin­derter Steuerlast. Wenig verdienen in einem teuren Land – auf Dauer schleicht sich da unwei­gerlich das Gefühl eines unauf­halt­samen wirtschaft­lichen Abstiegs ein. Macron hatte dieses Problem durchaus identi­fi­ziert, aber angesichts der struk­tu­rellen Probleme der franzö­si­schen Wirtschaft stand ihm nicht genug Zeit zur Verfügung, um die angestrebte „Output-Legiti­mation“ zu erreichen. Die Geduld vieler war bereits aufge­braucht, als er sein Amt antrat. Die Gefahr besteht, dass die finan­zi­ellen Trost­pflaster, die er in seiner Ansprache angekündigt hat (und die den Staats-Haushalt schwer belasten werden),  lediglich als Brosamen wahrge­nommen werden. 

Portrait von Albrecht Sonntag

Albrecht Sonntag ist Professor für Europa­studien an der ESSCA Ecole de Management in Angers, Frankreich.

Geographie spielt eine Rolle

Gleich­zeitig stellt die Sorge um die indivi­duelle Kaufkraft erneut die Mutter aller sozialen Fragen: Wie viel Ungleichheit verträgt eine Gesell­schaft? Noch dazu eine, in der die égalité als Grundwert auf allen öffent­lichen Gebäuden einge­meißelt ist. Die Franzosen sind sich natürlich bewusst, dass in der liberalen, kapita­lis­ti­schen Markt­wirt­schaft, zu der sie sich in ihrer großen Mehrheit bekennen, Ungleich­heiten unver­meidlich sind. Aber das Versprechen der Republik, sie im Zaum zu halten und wenigstens teilweise abzumildern, wird trotz eines großzü­gigen Sozial­staats nicht in dem Maße einge­halten wie es der franzö­si­schen Erwartung entspricht.

Oft zitiert wird dieser Tage der Geograph Chris­tophe Guilluy und sein Schlagwort von der abgehängten „France périphé­rique“. Tatsächlich spielt die Geographie eine nicht zu unter­schät­zende Rolle in der Heraus­bildung der Wahrnehmung einer inakzep­tablen Ungleichheit. In den weißen Flecken dieses weiträu­migen Flächen­landes, die nicht mit den wirtschaft­lichen Lokomo­tiven der Ballungs­räume um die dynami­schen, attrak­tiven Regio­nal­me­tro­polen vernetzt sind, in den deindus­tria­li­sierten Städten mittlerer Größe und den kleineren Gemeinden in abgele­genen Gegenden wird der Abbau nicht mehr rentabler öffent­licher Dienste (Postämter, Bahnstrecken, Kranken­häuser usw.) verständ­li­cher­weise als Degra­dierung zu einem Frank­reich zweiter Klasse empfunden.

Der zumutbare Grad sozialer Ungleichheit wurde von Emmanuel Macron ganz offen­sichtlich falsch einge­schätzt (wobei es an Warnungen aus dem eigenen Lager nicht gemangelt hat). Auf die Dynamik bestimmter Metro­polen und Sektoren als Wirtschafts­motor zu setzen, ist legitim. Wenn sich dabei aber das Gefühl festsetzt, der republi­ka­nische Umver­tei­lungs-Pakt sei aufge­kündigt, wird auch eine rasch beschlossene Anhebung des Mindest­lohns dem Zorn über die Chancen­un­gleichheit kaum Einhalt gebieten können. Zumal sich der Eindruck, wonach die privi­le­gierten Eliten aus Wirtschaft, Politik und Medien die Gewinne der Globa­li­sierung absaugen und die Kosten auf die sozial Schwachen abladen, seit der Finanz­krise 2008 noch verstärkt hat. Das vielzi­tierte Schimpfwort vom „Präsident der Reichen“ mag unfair sein, festge­setzt in der öffent­lichen Wahrnehmung hat es sich allemal.

Der Autori­täts­verlust des Präsi­denten wird zelebriert

Genauso ungerecht ist aber auch die Pauschal­ver­ur­teilung der politi­schen Klasse. Wurde doch insbe­sondere die Volks­ver­tretung in der Assemblée Nationale von En Marche! mit Menschen aus der Mitte der Gesell­schaft sehr erfolg­reich und vielver­spre­chend runderneuert. Auch wurde – endlich! – die Zahl und Häufung der Mandate begrenzt und eine Gesund­schrumpfung des Parla­ments (Assemblée und Sénat) in Angriff genommen. Indes, die Glaub­wür­digkeit der reprä­sen­ta­tiven Demokratie war schon nachhaltig beschädigt und die angestrebte Erneuerung des politi­schen Lebens stellte sich innerhalb der Zwangs­jacke der Fünften Republik als schwierig heraus. Auch muss man Macron ankreiden, dass die in der Folge des „großen Marsches“ vom Frühjahr 2016 angedachten neuen Formen der Parti­zi­pation seit Regie­rungs­an­tritt nicht mehr voran­ge­trieben wurden. Statt horizon­taler Grass­roots-Politik gab es eben doch nur verti­kales, techno­kra­ti­sches Durchregieren.

