Bürger­forum oder One-Man-Show?

OFFICIAL LEWEB PHOTOS [CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)], via Flickr

Die Bewe­gungs­partei En Marche wird dafür kriti­siert, dass sie durch Macron und seine Vertrauten streng hier­ar­chich geführt werde. Doch LibMod-Autorin Karen Horn wider­spricht: En Marche habe neue Verfahren der Bürger­par­ti­zi­pa­tion entwi­ckelt. Die Partei sei von Anfang an als parti­zi­pa­tive Bewegung konzi­piert gewesen. Wie viel direkte Demo­kratie steckt tatsäch­lich in En Marche?

Der fran­zö­si­sche Präsident Emmanuel Macron krempelt Frank­reich um. Er hat so viele Baustellen aufge­macht, dass es den Gegnern zunächst die Sprache verschlug; erst jetzt ist es der altkom­mu­nis­ti­schen Gewerk­schaft CGT gelungen, Streiks und Proteste gegen Eingriffe in die Besitz­stände des öffent­li­chen Diensts zu orches­trieren. Sie werden abklingen. Nahezu überall, wo es notwendig ist und weh tut, nutzt Macron die breit abge­stützte Legi­ti­mität seines Mandats, um aufzu­räumen – poli­ti­sche Insti­tu­tionen, Arbeits­recht, Sozi­al­ver­si­che­rung, Haus­halts­de­fizit, Steuern, berufs­stän­di­sche Privi­le­gien, Bildung. Er hat Frank­reich auf die geopo­li­ti­sche Landkarte und Europa auf die öffent­liche Agenda zurück­ge­bracht. Nicht alles mag gelingen, nicht alles geht in die richtige Richtung – aber vieles. Wo so viel Wirbel herrscht, muss man sich freilich nicht wundern, dass eine ganz spezielle, sehr ehrgei­zige Reform mehr oder minder unterhalb des Radars verläuft, obwohl gerade sie für die Moder­ni­sie­rung und womöglich gar für den Fort­be­stand der liberalen Demo­kratie generell von größter, weit über Frank­reich hinaus­grei­fender Bedeutung ist: die Einbin­dung und Akti­vie­rung des Bürgers in neuen Formen der demo­kra­ti­schen Partizipation.

Unter Nutzung der Möglich­keiten der sozialen Medien entstanden viel­fäl­tige neue poli­ti­sche Foren, Komitees, Gremien und Arbeits­gruppen, in denen nunmehr alle fran­zö­si­schen Bürger ihre Ideen und Meinungen in einem mode­rierten Prozess einbringen können. 

Es war nicht nur Wahl­taktik, dass Macron seine Plattform „En Marche“, die er im April 2016 ins Leben rief und nach der Präsi­dent­schafts­wahl zu einer Partei umbauen ließ, von Anfang an als parti­zi­pa­tive Bewegung konzi­piert hat. Es war ein intel­li­genter Ansatz, die Poli­tik­ver­dros­sen­heit vieler Menschen zu über­winden, sie aus Schmoll­winkel oder Wutbür­ge­r­ecke heraus­zu­holen. Aus passiven, destruk­tiven, für Popu­lismus anfäl­ligen Quenglern können aktive, konstruk­tive Mitge­stalter werden.

„En même temps“

Unter Nutzung der Möglich­keiten der sozialen Medien entstanden viel­fäl­tige neue poli­ti­sche Foren, Komitees, Gremien und Arbeits­gruppen, in denen nunmehr alle fran­zö­si­schen Bürger ihre Ideen und Meinungen in einem mode­rierten Prozess einbringen können. Dort wird ihr Input gesammelt, disku­tiert, evaluiert, aggre­giert und weiter­ge­leitet. Diese Infra­struktur ist nach der Parla­ments­wahl noch ausge­weitet worden. Hundert­tau­sende Menschen nutzen sie bis heute, auch wenn das Momentum des ersten Aufbruchs nach­ge­lassen hat. Auch manche Erwar­tungen mussten korri­giert werden: Wo Ideen und Meinungen besser als bisher von unten nach oben strömen können, muss die umge­kehrte Fließ­rich­tung deshalb noch lange nicht still­ge­legt sein. „Bottom up“ schafft das hier­ar­chi­sche „Top down“ nicht gänzlich ab und soll das auch gar nicht, sondern es ergänzt es und balan­ciert es aus. Der fran­zö­si­sche Präsident ist zu Recht ein Freund des Verbin­denden und Gleich­zei­tigen („En même temps“). 

