„Der süßliche Geruch von Menschen­fleisch lag über der Stadt“

Von den etwa sechs Millionen Holocaust-Opfern wurden zwischen 2,2 und 2,5 Millionen in der ehema­ligen Sowjet­union – haupt­säch­lich in der Ukraine ermordet. In einem Essay erinnert die Odesaer Schrift­stel­lerin Jaroslawa Risnykowa an das Massaker, das sich 1941 in ihrer Heimat­stadt ereignete und für das durch Initia­tive des Zentrums Liberale Moderne eine würde­volle Gedenk­stätte geschaffen werden soll.

Am 27. Januar gedenkt die Welt den Opfern des Holocaust, denn 1945 wurden die Häftlinge von Auschwitz befreit. Am 29. September gedenken die Ukraine und die ganze Welt der Opfer, die 1941 von den Nazis in Babyn Jar ermordet wurden. Das Ereignis, das vor genau 80 Jahren am nord­west­li­chen Stadtrand von Kyjiw stattfand, ist als eines der größten Massaker an Zivi­listen während des Zweiten Welt­kriegs in die Geschichte einge­gangen. Zwischen dem 29. September und dem 11. Oktober 1941 tötete die SS fast die gesamte jüdische Bevöl­ke­rung der Stadt – Tausende Männer, Frauen und Kinder. Aber für die Ukraine und die Region Odesa gibt es noch andere schreck­liche Daten und Erinnerungsorte.

Am 16. Oktober 1941 wurde Odesa nach zwei­mo­na­tiger Vertei­di­gung von den Sowjets aufge­geben. Nach der Einnahme der Stadt begannen rumä­ni­schen und deutsche Truppen mit ersten Hinrich­tungen von Zivi­listen. Ab dem 17. Oktober wurden fast 3.000 Kriegs­ge­fan­gene, die nicht mit der Roten Armee evakuiert worden waren, in Artil­le­rie­de­pots am Stadtrand gebracht.

Am 19. Oktober wurde bekannt gegeben, dass mit der „Regis­trie­rung der männ­li­chen Bevöl­ke­rung“ begonnen wurde. Zahl­reiche Zivi­listen, die den Besatzern verdächtig erschienen, etwa weil sie keine Papiere hatten, wurden ebenfalls gefangen genommen.

Rumä­ni­sche Soldaten und Poli­zisten begannen, Juden aus ihren Wohnungen zu vertreiben, Behin­derte und Kranke wurden auf der Stelle getötet. Tausende Juden – Alte, Frauen, Kinder und Jugend­liche, die ihrer Häuser beraubt wurden – zogen durch die Straßen der Stadt. Wie der Geschichts­pro­fessor Saul Borowoj in seinen „Histo­ri­schen Notizen“ berichtet, wurden sie „die Puschkin-Straße entlang zum Bahnhof, weiter die Wodo­pro­wod­naja-Straße entlang, am Friedhof und am Stadt­ge­fängnis vorbei zu den Depots getrieben“.

Am 22. und 23. Oktober 1941 begingen die Nazis ein furcht­bares Verbre­chen: Fast 25.000 Menschen aus Odesa, zumeist jüdischer Herkunft, wurden in den Depots, wo einst Schieß­pulver lagerte, lebendig verbrannt. Wer zu fliehen versuchte, wurden erschossen. Die Depots brannten tagelang, und der süßliche Geruch von verbranntem Menschen­fleisch lag über der Stadt. Viele Hoftore waren bereits mit der Aufschrift „Judenfrei“ versehen. Während­dessen verfügte die rumä­ni­sche Verwal­tung, dass die Stadt ein „normales“ Leben führe. Es gab pompöse Zeitungs­ar­tikel, Theatervorstellungen…

Der Ort des Massakers ist jetzt nicht mehr am Stadtrand, sondern in dicht besie­deltem Gebiet an der Lust­dorf­straße 27. Zwei Denkmäler stehen hier. Das erste wurde unter dem Sowjet­re­gime errichtet, das nicht erlaubte, über den Holocaust an den Juden zu sprechen, und trägt daher die Inschrift: „An diesem Ort wurden am 19. Oktober 1941 etwa 25.000 sowje­ti­sche Bürger bei leben­digem Leibe von faschis­ti­schen Unholden verbrannt.“ Das zweite mit der Inschrift: „Zum Gedenken an die erschos­senen und verbrannten Juden 1941–1944″ wurde zur Zeit der ukrai­ni­schen Unab­hän­gig­keit errichtet.

