Holocaust­ge­denken: An die „Shoa durch Kugeln“ erinnern!

Anteeru [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de)] via Wikimedia

Wenn wir am Tag der Befrei­ung von Ausch­witz den Opfern des Holo­causts geden­ken, dürfen wir auch jene von ihnen nicht aus den Augen ver­lie­ren, die in Ost­eu­ropa jen­seits der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger unver­schlei­er­ter Gewalt zum Opfer fielen. Ein Kom­men­tar von Nikolai Klimeniouk.

Am 27. Januar 1945 wurde das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ausch­witz-Bir­kenau von der sowje­ti­schen Armee befreit, 2005 erklärte die UN-Gene­ral­­ver­­­sam­m­lung den 27. Januar zum Inter­na­tio­na­len Tag des Geden­kens an die Opfer des Holo­caust. Die Wahl dieses Datums erscheint nahezu selbst­ver­ständ­lich: Ausch­witz ist längst zum Symbol des Holo­caust gewor­den. Mit seinen Eisen­bahn­ram­pen, Gas­kam­mern und Kre­ma­to­rien, mit den Bergen von Gold­zäh­nen, Haaren und gut sor­tier­ten per­sön­li­chen Gegen­stän­den der Opfer, mit den Säcken voller mensch­li­cher Asche, mit den unvor­stell­bar grau­sa­men medi­zi­ni­schen Expe­ri­men­ten von Josef Mengele steht Ausch­witz für die plan­mä­ßige, indus­tri­ell geführte Ver­nich­tung der euro­päi­schen Juden, für den Mas­sen­mord mit mini­ma­len Kosten und maxi­ma­ler Effizienz.

Genozid durch Kugeln

Das ist alles wahr, doch die Schoah verlief auch ganz anders, beson­ders auf dem Gebiet der dama­li­gen UdSSR und teil­weise in Polen. Dort wurde ein Groß­teil der euro­päi­schen Juden ermor­det, fast eine Million von ihnen noch vor der Wann­see­kon­fe­renz, die im Januar 1942 statt­fand. Wie viele genau es aber waren, ist bis heute nicht bekannt, die sowje­ti­schen Opfer­sta­tis­ti­ken sind noto­risch inak­ku­rat. Schät­zun­gen zufolge befan­den sich auf den besetz­ten Gebie­ten der UdSSR bis zu fünf Mil­lio­nen Juden, sowohl sowje­ti­sche Bürger, als auch geflüch­tete und depor­tierte Bürger Polens und Ungarns; etwa die Hälfte von ihnen könnten den Krieg nicht über­lebt haben. Die Sowjet­union hatte keine sepa­rate Sta­tis­tik der jüdi­schen Opfer, es wurde immer nur von „Sowjet­bür­gern“ gespro­chen. Die Besat­zer haben die Sta­tis­ti­ken auch nicht immer exakt geführt. 

Portrait von Klimeniouk

Nikolai Klime­niouk lebt seit 2014 als freier Autor in Berlin und schreibt für die Frank­furter Allge­meine Sonntags­zeitung, die Neue Zürcher Zeitung und andere deutsche und europäische Medien.

Anders als in West- und Mit­tel­eu­ropa folgte die Ermor­dung der Juden in der UdSSR keinem Plan, die Kosten- und Effi­zi­enz­über­le­gun­gen spiel­ten anfangs über­haupt keine Rolle. In der west­ukrai­ni­schen Klein­stadt Kam­ja­nez-Podils­kyj haben die deut­schen Besat­zer Ende August 1941 23.000 Juden erschos­sen, meis­tens mit Genick­schuss. Das so genannte Mas­sa­ker von Kamenez-Podolsk gilt als die erste große Ver­nich­tungs­ak­tion des Holo­caust. Einen Monat später wurden in der Schlucht Babyn Jar in Kyiw fast 34.000 Juden an nur zwei Tagen erschos­sen. In Odessa haben die rumä­ni­schen Truppen weniger als eine Woche nach der Besat­zung der Stadt circa 25.000 Juden bei leben­di­gem Leib in ehe­ma­li­gen Muni­ti­ons­de­pots der Roten Armee ver­brannt. Die letzten beiden Hin­rich­tungs­stät­ten befan­den sich im Stadt­ge­biet, die jüdi­schen Bürger wurden vor den Augen ihrer Nach­barn ermor­det. Die Über­le­gung, das Morden zu ver­ber­gen, spielte über­haupt keine Rolle. In den vielen kleinen Ghettos in der rumä­ni­schen Provinz Transt­nis­trien ließ man die Juden einfach verhungern.

Holo­caust bestand nicht nur aus indus­tri­ell orga­ni­sier­ter Massenvernichtung

