On the Road: Malakka weiß es besser
Große Erzählungen über den Aufstieg und Fall von Imperien befriedigen unsere Lust an der Angst. Aber lässt sich die Weltkarte wirklich in ein Auf und Nieder zerteilen? Unser Autor stromert durch die malaysische Hafenstadt Malakka und entdeckt lauter Dinge, die in der Schwebe bleiben – von der Wirkung eines chinesischen Musicals über die Sätze eines Hobby-Historikers bis hin zur Atmosphäre in einem Gay-Club.
Die wenigen westlichen Traveller in Malakka haben nichts bemerkt. Rucksacktouristen auf Tagestour, die die pittoresk restaurierten Spuren portugiesischer, holländischer und britischer Kolonialarchitektur in der malaysischen Stadt bewundern, die vor einem halben Jahrtausend als Hafenmetropole sogar Venedig Konkurrenz gemacht hat. In den lauschigen Cafés entlang des Flusses, der sanft in die berühmte Straße von Malakka strömt, werden halblaut Tipps ausgetauscht: Besser an einem der Wochentage hierher kommen, da an den Wochenenden die „Touris“ aus Singapur das Unesco-Weltkulturerbe der Altstadt überschwemmen, ganz zu schweigen von den Busreisenden aus China. Dann sei kein Durchkommen mehr in den Gassen – so hätten es jedenfalls die „locals“ erzählt.
Dass europäische Reisende, die sich vermutlich als Inkarnation kosmopolitischen Individualismus sehen, Einheimische ganz wie zu Kolonialzeiten lediglich als „locals“ wahrnehmen und trotz allem politisch korrekten Smalltalk in ihrer Blase verbleiben – geschenkt. Viel interessanter nämlich, dass sie sich – am nächsten Tag wieder zurück in der Hauptstadt Kuala Lumpur, um von dort weiter zu jetten – so gar nicht dafür interessieren, was gerade in Malakkas Hafen passiert, der noch bis vor kurzem im Dornröschenschlaf gelegen hat.
Dort wird ein gigantisches Terminal für chinesische Kreuzfahrtschiffe entstehen. Auf aufgeschüttetem Boden sind bereits Appartmentblöcke für Kaufkräftige aus der Volksrepublik hochgezogen worden und in einem gewaltigen, von Pekinger Architekten konzipierten Theaterkomplex wird zweimal täglich ein Musical aufgeführt: „Encore Malakka“ – eine History-Show, die gänzlich ohne europäische Figuren auskommt und die Geschichte der Stadt allein aus chinesischer Perspektive erzählt. Sie handelt von der riesigen Flotte des Seefahrers Zheng He, die im Jahre 1405 in Malakka ankerte. Dann geht sie über zu chinesischen Einwanderern, die als sogenannte „Baba Nyonya“ in der Stadt bald zu wohlhabenden Händlern wurden und deren zu Museen gewordene Stadthäuser noch heute zu bewundern sind. Das Musical erzählt auf einer 240 Meter breiten Bühne und vor einem Publikum, dessen Sitzbereich sich um 360 Grad drehen lässt, aber keine individuellen Stadtbewohner-Geschichten, sondern belässt es bei einem Flutlicht-Spektakel, in dem Tänzer und Tänzerinnen lediglich Angehörige städtischer Berufe darstellen. Eine Art post-mittelalterliches Zünfte-Spiel ohne jegliche persönliche Note.
An dieser Beobachtung aber könnte sich in ein westliches Selbstgespräch entspinnen – über den Diskurs jener unzähligen China-Experten, die uns in immer neuen Büchern Lust an der Angst bereiten: ein wohliges Schaudern angesichts des vermeintlich unaufhaltsamen Aufstiegs Chinas im Großen und en détail, das Ende “unserer Welt“. Die Ironie des Ganzen: Das Genre der Untergangsliteratur, die wortreich vor dem Niedergang des Westens warnt, unterschätzt die subversive Kraft des Individuellen, den unaufhaltsamen Mentalitätswandel im Zuge geopolitischer Veränderungen.
