Netanyahu: Der lange Schatten des Ministerpräsidenten
Die Karriere des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu könnte bald vorbei sein – Justiz und politische Gegner werden ihm immer gefährlicher. Doch auch unter einer neuen Regierung könnte sein Populismus fortleben, meint unser Kolumnist Richard C. Schneider. Noch radikalere Figuren warten auf ihre Chance.
Am Dienstag, den 27. November, kamen einige wenige Tausend Menschen zu einer Demonstration in Tel Aviv zusammen. Es war eine Demonstration gegen den „Coup d’état“, gegen den angeblichen Staatsstreich, den – so Benjamin Netanyahu – Justiz, Polizei und die, natürlich linken, Medien gegen ihn führen. Nachdem Israels Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit Israels Premier wegen Korruption in drei Fällen angeklagt hat, machte der waidwunde Netanyahu genau das, was man von seinesgleichen bereits kennt: Angriff, Angriff, Angriff. Auf den Staat, den er doch eigentlich repräsentieren sollte. Erinnert das irgendwie an Donald Trump, an Polen, Ungarn? In einer öffentlichen Rede unmittelbar nach der Anklage, bediente sich Netanyahu aus dem Repertoire des Populisten. Die Anklageschrift lautete „der Staat gegen Benjamin, Sohn des Benzion Netanyahu.“ Doch Bibi drehte das einfach um: Er, Netanyahu, gegen den Staat. Das war keine Überraschung. Schon in den letzten Jahren wandte sich Israels Premier mehr und mehr gegen die staatlichen Organe, sah überall Verschwörungen gegen ihn, Konspirationen, einen „tiefen Staat“, der ihn vernichten will. Und seine Klientel kaufte ihm dies immer und immer wieder ab.
Netanyahu kämpft schon seit Jahren um sein politisches Überleben, kämpft dagegen an, am Ende einer schillernden, großen Karriere, nicht in den Knast zu müssen. Sollte er durch das Gericht verurteilt werden, drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft. Seit dieses Damoklesschwert über ihm hängt, hat sich der rechte Politiker, der sich um seinen Staat durchaus verdient gemacht hatte, verändert. Er wurde allmählich zum Demagogen, zum Populisten und auch wenn er die extremsten Versuche seiner ultrarechten Koalitionspartner immer wieder unterband, so ließ er es in der letzten Zeit immer wieder zu, dass Gesetzesvorhaben in der Knesset durchgewinkt wurden, die das „checks and balances“ eines demokratischen Staates allmählich aushöhlen sollten, er ließ illiberale Entscheidungen zu, er begann mehrfach einen rassistischen Wahlkampf gegen die arabische Bevölkerung des Staates, jene 20Prozent der Israelis, die keine Juden sind.
Der Staat in Geiselhaft
Seine Wahlkampfsprache wurde extremistischer, brutaler und vor allem: mit immer mehr „Fake News“ versehen. Denn auch Bibi weiß: die Realität, die Fakten, sie spielen in der neuen Brutalität des 21. Jahrhunderts keine Rolle mehr. Und Netanyahu ging sogar soweit, dass er die Nachfolgepartei der faschistischen und vom Obersten Gericht einstmals verbotenen Kach-Partei, einband, er vermittelte eine Verbindung zwischen ihr und einer anderen ultrarechten Partei, aus Angst er könnte bei den letzten Wahlen im September keine Mehrheit bekommen – was ihm dann trotz alledem nicht gelang.
Mit anderen Worten: Netanyahu hat in den letzten Jahren demokratisch-liberale Spielregeln gebrochen, sie niedergetrampelt, um irgendwie seine Haut zu retten.
Noch ist Netanyahu an der Macht und niemand weiß, ob und wann der Mann gehen müssen wird oder ob und wann er freiwillig abdankt. Das israelische Gesetz besagt, dass ein Premierminister unter Anklage erst abtreten muss, wenn er verurteilt worden ist. Das kann sich allerdings über Jahre hinziehen.
Und doch ist jedermann klar, dass das letzte Kapitel des Benjamin Netanyahu eingeläutet ist. Bei der oben erwähnten Demo kamen grade mal fünf- bis achttausend Menschen, die meisten rechten Politiker ließen sich entschuldigen. Ein mageres Ergebnis, wenn man bedenkt, dass Netanyahu hunderttausende Einladung verschickt, dass er alle Likud-Politiker aufgefordert hatte, zu kommen.
