Eigentum für alle
Die zunehmende Konzentration privater Vermögen gefährdet die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft. Reichtum bedeutet heute mehr als früher auch Verantwortung für eine gute Zukunft unserer Gesellschaft und unseres Planeten.
„Die Mähre ist mein Eigentum – ich kann mit ihr machen, was ich will!“, ruft ein betrunkener Bauer in Dostojewskis „Schuld und Sühne“, während er unter johlender Zustimmung der Menge auf seine alte Stute einprügelt, bis sie tot umfällt. Seine Saufkumpane beteiligen sich nach Kräften an diesem sadistischen Schauspiel. Nur ein kleiner Junge, der zufällig mit seinem Vater vorbeikommt, hat Mitleid mit der geschundenen Kreatur und will sie schützen.
Eine solche Szene würde heute allgemeine Empörung auslösen und mit einer Verurteilung wegen Tierquälerei enden. Das Eigentum an einer Sache – und erst recht an einem Lebewesen – ist in einer zivilisierten Gesellschaft kein Freibrief, „mit ihr zu machen, was ich will“.
„Eigentum verpflichtet“ ist eine der am meisten zitierten Maximen unseres Grundgesetzes. Genauer lautet der Artikel 14: (1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. – Die Eigentumsgarantie gilt also nicht absolut, sie kann eingeschränkt werden. (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. – Der Gebrauch des Privateigentums soll nicht nur privaten Nutzen stiften, sondern das allgemeine Wohl vermehren – ein schillernder Begriff, der dem Wandel der Zeit unterliegt und politisch ausgehandelt werden muss.
(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. – Damit zieht das Grundgesetz einen klaren Trennungsstrich gegenüber sozialistischen Ideen, die das Eigentum als beliebige Dispositionsmasse der Staatsgewalt oder des Mehrheitswillens betrachten. Eingriffe in das Privateigentum sind an enge Voraussetzungen gebunden und müssen kompensiert werden. Man ist versucht, den Berliner Senat an diesen Passus zu erinnern.
Staatlicher Raubzug des Nationalsozialismus
Die drei Absätze des Artikels 14 bilden eine ziemlich ausbalancierte Trias. Sie grenzt sich sowohl gegenüber einer schranken- und rücksichtslosen Verabsolutierung des Privateigentums ab wie gegenüber dem ungezügelten Zugriff der Politik, der typisch für totalitäre Herrschaftsverhältnisse ist.
Das Grundgesetz antwortet damit auch auf die Erfahrung des Nationalsozialismus, der das Privateigentum der Willkür der Staatsgewalt auslieferte – am extremsten in Gestalt der Enteignung der jüdischen Bevölkerung, die einem staatlichen Raubzug gleichkam. Das Bekenntnis unserer Verfassung zum Privateigentum fällt allerdings deutlich gedämpfter aus als in den klassischen Dokumenten der bürgerlichen Revolutionen im ausgehenden 18. Jahrhundert.
So heißt es in der Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 – dem berühmten Manifest der Französischen Revolution – gleich im Artikel zwei: „Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese sind das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung.“
Wer ist heute noch so kühn, das Recht auf Eigentum zu den unveräußerlichen Menschenrechten zu zählen und in einem Atemzug mit dem Recht auf Freiheit zu nennen? Vermutlich würde man sich damit den Vorwurf einer neoliberalen Verirrung einhandeln.
Für die großen Vordenker der modernen Demokratie – Locke, Montesquieu, Adam Smith – war dieser Zusammenhang evident. Für sie gibt es keine bürgerliche Freiheit ohne das Recht auf Eigentum. Eigentum ist die materielle Basis für die Selbstverantwortung und Autonomie der Bürger. Seine Garantie setzt dem Zugriff des Staates ebenso Grenzen wie der Willkür der Reichen und Mächtigen, die sich nicht einfach nehmen können, was ihnen gefällt. Eigentum ermöglicht Selbst-Sorge, also die eigenverantwortliche Daseinsgestaltung der Einzelnen; es ist eine Prämie auf beruflichen Erfolg und stärkt damit das Leistungsprinzip.
Gleichzeitig sind der Erwerb und die Vermehrung von privatem Eigentum offenkundig an gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden, die erst die freie Entfaltung der Einzelnen ermöglichen. An erster Stelle ist das der Rechtsstaat. Ohne Herrschaft des Rechts gibt es keine Sicherheit des Eigentums.
Auch eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur – Verkehrswege, Kommunikation, Bildung und Wissenschaft – bildet ein Fundament für private Eigentumsbildung. Kurzum: Der Erfolg privater Wirtschaftstätigkeit hängt neben der Eigeninitiative und Tüchtigkeit des Individuums auch von öffentlichen Gütern ab. Schon daraus lässt sich der Zusammenhang zwischen Eigentum und Verantwortung gegenüber dem öffentlichen Wohl begründen.
Schließlich kann Eigentum auf Dauer nur gedeihen, wenn sozialer Friede herrscht. Seine gesellschaftliche Akzeptanz ist daran gebunden, dass es einigermaßen gerecht zugeht. Krasse Gegensätze zwischen Arm und Reich untergraben die Legitimation des Eigentums. Es darf kein Privileg einer kleinen Klasse von Reichen bleiben (oder werden). Insofern sollten sich gerade die Verfechter des Privateigentums über die wachsende Konzentration von Vermögen in der Hand der Oberschicht sorgen.