Portrait von Karen Horn

Karen Horn ist Dozentin für ökono­mi­sche Ideen­ge­schichte und Wirt­schafts­jour­na­lismus an der Univer­sität Erfurt.

Das parti­zi­pa­tive Modell hat Macron den Partnern in Europa nun ebenfalls nahe­ge­bracht. Bis zu den Wahlen zum Euro­päi­schen Parlament 2019 werden in allen 26 EU-Mitglied­staaten Bürger­kon­vente zu den notwen­digen Reformen der Gemein­schaft statt­finden. Der Gedanke der parti­zi­pa­tiven Demo­kratie ist alles andere als neu, aber mit den Mitteln der digitalen Moderne wird er realis­tisch. Er ist nicht bloß weiße Salbe. Mit einem solchen Ansatz kann es viel­leicht gelingen, zwei der größten Probleme der reprä­sen­ta­tiven Demo­kratie etwas abzu­mil­dern, die sich auf der supra­na­tio­nalen euro­päi­schen Ebene poten­ziert haben: die Bürger­ferne und das Fehlen einer diskur­siven Öffentlichkeit.

Warum Bürger­kon­vente den Parla­men­ta­rismus ergänzen

Das verbrei­tete Unbehagen vieler Menschen an der EU geht auf das zurück, was nicht ganz exakt „Demo­kra­tie­de­fizit“ genannt wird. Die indi­rekten Legi­ti­ma­ti­ons­wege der EU-Instanzen über die natio­nalen Parla­mente sind zwar lückenlos, aber sie werden als lang und abstrakt empfunden. Dies vermögen auch die erwei­terten Mitbe­stim­mungs­rechte des Euro­päi­schen Parla­ments nicht auszu­glei­chen, im Gegenteil werden gerade sie als nationale Souve­rä­ni­täts­ver­luste wahr­ge­nommen. Konvente haben nicht die Würde und Legi­ti­mität eines Parla­ments, aber sie können als Ergänzung hilfreich sein für die Eruierung der Befind­lich­keiten, für das „Brain­stor­ming“, für die Einbin­dung und Akti­vie­rung der Bürger und für das Anstoßen eines Diskurses, selbst über die vielen Landes- und Sprach­grenzen hinweg.

Wie über­ra­schend gut solche Konvente funk­tio­nieren und wie sehr sie beitragen können, Blockaden zu über­winden und Eini­gungen zu erzielen, kann man unter anderem in Irland besich­tigen. Dort gibt es ein Bürger­forum, Nach­folger des 2012 einge­rich­teten Verfas­sungs­kon­vents, mit 100 Mitglie­dern, darunter neben poli­ti­schen Reprä­sen­tanten 66 zufällig, aber reprä­sen­tativ ausge­wählte Bürger. Auf seine Empfeh­lung ging das jüngste Refe­rendum über die Lockerung des Abtrei­bungs­ver­bots zurück. Im Jahr 2015 hatte die Regierung zudem die nach zwei Jahren Diskus­sion beschlos­sene Empfeh­lung des Konvents aufge­nommen, die gleich­ge­schlecht­liche Ehe zu ermög­li­chen, und ebenfalls ein Refe­rendum veran­staltet. Dass die Diskus­sionen, die der Konvent führte und zugleich in der Öffent­lich­keit anstieß, in der katho­li­schen Gesell­schaft des Landes ein Umdenken bewirkt haben, zeigt das positive Ergebnis beider Abstimmungen.

Wie das Beispiel illus­triert, lässt sich die parti­zi­pa­tive Demo­kratie gut mit mehr direkt­de­mo­kra­ti­schen Elementen verbinden. Parti­zi­pa­tive Verfahren sind dafür sogar eine wichtige Voraus­set­zung – nicht nur, weil sie Debatte und Meinungs­bil­dung fördern, sondern auch, weil sie befrie­di­gender sind als die bloße Einbahn­straße der Stimm­ab­gabe. Verfahren der parti­zi­pa­tiven Demo­kratie ermög­li­chen kommu­ni­ka­tives  Feedback in einem inter­ak­tiven Prozess. Wer seine Ideen in eine solche Diskus­sion einbringt, erhält in den entspre­chend orga­ni­sierten und mode­rierten Foren Kommen­tare. Er spricht also nicht ins Leere, sondern er erntet als Person Sicht­bar­keit und dadurch Aufwer­tung. Dem entspringt ein Anreiz, sich ernst­hafte Gedanken zu machen, statt sich bloß in Frus­tra­tion hinein­zu­stei­gern. Parti­zi­pa­tive Verfahren erweisen sich damit auch als segens­reich zur Pflege eines konstruk­tiven Geistes.

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