Die sowje­ti­sche Geschichts­schrei­bung lenkte nicht nur von der geziel­ten Ver­nich­tung der Juden ab, sondern spielte auch die Betei­li­gung der Zivil­be­völ­ke­rung und der Armeen der spä­te­ren Satel­li­ten­staa­ten der UdSSR bei diesen Ver­bre­chen her­un­ter. Es gab kaum Gedenk­stät­ten für die jüdi­schen Opfer, die nicht­deut­schen Täter wurden nach Mög­lich­keit gar nicht erwähnt. Diese Geschichts­klit­te­rung grenzte fast schon an Holo­caust­leug­nung und hallt bis heute nach. In der all­ge­mei­nen Wahr­neh­mung der Deut­schen, nicht zuletzt ver­mit­telt durch den Geschichts­un­ter­richt, ist der Holo­caust vor allem indus­tri­ell orga­ni­sierte und durch­ge­führte Mas­sen­ver­nich­tung, der Haupt­tä­ter der natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Staat. Diese Optik lässt nicht so deut­lich erken­nen, welche Rolle bei der Schoah der Anti­se­mi­tis­mus der Bevöl­ke­rung in fast allen euro­päi­schen Ländern spielte, der pure Hass auf Juden oder einfach nur die ver­brei­te­ten Vor­ur­teile, die die Nazis zwar befeu­er­ten, die aber schon lange vor den Nazis exis­tent waren. Eine im Sommer 2018 durch­ge­führte Umfrage zeigte, dass 22 Prozent der Deut­schen der Behaup­tung zustim­men, Juden spiel­ten in der Welt eine zu große Rolle. Die Mas­sen­ver­brei­tung solcher Vor­ur­teile trug zur Krise des euro­päi­schen Juden­tums nicht weniger bei als die Ver­nich­tungs­po­li­tik der NS-Führung.

Deu­tungs­ho­heit über Opfer und Täter

Die heutige rus­si­sche Geschichts­po­li­tik neigt dagegen dazu, die Kol­la­bo­ra­tion der ukrai­ni­schen oder pol­ni­schen Bevöl­ke­rung an den Nazi-Ver­b­re­chen über jedes Maß hinaus her­vor­zu­he­ben. Die Ukraine und Polen werden bis in libe­rale Kreise hinein weniger als Opfer, sondern mehr als Mit­tä­ter von deut­schen Nazi-Ver­b­re­chen dar­ge­stellt. Sehr sym­pto­ma­tisch dafür war die Empö­rungs­kam­pa­gne, die der Kreml am Vor­abend des Jubi­lä­ums der Ausch­witz-Befrei­ung 2015 insze­nierte. Polen, behaup­tete man im Kreml, habe den rus­si­schen Prä­si­den­ten Wla­di­mir Putin aus purer „Russo­pho­bie“ nicht ein­ge­la­den, dabei sei Russ­land doch der recht­mä­ßige Reprä­sen­tant der Sowjet­union, die Ausch­witz befreit habe. Diese Behaup­tung ent­hielt gleich mehrere Unwahr­hei­ten. Die Gedenk­feier war kein Staats­akt; der Ver­an­stal­ter, die Gedenk­stätte Ausch­witz, ver­schickte keine Ein­la­dun­gen zur Teil­nahme, sondern nahm Anmel­dun­gen an, auch von Staats­chefs. Die Sowjet­union hat zwar in der Tat Ausch­witz befreit, doch die Befrei­ung war nicht wirk­lich geplant. Der Kom­man­dant der Einheit, die als erste zum KZ vor­ge­sto­ßen war, Major Ana­to­lij Scha­piro, wusste seinen spä­te­ren Erin­ne­run­gen zufolge nicht einmal von der Exis­tenz des Lagers: Auf den sowje­ti­schen Karten war an jener Stelle nur Wald ein­ge­zeich­net. Die Person des Kom­man­dan­ten sorgte eben­falls für wilde Spe­ku­la­tio­nen. Der jüdi­sche Offi­zier wurde in der Ukraine geboren und ver­brachte dort fast sein ganzes Leben, bis er 1992 in die USA aus­wan­derte. Die Ukraine war bei der Gedenk­feier ver­tre­ten. In der Ukraine wird Scha­piro als Held gefei­ert, 2006 zeich­nete ihn der dama­lige Prä­si­dent Wiktor Juscht­schenko posthum mit dem höchs­ten Orden des Landes aus. In Russ­land unter­stellte man der Ukraine, sie wolle die Leis­tung der gesam­ten UdSSR für sich rekla­mie­ren und so von den Ver­bre­chen der ukrai­ni­schen Natio­na­lis­ten (im rus­si­schen offi­zi­el­len Sprach­ge­brauch „Bandera-Faschis­ten“) ablen­ken. Auch war aus Russ­land zu ver­neh­men, der Staat Polen habe das KZ Ausch­witz gebaut und ernied­rige nun Russ­land durch die Nicht­ein­la­dung des Staats­ober­haup­tes. Diese Aus­ein­an­der­set­zun­gen machen deut­lich, dass der Zweite Welt­krieg offen­bar kein abge­schlos­se­nes Kapitel der Geschichte ist; seine Schre­cken werden heute immer öfter für aktu­elle poli­ti­sche Zwecke instrumentalisiert.

Der Inter­na­tio­nale Gedenk­tag am 27. Januar ist alles andere als eine ritu­elle Trau­er­feier. Wenn wir am Tag der Befrei­ung von Ausch­witz den Opfern des Holo­caust geden­ken, dürfen wir auch jene von ihnen nicht aus den Augen ver­lie­ren, die in Ost­eu­ropa unver­schlei­er­ter Gewalt zum Opfer fielen. Es waren Men­schen, die ihre jüdi­schen Mit­men­schen mor­de­ten, und nicht der seelen- und gesichts­lose Staat. Wir dürfen nicht ver­ges­sen, dass für die Schoah der Anti­se­mi­tis­mus der Euro­päer ebenso ver­ant­wort­lich ist wie die Politik der Nazis. Und dass dieser euro­päi­sche Anti­se­mi­tis­mus alles andere als tot ist.

Textende

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