Kapitel 2 des Berichts „Sicherheit im Wandel“: Soziale Sicherung

A Father and son in forest on a meadow

Soziale Sicherung und gesell­schaft­liche Teilhabe.

Die Kommission konzen­triert sich im Folgenden vor allem auf Heraus­for­de­rungen, die mit der digitalen Revolution und den abseh­baren Verän­de­rungen der Arbeitswelt einher­gehen sowie auf die Wohnungs­frage, die immer mehr Brisanz gewinnt.

Unser soziales Siche­rungs­system ist auf eine Arbeits­ge­sell­schaft ausge­richtet. Es basiert auf der Voraus­setzung, dass ein großer Teil der erwach­senen Bevöl­kerung erwerbs­tätig ist, sei es als Selbständige oder als Lohnab­hängige. Sozial­leis­tungen (Trans­fer­zah­lungen und öffent­liche Dienst­leis­tungen) finan­zieren sich überwiegend aus Steuern und Abgaben auf Erwerbs­ein­kommen. Sie sollen die eigen­ständige Lebens­führung durch Erwerbs­arbeit nicht ersetzen, sondern sie ergänzen und damit Menschen, die nicht aus eigener Kraft ihren Lebens­un­terhalt bestreiten können, ein menschen­wür­diges Leben ermöglichen.

Dieses Modell gerät unter eine doppelte Heraus­for­derung. Erstens durch den demogra­phi­schen Wandel, der in abseh­barer Zeit zu einer sinkenden Zahl von Erwerbs­tä­tigen führen wird, während zugleich die Zahl und der Anteil der älteren bis hochalt­rigen Menschen steigt. Dieser Trend kann durch Zuwan­derung abgefedert, aber nicht umgekehrt werden – und auch das nur dann, wenn die Integration der Zugewan­derten in Bildungs­system und Arbeits­markt gelingt. Während die Prognosen einer massen­haften Verdrängung mensch­licher Arbeit durch Maschinen die Gemüter bewegen, ist der wachsende Fachkräf­te­mangel auf dem Arbeits­markt bereits Realität. Auf absehbare Zeit dürfte er das größere Problem sein.

Die Antwort auf den demogra­phi­schen Wandel besteht:

a) In der besseren Ausschöpfung des vorhan­denen Erwerbs­po­ten­tials, insbe­sondere einer höheren Betei­ligung von Frauen und Migrant/​innen am Arbeitsmarkt.

b) In einer Flexi­bi­li­sierung des Rentenalters.

c) In der Steigerung der Produk­ti­vität der Arbeit, um eine höhere Wertschöpfung mit einem tenden­ziell sinkenden Arbeits­vo­lumen zu ermög­lichen. Dafür sind massive Inves­ti­tionen in Bildung, beruf­liche Quali­fi­zierung und technische Innovation erforderlich.

Insofern kommt die digitale Revolution als zweite große Heraus­for­derung dem demogra­phi­schen Wandel durchaus entgegen, sofern sie zu einer höheren Arbeits­pro­duk­ti­vität oder sogar zu einer Substi­tution mensch­licher Arbeit durch intel­li­gente Maschinen führt. Damit kann ein tenden­ziell sinkendes Arbeits­kräfte-Potential mögli­cher­weise durch Technik kompen­siert werden. Das gilt insbe­sondere für die Indus­trie­pro­duktion, aber auch zunehmend für den Dienstleistungssektor.

Ob und wieweit die Digita­li­sierung der Arbeit den gesell­schaft­lichen Wohlstand vermehrt und die soziale Teilhabe aller befördert, hängt von techni­schen Dynamiken, ihrer gesell­schaft­lichen Einbettung sowie von politi­schen Weichen­stel­lungen ab, die nur bedingt voraus­sehbar sind. Noch ist nicht klar, ob Digita­li­sierung – wie vergangene Perioden der indus­tri­ellen Revolution – unter dem Strich zu mehr Beschäf­tigung oder zu massiven Verdrän­gungs­ef­fekten führen wird.

Sicher ist nur, dass eine neue Generation selbst­ler­nender Compu­ter­systeme und Roboter zu einer grund­le­genden Verän­derung beruf­licher Quali­fi­ka­tionen sowie zu starken Umbrüchen der Branchen­struktur führen wird. Ganze Berufe werden verschwinden, andere neu entstehen; manche Wirtschafts­zweige werden schrumpfen, andere wachsen. Das erfordert eine aktive Struk­tur­po­litik, die Innovation fördert und Übergänge sozial­ver­träglich gestaltet. Statt das Bestehende möglichst lange zu vertei­digen und gegen den Wandel abzuschotten, sollten wir versuchen, uns an die Spitze der Verän­derung zu setzen.

So oder so ist die digitale Revolution kein schick­sal­haftes Ereignis. Sie kann und muss gestaltet werden, damit ihre negativen Auswir­kungen begrenzt und ihre positiven Poten­tiale verstärkt werden. Das ist nicht nur eine Aufgabe für Parla­mente und Regie­rungen, sondern ebenso für Tarif­partner und zivil­ge­sell­schaft­liche Akteure. Von grund­le­gender Bedeutung ist eine wachsende digitale Kompetenz in allen Bereichen von Politik, Wirtschaft und Gesell­schaft, um mit den techno­lo­gi­schen Verän­de­rungen Schritt halten zu können.

Statt eines radikalen System­wechsels befür­wortet die Kommission eine Moder­ni­sierung des Sozial­staats. Soziale Sicherheit muss auch in einer immer stärker ausdif­fe­ren­zierten Gesell­schaft für alle gewähr­leistet werden. Basis des sozialen Siche­rungs­systems bleibt die Teilhabe an Erwerbs­arbeit. Zugleich müssen Auszeiten besser abgesi­chert werden. Arbeits­zeiten sollten zu den persön­lichen Lebens­um­ständen und zum vorhan­denen Arbeits­auf­kommen passen. Vertei­lungs­ge­rech­tigkeit bezieht sich nicht nur auf die Einkom­mens­ver­teilung. Sie umfasst auch gleiche Zugangs­chancen zu Bildung und Arbeit und einen fairen Ausgleich zwischen Genera­tionen und Geschlechtern.

Unter jungen Leuten sinkt das Zutrauen, dass ihnen das gegen­wärtige Erwerbs­system noch auf Dauer attraktive Beschäf­ti­gungs­mög­lich­keiten, gute Einkommen und auskömm­liche Renten bieten kann. Auf diese Befürchtung muss eine zeitgemäße Arbeits­markt- und Sozial­po­litik reagieren. Neben einer Bildungs- und Weiter­bil­dungs­of­fensive muss eine belastbare Grund­si­cherung im Rahmen des bestehenden Sozial­ver­si­che­rungs­systems gewähr­leistet werden, insbe­sondere bei der Rente und Zeiten beruf­licher Neuori­en­tierung. Sie sollte durch ein steuer­fi­nan­ziertes, zeitlich befris­tetes Grund­ein­kommen für gesell­schaftlich sinnvolle Tätig­keiten ergänzt werden, etwa für Weiterbildung.


Sicherheit im Wandel_​Kapitel 2

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