Der von Macron theori­sierte und nach den enttäu­schenden Mandaten von Sarkozy und Hollande durchaus glaubhaft verkör­perte Neustart der Präsidial-Republik gaullis­ti­scher Prägung kommt zu spät. In Zeiten einer fortschrei­tenden Hyste­ri­sierung der öffent­lichen Debatte durch polari­sie­rende soziale Netzwerke und vier (!) konkur­rie­renden TV-Nachrich­ten­sendern wird der Autori­täts­verlust des Präsi­denten geradezu täglich zelebriert.

Immerhin: das Mehrheits­wahl­recht und das Szenario des Präsi­dent­schafts-Wahlkampfes haben – bei allen berech­tigten Bedenken – Frank­reich vor Unregier­barkeit oder gar einer rechts­extrem geführten Regierung bewahrt. Um die Demokratie jedoch nachhaltig zu erneuern und den Wutbürgern in den gelben Westen eine Stimme zu verleihen, muss En Marche! so bald wie möglich innovative Lösungen anbieten. Im Losver­fahren erstellte, reprä­sen­tative „Bürger­kammern“ könnten ein Ansatz sein. Die Stärkung der lokalen Ebene – anders gesagt: mehr Gehör für die Bürger­meister von Seiten der Pariser Exekutive – wäre sicherlich hilfreich. Einfach wird das bei dem von Dogmen einge­ker­kerten, von Grund auf zentra­lis­ti­schen Demokra­tie­ver­ständnis der franzö­si­schen Republik nicht werden.

Das mea culpa kommt zu spät

Dass diese wirtschaft­lichen, sozialen und politi­schen Ursachen der Wut eben auch von einer tiefer liegenden, oft unbewussten, kultu­rellen Proble­matik unter­mauert werden, zeigte sich schon im Frühjahr beim Macht­kampf der Regierung mit den Eisen­bahnern. Es geht gar nicht mehr nur um soziale Ungerech­tigkeit, die es gezielt zu bekämpfen gilt, sondern um funda­mentale Fragen der Würde. Anders als beim Brexit-Referendum oder beim Wahlkampf Trump­scher Prägung hat die Auflehnung der sich als benach­teiligt Empfin­denden zwar keinen anti-intel­lek­tua­lis­ti­schen Anstrich. Aber die Scham­lo­sigkeit, die sich in den Gehältern der Spitzen­ma­nager ausdrückt oder in der Unfähigkeit der politi­schen Klasse, Privi­legien abzubauen und sich auch nur ansatz­weise mehr Beschei­denheit aufzu­er­legen, nähren permanent eine Empörung gegen die als zynische Gering­schätzung empfundene Missachtung für ein Frank­reich, das früh aufsteht, hart arbeitet, und doch nichts vom Wohlstand abkriegt.

Der Präsident, seine Regierung und seine Partei, die ausge­zogen waren, die Franzosen zu versöhnen, wurden von der aufge­stauten Wut der selbst-dekla­rierten working poor der gelben Westen kalt erwischt. Die wirtschaft­lichen und sozialen Missständen mögen ihnen bewusst gewesen sein, aber ob sie den kultu­rellen Unterbau der Demokra­tie­ver­dros­senheit und die Verbit­terung gegenüber ihres­gleichen wirklich verstanden haben, ist fraglich. Immerhin ist selbst Emmanuel Macron mittler­weile klar geworden, dass einige seiner Ausdrucks­weisen nicht nur als abgehoben, sondern als zutiefst demütigend aufge­fasst worden sind. Dass sich ein Präsident im Fernsehen dafür entschuldigt, einige seiner Lands­leute verletzt zu haben, ist ein Novum.

Dennoch darf man befürchten, dass das mea culpa zu spät kommt. Allem Anschein nach ist die Regierung in die Falle der selek­tiven Wahrnehmung geraten, wo alles, was sie sagt und tut, gegen sie ausgelegt wird. So werden beispiels­weise die durchaus fürsorglich gedachten, auf mehr Chancen­gleichheit abzie­lenden Reformen des Abiturs, des Übergangs zur Hochschule und der Verteilung der Studi­en­plätze von den Betrof­fenen als skandalöse Stigma­ti­sierung und Zwei-Klassen-Bildung denun­ziert. Wenn nicht alles täuscht, steht der Regierung bald schon der nächste, ähnlich unbere­chenbare Aufstand ins Haus, bei dem die Ordnungs­kräfte handgreiflich gegen die Jugend des Landes werden vorgehen müssen. Welche Wirkung diese Bilder in den sozialen Netzwerken und auf den TV-Bildschirmen haben werden, lässt sich leicht ausmalen.

Textende

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