Demokratie braucht Begeg­nungs­räume im Alltag

Adrian Snood/​Flickr [CC BY-NC 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/)]

Was Republiken auszeichnet, ist das beständige, lustvolle Reden aller mit allen. Doch in den Demokratien der Gegenwart fehlen Begeg­nungs­räume im Alltag, in denen die Vielfalt moderner Gesell­schaften erlebbar wird. Eine Gefahr für den gesell­schaft­lichen Zusam­menhalt! Die LibMod-Exper­ten­kom­mission hat Vorschläge erarbeitet, wie wir das republi­ka­nische Erbe des Westens in Dörfern und Städten, in Vereinen und Schulen lebendig halten.

Wann sind Sie, liebe Leserin, lieber Leser, zum letzten Mal einem Lokführer begegnet? Oder einem Busfahrer, einer Schlach­terin, einer Anwältin, einem Unter­neh­mens­be­rater oder einer Lehrerin? Wenn man sich diese Frage stellt, wird klar, dass man vor allem Menschen begegnet, die einem ähnlich sind. Sozio­lo­gInnen nennen das „Homophilie“.

Homophilie ist ein Problem für die Demokratie. Wir setzen uns im Alltag nicht mit den Sicht­weisen und Lebens­rea­li­täten der anderen Bürge­rInnen ausein­ander, weil wir ihnen kaum begegnen. Eine rein mediale Vermittlung kann eine Begegnung face-to-face nicht ersetzen. Wenn Friseur­ge­sellen nicht ab und zu mit Siemens­ma­na­ge­rinnen reden, verstehen wir einander nicht. 

Portrait von Rainald Manthe

Rainald Manthe ist bei LibMod wissen­schaft­licher Mitar­beiter für Gesellschaftspolitik

Was sind die Ursachen von Homophilie?

Erstens begegnen sich Menschen unter­schied­licher Schichten immer weniger. Eine Studie des Wissen­schafts­zen­trums Berlin zeigt, dass zum Beispiel die Ballung von Menschen mit Trans­fer­leis­tungs­bezug in bestimmten deutschen Städten zunimmt, vor allem im Osten. Arme und Reiche bleiben unter sich. Das führt dazu, dass Kinder unter­schied­licher Schichten seltener neben­ein­ander die Schulbank drücken. Gleiches gilt für Alt und Jung: Auch sie wohnen seltener in räumlicher Nähe zueinander.

Unter­schied­lichkeit ist nicht mehr erfahrbar

Zweitens bricht in struk­tur­schwachen und ländlichen Regionen die Infra­struktur weg. Die Dorfkneipe ist pleite, der Tante-Emma-Läden um die Ecke wird durch einen anonymen Super­markt auf der grünen Wiese ersetzt, auch Hausarzt­praxen, Friseure oder Jugend­clubs verschwinden. Auch hier gehen Begeg­nungs­räume verloren.

Die Austausch über verschiedene Weltsichten findet statt­dessen über soziale Medien statt.

Die Flüch­tigkeit der Begeg­nungen auf Facebook und Twitter lässt einen anders mitein­ander umgehen, als mit Nachbarn, Vereins­ka­me­ra­dinnen oder Schul­freunden, die man wieder­trifft. Auch fehlen die Konflikt­mi­ni­mie­rungs­me­cha­nismen der face-to-face-Inter­aktion. Soziale Medien ersetzen nicht das Gespräch am Küchen­tisch, in der Schule, in der Kneipe oder im Fußball­verein. Vielmehr bilden sich Echokammern oder Filter­blasen, die die eigene Meinung bestärken und die eigene Weltsicht verabsolutieren.

Demokratie hat ein Begegnungsdefizit

Es gibt verschiedene Projekte, etwa der Initiative Offene Gesell­schaft, den Bus der Begegnung und viele mehr, die Begeg­nungen organi­sieren. Sie schaffen außer­all­täg­liche Ereig­nisse, die Unter­schied­lichkeit erlebbar machen. Diffe­renzen werden in face-to-face-Inter­aktion in aushan­delbare Probleme übersetzt. Harald Welzer geht noch einen Schritt weiter und fordert in einer Utopie gar autofreie Innen­städte, um Begegnung zu ermög­lichen. Doch diese Projekte ersetzen nicht die tatsäch­liche Durch­mi­schung im Alltäg­lichen, die es so dringend braucht. Dazu drei Vorschläge, die Begeg­nungen wahrschein­licher machen. Die ersten beiden hat die Exper­tIn­nen­kom­mission „Sicherheit im Wandel“ des Zentrums Liberale Moderne unter­breitet, darüber hinaus erscheint mir ein dritter Vorschlag relevant.

