Identitäre im Bildungsurlaub

© Diego Rivera [Public domain], from Wikimedia Commons

Vor 500 Jahren, im Februar 1519, begann mit der Landung der spani­schen Konquis­ta­doren das Ende des Azteken­reichs – eine Steil­vorlage für Schwär­me­reien rechter Abendland-Schwa­dro­neure und linker Kultur­re­la­ti­visten. Beoach­tungen aus Mexiko-Stadt.

Die Backpacker – getreu der Doktrin, mit teuren Flugti­ckets in ein ärmeres Land zu jetten, um dort möglichst viel Geld zu sparen – waren sich schnell einig: Rund drei Euro für einen Museums­besuch sind schon okay. (Jene in der Gruppe, die nicht aus der Euro-Zone stammten, schafften es blitz­schnell und sogar ohne Blick auf ihre Smart­phones, die mexika­ni­schen Pesos in Pound, kanadische und US-Dollar umzurechnen und ebenfalls Zustimmung zu murmeln.) Schade zwar, dass es keinen günstigen Gruppen­tarif gab, auch keinen Werktag-Discount oder mindestens eine Vormittags-Ermäßigung, aber: Immerhin ist das weiträumige „Museo Nacional de Antro­po­logía“, das Natio­nal­museum für Anthro­po­logie in Mexiko-Stadt, eines der besten der Welt, da kann man ja schon mal... 

Portrait von Marko Martin

Marko Martin ist Schrift­steller und Publizist.

Die junge Frau am Schalter hatte unter­dessen nicht nur ihre Irritation perfekt kaschiert angesichts der lautstarken Westler, die einen Museums­besuch offenbar verwech­selten mit einer Basar-Visite. Dank irgend­einer pädago­gi­schen Direktive gab es für die Gruppe schließlich einen englisch­spra­chigen Guide. Kostenlos? Claro, gratuito! Während der darauf­fol­genden Stunden stieß der Indivi­du­al­be­sucher immer wieder auf jene Weitge­reisten, sah sie mit dem Smart­phone Bilder schießen und sogleich posten, vor allem aber: Hörte ihre Kommentare, mit denen die Erläu­te­rungen der Museums­füh­rerin versehen wurden. Was für eine alte, deshalb großartige Kultur! Aztekische Baumeis­ter­schaft, während „wir“ damals noch auf den Bäumen saßen! Barbaren, die dann im Februar 1519 unter Hernán Cortés heran­ge­stürmt kamen, „um das alles hier kapputt zu machen“.

Die freund­liche junge Frau sagte ein ums andere Mal „Aha“ und “Si, pero...“, bis sie merkte, innerhalb der sich kreuzenden Monologe gar nicht angesprochen gewesen zu sein, worauf sie sich schließlich auf die leise Erklärung der Exponate beschränkte. So begeistert sich die Weitge­reisten aber vor den Vitrinen mit Krieger­ge­stalten gezeigt hatten, so schmal­lippig nahmen sie dann die Erläu­te­rungen zum azteki­schen Opferkult hin: Infor­ma­tionen über die rituellen Hinrich­tungen, die jedes Jahr Zehntau­sende das Leben gekostet hatten, Männer, Frauen und Kinder. Unter Drogen gesetzt, bekamen sie mit Keilmessern die Herzen heraus­ge­schnitten und wurden danach von Pyramiden gestoßen. Oder sie wurden gehäutet, die Haut dann anderen überge­zogen, die nach einer Phase der Anbetung ebenfalls geschlachtet wurden, den furchtbar launi­schen Göttern zur Huldigung.

Erwartbare Sprech­blasen

Die Backpacker schien das nicht weiter zu stören. Wie auch: Es sind schlicht zu viele Museums­ob­jekte, die mit jenen azteki­schen Massen-Opferungen verbunden sind. Die Infor­mation, das Cortés‘ Leute damals vor exakt fünfhundert Jahren auch deshalb so schnell hatten siegen können, weil sich ihnen zahlreiche, von den Azteken unter­drückte Ethnien angeschlossen hatten, drang gar nicht mehr zu ihren Ohren durch. Dabei ist die gegen­wärtige Forschung zu recht stolz darauf, für diese thema­tische Inklusion mittler­weile mehr Dokumente denn je zur Verfügung zu haben: Aus durch­sich­tigen Gründen hatten die mordlüstern-goldsüch­tigen Konquis­ta­doren und Genera­tionen nachfol­gender hagio­gra­phi­scher Histo­riker den Anteil von Indigenen an der spani­schen Eroberung Mexikos geflis­sentlich geleugnet. Eine inter­es­sante Weiterung. Doch die Sprech­blasen der Backpacker verblieben im Erwart­baren: Und die Inqui­si­tition? Und die spani­schen Massaker? Und Hitler? Trumps Mauer? Und die Vernichtung unserer Umwelt? Die Klimakatastrophe?