Tatsache nämlich ist, dass gerade junge Chinesen von diesem derart perfekt aufgezogenen Malakka-Musical schwer enttäuscht sind. So gar keine Geschichte fürs Herz, kein verliebtes Paar, das womöglich unterschiedlichen Ethnien entstammt und gegen den Willen ihrer Familien zusammenfindet, nichts davon! So erzählen sie es abends im Hard Rock Cafe, das sich nur einen Steinwurf entfernt vom Islamischen Museum der Stadt befindet und wo zu den Klängen von malaysischem Live-Rock ganz selbstverständlich bis weit nach Mitternacht Alkohol ausgeschenkt wird.
Comrade Meng und Marcel Proust
„Ohne die Chinesen und ihr Interesse an der Stadt würde es vielleicht auch hier viel mehr muslimische Rigidität geben. Immerhin sind Muslime in Malaysia in der Mehrheit und machen die Gesetze. Aber so...“ Der schlaksige ältere Herr, der zur Mittagsstunde um die Reste des portugiesischen Forts streift, beendet den Satz nicht. So wie er – ein passionierter Hobby-Historiker, dessen Eltern 1949 aus Maos China geflohen sind – überhaupt vieles in der Schwebe belässt. „Wenn dann die jungen Leute aus der Volksrepublik bei mir eine Tour buchen und ich Ihnen erzähle, was meine Eltern damals...“ Oder: „Wie sie staunend die eleganten Häuser der eingewanderten Baba Nyonyas durchstreifen und anhand der sepiafarbenen Fotografien ganze Biographien entdecken...“ Oder: „Wie sie da vorn am Fluß ganz ehrfüchtig um dieses 2015 gepflanzte Bäumchen standen, aber sofort zu kichern begannen, als ein zufällig vorbeischlendernder Taiwaner sagte, auf der vor dem Bäumchen ins Erdreich gerammten Steintafel stünde für seinen Geschmack viel zu oft das Wort Committee...“
Mit jenem Bäumchen und der Steintafel aber hat es folgende Bewandnis: Direkt neben einem Gedenkstein zu Ehren von Admiral Zheng Hes Ankunft ist vor drei Jahren ein Bäumchen gepflanzt worden, das – ebenfalls komplett übersehen von den vorbei trottenden westlichen Travellern – an Symbolkraft nicht deutlicher sein könnte. China ist wieder da, lautet die unausgesprochene Botschaft und überbracht wurde sie (laut Steintäfelchem) von einem Genossen namens Meng, Sekretär eines Polit-Komitees beim Zentralkomitee der chinesischen KP. Comrade Meng is watching you! Der Spott des vorbeiflanierenden Taiwaners hat ein befreiendes Gelächter provoziert.
Eine Ausnahme? Oder doch ein lebensweltlicher Beweis dafür, dass die aufsteigenden Chinesen eben keine gehorsame Masse sind, sondern Menschen? Immerhin ist ihrer Präsenz nicht nur dem mühelos verfügbaren Alkohol und der religiösen Vielfalt zu verdanken, sondern noch einem anderen Umstand. Tatsache nämlich ist auch, das es im multi-ethnischen, jedoch mehrheitlich muslimischen Malakka einen Gay-Club gibt, mehr oder minder klandestin in den weitverzweigten Tiefen eines spätabendlich erhellten Antik-Shops. Verzierte Mahagoni-Schränke und Sekretäre, bauchige Porzellanvasen, blindfleckige Standspiegel, Miniatur-Elefanten aus Jade, goldgerahmte Tuschzeichnungen – und inmitten dieser südostasiatischen Marcel-Proust-Atmosphäre ein blauer Plastikkorb, darin penibel auf Kante gestapelte Handtücher. „Dress-code“, sagt lakonisch der vor einem Vorhang sitzende schnurbärtige Zerberus, kassiert 15 Ringit Eintritt (etwas weniger als vier Euro) und reicht neben dem Handtuch ein Schlüsselchen für das Schließfach. Bei fortgesetzter Abwesenheit durchreisender Europäer trifft man dann im hinteren Trakt des Hauses manche der chinesischen Studenten vom Nachmittag wieder, dazu gewitzte junge Inder und muslimische Malaien, die es anscheinend mit ihrer Religion äußerst leger halten und stattdessen Witze reißen über die schöne Rückkehr von Lust und Ausschweifung in der uralten Hafenstadt. Und das völlig unter dem Radar all jener großen Erzählungen von Aufstieg und Fall.
Womöglich weiß Malakka es besser.
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