  • Menschen unter­schied­licher Einkom­mens­gruppen müssen neben­ein­ander wohnen. Stadt­ent­wick­lungs­po­litik muss Durch­mi­schung fördern und Segre­gation verhindern. Politik­vor­schläge sind: eine Nutzung kommu­nalen Landes für durch­mischtes Wohnen; die Förderung kommu­naler Wohnungs­bau­un­ter­nehmen und von Genos­sen­schaften; die Bekämpfung von Leerstand und die Förderung Bautä­tig­keiten in Gebieten, die von Zuzug betroffen sind. Wohnen darf nicht zur neuen sozialen Frage werden. Nur wenn unter­schied­liche Menschen sich im Hausflur, auf dem Hof oder in der Straße begegnen, nehmen sie einander wahr. Dann werden auch Schulen wieder zu Begeg­nungs­orten. Kinder wählen ihre Spiel­partner nach Sympathie und nicht nach Eltern­ein­kommen, und beim Eltern­abend oder im Förder­verein kommen auch die Erwach­senen ins Gespräch. Sozio­de­mo­gra­phische Unter­schiede werden zu Unter­schieden zwischen Bekannten mit Gesichtern und Namen.
  • Wo Infra­struk­turen wegfallen, müssen Begeg­nungsorte geschaffen werden, vor allem in struk­tur­schwachen und ländlichen Räumen. Dorfläden, Kneipen, Clubhäuser machen Begeg­nungen wahrschein­licher. Bürger erhalten oder gründen solche Orte eher, wenn der Staat sie unter­stützt. Er kann Gebäude zur Verfügung stellen, oder zum Beispiel bei der gemein­schaft­lichen Restau­rierung eines ländlichen  Herren­hauses Förder­mittel bereit­stellen und bürokra­tische Hürden beisei­te­schaffen. Die Exper­tIn­nen­kom­mission „Sicherheit im Wandel“ geht noch einen Schritt weiter: Schulen sollen zu Gemein­de­zentren ausgebaut werden. Der Schulraum wird dann nach dem Unter­richt weiter genutzt, es können Biblio­theken einge­richtet, Theater­stücke eingeübt und Sport­kurse veran­staltet werden.
  • Einen weiteren Begeg­nungsraum bilden Vereine. Diese gründen auf ehren­amt­lichem Engagement, aber sie brauchen auch gepflegte Sport­plätze, Räume, Orte für Festlich­keiten, Busti­ckets, Büroma­te­rialien und jede Menge Kompe­tenzen, von der Moderation einfacher Sitzungen über Projekt­ma­nagement bis hin zur Antrag­stellung für Förder­mittel. Die Projekt­logik der meisten Bereiche der Zivil­ge­sell­schafts­för­derung treibt zuweilen absurde Spitzen, ehren­amt­liches Engagement ist kompli­zierter geworden. Es braucht aber Vereine, zum Beispiel aus den Bereichen Sport oder Ortskunde, um sich lokal zu begegnen. Dafür braucht es eine stabile Grund­fi­nan­zierung, unbüro­kra­tische Hilfe zur Selbst­hilfe und mittel­fristig die Möglichkeit, ehren­amt­liches Engagement besser mit dem Berufs­leben zu verein­baren. Das kann etwa durch die Anrechnung auf die Rente geschehen, durch staatlich geför­derte Sabba­ticals oder Engage­menturlaub oder durch eine bessere Förderung von Freiwilligendiensten.

Demokratie braucht Begeg­nungs­räume im Alltäg­lichen, in denen Menschen aufein­an­der­treffen, die nicht von allein zusam­men­finden würden. Zur Entstehung solcher Räume beitragen könnte zum Beispiel eine auf Durch­mi­schung ausge­richtete Stadt­ent­wick­lungs­po­litik, die Förderung von Begeg­nungs­in­fra­struk­turen in ländlichen und struk­tur­schwachen Regionen, sowie die Förderung von Vereinen und Engagement. So wird Gesell­schaft in ihrem Facet­ten­reichtum erlebbar, Menschen setzen sich mit anderen Lebens­um­ständen und Ansichten ausein­ander. Das stärkt den Zusam­menhalt, und es stärkt die Demokratie, weil man nebenbei erlernt, die Unter­schied­lichkeit liberaler Gesell­schaften wertzuschätzen.

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