Inzwischen gibt es innerhalb seiner eigenen Partei einen Herausforderer, Gideon Saar, der Bibi auffordert zu gehen. Die ersten Risse unter den Loyalen sind zu sehen, doch man darf ein politisches Tier wie Netanyahu nicht zu früh abschreiben. Er ist mit allen Wassern gewaschen, er hat bislang noch immer irgendeinen Trick gefunden, um seine Macht zu erhalten.
Doch sicher ist: er ist angezählt, seine Zeit limitiert. Nur – würde nach seinem Abgang das große Aufatmen beginnen?
Netanyahu prägt die politische Kultur
Das große Problem demokratischer Systeme, die jahrelang unter einem Populisten leiden mussten, ist doch, dass die Folgewirkungen über lange Zeit erhalten bleiben, nachdem der mächtige Mann längst gegangen ist. Das Vertrauen in die staatlichen Organe bleibt erschüttert, die aufrührerische, aggressive Sprache setzt sich weiter fort. Die einstigen Sykophanten und Adlaten, die bleiben und versuchen, die Krümel der Macht aufzusammeln und für sich zu nutzen, sind bereits so „umerzogen“, dass sie einfach so weitermachen und weiterreden werden wie ihr großes Vorbild. Und wenn man sich umschaut, wer im Likud als Nachfolger Bibis bereitsteht, dann wird schnell klar: politisch noch radikalere Figuren warten auf ihre Chance, sicher auch intellektuell kleinere Geister als Bibi. Politiker, die mit Begriffen wie Liberalismus und Demokratie „spielerisch“ umgehen, die bereits so beeinflusst sind von der „Bibi-Doktrin“, dass es schwer sein wird, schnell – wenn überhaupt – zurückzufinden zu einem demokratischen Konsens, in dem es keine Rolle spielt, ob man links oder rechts ist, sondern in dem der moralische und ethische Kompass auf beiden Seiten wieder stimmt, unabhängig von den politischen Anschauungen und Überzeugungen, die man vertritt.
Dämme sind gebrochen, rote Linien überschritten. Das ist ja auch eine der Strategien populistischer Bewegungen, um eine Demokratie allmählich auszuhöhlen. Das war in der Vergangenheit so, das ist auch in der Gegenwart nicht anders, egal, wohin man schaut, ob nach England oder Italien, nach Ungarn oder Polen, nach Österreich oder auch Deutschland. In kleinen Schritten höhlt man den Staat aus, behauptet etwas, nimmt es zurück, entschuldigt sich. Dann, kurze Zeit später, wiederholt man das Gesagte, ein wenig anders, auch ein wenig extremer und mit der Zeit hat sich das Volk, haben sich die Medien, hat sich der Mainstream an einstmals radikale Gedanken gewöhnt. Der Tabubruch ist vollzogen.
Vor allem die USA sollten wegen des bevorstehenden Wahlkampfes die Geschehnisse in Israel aufmerksam verfolgen – aber auch die Deutschen und viele andere Europäer. Denn die Schlammschlacht, die nun blüht, der Kampf des Benjamin Netanyahu die Macht zu bewahren und dabei alle Tricks und Mittel anzuwenden, derer er habhaft werden kann, bis hin zur kompletten Denunziation seiner Gegner und des Staates selbst – das alles kann in westlich-demokratischen Staaten auch geschehen. Jederzeit. Und obwohl man dies weiß, ist man dennoch immer wieder überrascht, weil man sich an ein altes Ordnungs- und Rechtsgefühl festhält, das nicht mehr die Autorität besitzt wie früher, als es noch keine sozialen Medien gab.
Nein, Bibi ist noch lange nicht weg und seine ideologischen Kinder werden versuchen, seinen populistischen Weg weiterzugehen. Auf der Strecke bleiben könnte der demokratische Rechtsstaat. In Israel ebenso wie in den USA, wie in Europa. Israel ist – wie so oft in seiner Geschichte – lediglich der Laborversuch für vieles, was mit kurzer Zeitverschiebung auch nach Europa und Deutschland kommt. Häme ist also nicht angebracht. Höchstens Sorge. Und die Hoffnung, dass die Israelis, ein Volk, das im Prinzip viel weniger führungshörig ist als viele andere, das viel anarchischer ist als etwa die Deutschen, sich letztlich selbst retten kann und den Populisten irgendwann den roten Teppich unter deren Füßen wieder wegziehen wird. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg.
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