Nein, es gab keinen Eklat an diesem Vormittag in Mexiko-Stadt. Nur eben jene Gruppe vermutlich univer­sitär sozia­li­sierter junger Leute, die es eher in Ausstel­lungssäle mit Waffen und Vasen, Schmuck­stücken und Krügen zieht, um weiterhin guten Gewissens in Begeis­te­rungsrufe ausbrechen zu können angesichts “dieser Kultur“. Identitäre im Bildungs­urlaub. Denn auch wenn die habituell Progres­siven – ganz offen­sichtlich beein­flusst von der Ideologie der postco­lonial studies – es sich nicht einge­stehen: Ihr ideali­sierend-schema­ti­sches Denken in „Kultur­räumen“ verbindet sie spiegel­bildlich mit den „Christ­liches Abendland“-Schwadroneuren der Neuen Rechten. Das als homogen imagi­nierte „Eigene“ findet seine Entspre­chung im ebenso homogen imagi­nierten „Fremden“.

Nachdenk­liche Linke, die seit Langem einen solch kultu­ra­lis­ti­schen Diskurs kriti­sieren, bieten mitunter eine Art Neo-Marxismus als Antidot feil: Mehr konkrete Herrschafts­analyse! Bei allem emazi­pa­to­ri­schen Impetus drücken sich freilich auch viele von ihnen vor einer entschei­denden Frage: Hat das ebenso mecha­nis­tische Denken in Klassen-Struk­turen und Kollek­tiven nicht erst die Schleusen geöffnet für jenen Kultu­ra­lismus, den wir gerade erleben?

„Jede Kritik muss beginnen mit einer Kritik der Pyramide“

Für Nostal­giker früherer, vermeintlich aufge­klär­terer Jahre: Ein Besuch in Trotzkis einstiger Villa im Vorort Coyoacán lohnt auf jeden Fall. Wobei nicht etwa die Devotio­nalien und die gewiss erschüt­ternden Dokumente stalins­ti­scher Mord- und Rachsucht das Entschei­dende sind, sondern ein hier ebenfalls auslie­gender Text, den Trotzki 1938 verfasst hat, „Ihre Moral und unsere“. Jene Schmäh­schrift gegen „demokra­tische Eunuchen“ ist das ebenso faszi­nie­rende wie irritie­rende Hohelied auf ein deter­mi­nis­ti­sches Block­denken – und eine frühe, unfrei­willig hellsichtige Absage an die tradi­tio­nelle Rechts-Links-Dicho­tomie: „Es ist klar: Revolution und Reaktion, Zarismus und Bolsche­wismus, Kommu­nismus, Stali­nismus und Trotz­kismus – das alles sind Zwillinge. Wer immer daran zweifelt, der mag die symme­tri­schen Beulen auf der rechten wie auf der linken Schädel­hälfte unserer Moralisten nachfühlen.“

Ironie der Geschichte: Es war dann mit Octavio Paz, dem späteren Litera­tur­no­bel­preis­träger, ausge­rechnet ein mexika­ni­scher Moralist, der bewies, welch ethischer und intel­lek­tu­eller Erkennt­nis­gewinn mit dem wagemu­tigen Überschreiten ideolo­gi­scher Klassen und Kulturen verbunden ist. Als unortho­doxer Linker zuerst im Spani­schen Bürger­krieg, dann im Nachkriegs­frank­reich lernte er jene von Trotzki bewun­derten Zwillinge hautnah kennen. Und er lernte den franzö­si­schen Histo­riker und antina­zis­ti­schen Wider­stands­kämpfer David Rousset kennen, der Buchenwald überlebt und 1946 eines der ersten Bücher über die Konzen­tra­ti­ons­lager veröf­fent­licht hatte – und der erste war, der in Frank­reich das Wort „Gulag“ bekannt machte. Roussets Unter­su­chungen über das sowje­tische Lager-System riefen jedoch sofort die franzö­si­schen Kommu­nisten auf den Plan, die ihn mit Verleum­dungen und Denun­zia­tionen überzogen – hate speech, fake news und Shits­torms, avant la lettre. Bei einem Gerichts­prozess 1951 sorgte vor allem die Zeugen­aussage von Margarete Buber-Neumann für Furore, die 1938 im sowje­ti­schen Exil zu Lagerhaft verur­teilt und von Stalin 1940 nach Hitler-Deutschland ausge­liefert worden war, wo sie für weitere fünf Jahre ins KZ Ravens­brück kam.

Octavio Paz bezeichnete später genau diesen Gerichts­prozess als eine der wichtigsten Erfah­rungen seines Lebens. Als profunder Kenner der einhei­mi­schen Zivili­sation schrieb er 1950 mit „Labyrinth der Einsamkeit“ dann jenes Buch über Mexiko, das nach wie vor als intel­lek­tu­elles Standardwerk gilt. Paz‘ berühm­tester Satz liest sich wie ein ewiges Plädoyer für eine Kritik verti­kaler Macht­aus­übung: „Jede Kritik muss beginnen mit einer Kritik der Pyramide.“

Textende

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