Nach drei Jahren Vorbe­rei­tungen wurde voriges Jahr mit deutscher Unter­stüt­zung das Projekt einer Gedenk­stätte initiiert, die den symbo­li­schen Namen „Gegen das Vergessen“ tragen wird. Im Wett­be­werb um den besten Projekt­vor­schlag wurde das Projekt von Natalia Golov­chenko und Konstantin Markov aus vier Vorschlägen ausge­wählt. Die Archi­tekten planen, einen Teil der künftigen Gedenk­stätte als Park mit Wegen, Bäumen und Beleuch­tung anzulegen. Auf dem Haupt­ge­lände, wo sich bisher ein Parkplatz befindet, sollen neun Stelen errichtet werden, die die neun Baracken symbo­li­sieren, in denen die Menschen ermordet wurden. Bis Oktober sollen sie aufge­stellt werden.

Die Initia­torin des Projekts, LibMod-Mitgrün­derin Marie­luise Beck hatte erst vor kurzem von der Tragödie des odesi­ti­schen Babyn Jar erfahren und setzt sich seitdem dafür ein, sie einer breiten Öffent­lich­keit bekannt zu machen. Dafür hat sie die Unter­stüt­zung des Auswär­tigen Amts und des Bundes­mi­nis­te­riums für wirt­schaft­liche Zusam­men­ar­beit und Entwick­lung eingeholt.

Die neue Gedenk­stätte soll im Oktober fertig werden

So konnte im Oktober 2021 die Gedenk­feier zum 80. Jahrestag am Ort der Tragödie auf der Lust­dorf­straße abge­halten werden: Während der Feier, an der Dele­ga­tionen aus Deutsch­land, Rumänien und Israel teil­nahmen, hielt Roman Schwarzman, der Vorsit­zende des Vereins jüdischer Über­le­bender, eine bewegende Rede über die schreck­li­chen Ereig­nisse von 1941 und über die Über­le­benden und die Erin­ne­rungs­ar­beit, die hier geleistet wird. Auch gezeigt wurde ein Video, in dem der 2019 gestor­bene Zeitzeuge Mikhail Zaslavskiy, dem 1941 die Flucht aus den Depots gelang, seine Geschichte erzählt.

In der anschlie­ßend versenkten Grund­stein­kapsel steht als Botschaft für künftige Gene­ra­tionen: „Das uner­mess­liche Leid kann nicht geheilt werden, also beugen wir unsere Häupter in Gehorsam und Scham und verpflichten uns zu rufen: nie wieder!

Mit der Zeit verfliegt der Schmerz, Zeugen dieser schreck­li­chen Ereig­nisse verschwinden, Einzel­heiten werden aus dem Gedächtnis gelöscht – aber wir haben kein Recht, die schreck­li­chen Ereig­nisse des Holocaust zu vergessen, in dessen Strudel sowohl Tragödie als auch Heldentum Platz hatten. Wie der ehemalige Auschwitz-Häftling Elie Wiesel, der Schrift­steller, Jour­na­list und 1986 Frie­dens­no­bel­preis­träger wurde, gesagt hat: „Man kann nicht über den Holocaust erzählen, aber man kann auch nicht darüber schweigen“.

 

Die Histo­ri­kerin Jaroslawa Risnykowa arbeitet seit mehr als 25 Jahren in der öffent­li­chen Verwal­tung, derzeit als stell­ver­tre­tende Direk­torin der Abteilung für Kultur, Natio­na­li­täten , Reli­gionen und Kultur­erbe in der Odesaer Gebiets­ver­wal­tung. Sie ist Autorin von mehr als 100 wissen­schaft­li­chen und jour­na­lis­ti­schen Artikeln und Trägerin der G. Skovoroda- und I. Franko-Literaturpreise.

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