Nach einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung verfügen fünf Prozent der Bevölkerung über 55 Prozent des Gesamtvermögens. Das Prozent an der Spitze kommt auf gut ein Drittel, die obersten 0,1 Prozent kommen auf stattliche 20 Prozent des Volksvermögens. Das schafft eine strukturelle Unwucht von Chancen und Macht, die mit der sozialen Marktwirtschaft nicht vereinbar ist.
„Wer reich stirbt, stirbt in Schande“
Wer es zu Reichtum gebracht hat, sollte eine gewisse Demut und Dankbarkeit empfinden. Er verdankt seinen Erfolg nicht nur der eigenen Intelligenz und Tatkraft. Ja, in gewissem Grade ist „jeder seines Glückes Schmied“. Aber der unternehmerische Erfolg und der berufliche Aufstieg brauchen auch Fortune und günstige Gelegenheit, gute Mitarbeiter und Förderer. „Wer reich stirbt, stirbt in Schande“ – das schrieb nicht Karl Marx, sondern der amerikanische Stahlmagnat Andrew Carnegie in seinem 1889 veröffentlichten Essay „Das Evangelium des Reichtums“. Konsequenterweise investierte er sein Vermögen in zahlreiche Stiftungen, die bis heute aktiv sind.
Die ungleiche Akkumulation von Vermögen hat sich seit Beginn der Globalisierung und der digitalen Revolution verschärft. Seither ging die Schere zwischen Kapitaleinkommen und Arbeitseinkommen sowie zwischen niedrigen und hohen Gehaltsgruppen wieder auseinander. Gleichzeitig ist die soziale Aufwärtsmobilität in den meisten westlichen Gesellschaften rückläufig. Soziale Herkunft entscheidet wieder stärker als in den 60er- und 70er-Jahren über Bildungserfolg und berufliche Karriere. Eigentum an Unternehmen und Immobilien ist der entscheidende Faktor für die Vermögensbildung, noch vor einer guten Ausbildung und erfolgreichen Berufslaufbahn.
Wer die liberale Eigentumsordnung verteidigen will, muss die Maxime „Eigentum für alle“ verfolgen. Es geht um mehr als die Umwidmung großer Vermögen in gemeinnützige Stiftungen. Soziale Marktwirtschaft baut auf einer breiten Streuung des Eigentums auf. Die deutsche Sozialpolitik ist groß in immer neuen Transferleistungen. Dagegen ist die Förderung von Unternehmertum immer noch ein Randthema, und die steuerlichen Freibeträge für Vermögensanlagen von Arbeitnehmer/innen sind im internationalen Vergleich kümmerlich.
Auch Unternehmen und Gewerkschaften könnten mehr tun, um die Beteiligung von Mitarbeitern am Betriebskapital zu fördern. Hier liegt ein noch kaum ausgeschöpftes Potenzial, um die Kapitalbasis mittelständischer Unternehmen zu verbessern und talentierte Mitarbeiter/innen zu binden.
Ein weiterer Faktor kommt hinzu, der unternehmerisches Eigentum zunehmend unter Legitimationsdruck setzt: Unsere Gesellschaft, vor allem die jüngere, gut ausgebildete Generation, ist moralisch empfindsamer geworden. Fragen globaler Gerechtigkeit, Menschenrechte, faire Arbeitsbedingungen gewinnen an Bedeutung.
Es reicht deshalb nicht aus, wenn Unternehmer einen Teil ihrer Gewinne sozialen oder kulturellen Zwecken widmen. Ihr Geschäftsmodell selbst kommt auf den Prüfstand: Wieweit hält es humanitären und ökologischen Maßstäben stand? Mit dem klassischen Mäzenatentum ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen, wenn es als bloße Ablasszahlung für unternehmerische Skrupellosigkeit erscheint (Beispiel Zigarettenindustrie, industrielle Massentierhaltung, Kohleindustrie).
Der Klimawandel verschärft diesen Trend noch. Verantwortlicher Umgang mit Eigentum muss sich daran messen lassen, ob und welchen Beitrag Unternehmen für Klimaschutz und Biodiversität leisten. Daran hängt die künftige Akzeptanz der Marktwirtschaft. Das ist kein Abgesang auf freies Unternehmertum, im Gegenteil: Es kommt darauf an, Unternehmergeist, Risikobereitschaft und Erfindungsreichtum bei der ökologischen Transformation der Industriegesellschaft zu beweisen.
Private Stiftungen können eine wichtige Rolle als Pioniere für soziale und ökologische Innovationen spielen. Entscheidend ist aber, dass die Unternehmen selbst sich wandeln. Sie müssen mehr Verantwortung für eine gute Zukunft unserer Gesellschaft und unseres Planeten übernehmen. Nur dann werden wir auch unsere freiheitliche Wirtschaftsordnung bewahren können.
Der Artikel erschien zu erst am 22. September 2020 in Die Welt.
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