Libera­lismus neu denken: Occupy Zukunft – Die Offenheit der Zukünfte verteidigen

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Zukunft hat momentan kaum Konjunktur. Die Zeichen stehen auf Krise und herun­ter­ge­zogene Mundwinkel. Die Feinde der liberalen Demokratie haben in dieser Gemengelage leichtes Spiel, ihre nostal­gische Vorstellung der Vergan­genheit als Zukunfts­entwurf zu verkaufen. Lukas Daubner spricht sich dafür aus, dass die liberalen Kräfte aller Couleur die Zukunft wieder positiv besetzen.

Das Moder­ni­sie­rungs­ver­sprechen war immer: Es wird besser als es zuvor war. Dieses Versprechen hat in den letzten Jahren stark gelitten. Immer weniger Menschen gehen davon aus, dass die Zukunft mehr zu bieten hat als die Vergan­genheit. Und es stimmt ja, die Aussichten sind nicht besonders rosig: Klima­wandel, Pandemie, Rechts­po­pu­lismus, Arten­sterben, Ungleichheit. You name it.

Aber wann war das anders? Schon immer sahen sich Menschen und Gesell­schaften vermeintlich unlös­baren Aufgaben gegenüber: Von der sozialen Frage im 19. Jahrhundert über die Weltkriege oder die Jahrzehnte des Kalten Krieges. Die Aussichten waren selten gut, und trotzdem gab es immer Denker und Prakti­ke­rinnen, die motiviert und zuver­sichtlich in die Zukunft geblickt haben und auf dieser Zuver­sicht ihre politi­schen Programme aufbauten. Davon brauchen wir wieder mehr.

Trotz aller Probleme und Krisen – oder gerade deshalb – muss es das Ziel liberaler Kräfte aller Schat­tie­rungen sein, die liberale Demokratie als positive Zukunfts­er­zählung weiter zu entwi­ckeln; zu erzählen und daran mitzu­wirken, dass sie Wirklichkeit bleibt. Nur aus einer positiven Vorstellung von der Zukunft kann die Kreati­vität und die Dynamik für techno­lo­gische und soziale Lösungen der unter­schied­lichen bestehenden Probleme gefunden werden. Deshalb ist es nötig, die Zukunft wieder positiv zu besetzen.

Die Zukunft der Nostalgie

Illiberal gesinnte Zeitge­nossen haben es einfacher. Anstatt sich die Mühe zu machen, eine glaub­würdige Zukunft zu entwerfen, schwärmen sie von der Vergan­genheit. Die Journa­listin Anne Applebaum beschreibt das, in Anlehnung an die russische Essay­istin Svetlana Boym, als „die Zukunft der Nostalgie“. Sie richten sich in einer ideali­sierten Vergan­genheit ein, die auch die Probleme der Zukunft lösen soll: Weniger Komple­xität, weniger Migration, weniger Frauen in der Öffent­lichkeit, klare geopo­li­tische Verhält­nisse usw. usf. Das Versprechen einfacher Antworten auf kompli­zierte Fragen nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft, verfängt.

Applebaum beschreibt in ihrem Essay Twillight of Democracy an vielen Beispielen aus unter­schied­lichen Ländern, dass die Idee der liberalen Demokratie zunehmend an Anzie­hungs­kraft verliert und größere Teile der Gesell­schaft von ihr abrücken und sich gar feind­selig gegen sie wenden. Das Muster ist überall ähnlich: Das Gefühl von Niedergang und Werte­e­rosion macht sich breit. Es macht Teile der Bevöl­kerung anfällig für populis­tische Heils­ver­sprechen. Online­medien tun ihr übriges.

In privaten sowie öffent­lichen Debatten wird es zunehmend schwie­riger, liberale Ideen und Insti­tu­tionen zu vertei­digen. Selbst­ver­ständ­liches ist nicht mehr selbst­ver­ständlich, Gewiss­heiten werden von Verschwö­rungs­theorien angegriffen. Die liberale Gesell­schaft und ihre Insti­tu­tionen scheinen zunehmend an Überzeu­gungs­kraft zu verlieren. Was im familiären Kontext mögli­cher­weise durch kluge Einla­dungs- oder Sitzord­nungs­po­litik entschärft werden kann, hat für die Gesell­schaft insgesamt weitrei­chende Folgen.

Liberale Kräfte bemühen sich zwar um eine Erneuerung der liberalen Idee (siehe z. B. das LibMod-Dossier Libera­lismus neu denken). Es zeichnet sich aber ab, dass liberale Ideen sich im Abwehr­kampf befinden und nationale sowie chauvi­nis­tische Ideen kulturell raumgreifen: Vertreter von Make America Great Again, Arriba España, Les Français d’abord und ähnliche Konsorten werden auch trotz des Wahlsiegs Joe Bidens präsent und gefährlich bleiben.

Liberale Denker und Politiker stehen vor der Heraus­for­derung, eine legiti­ma­ti­ons­stif­tende Erzählung zu formu­lieren oder die bestehenden Erzäh­lungen zukunfts­tauglich zu machen. Denn die alten Versprechen des Neoli­be­ra­lismus haben sich leerge­laufen, zugleich fehlen legiti­ma­ti­ons­stif­tende Zukunfts­ent­würfe. Benötigt wird daher eine neue Erzählung des Libera­lismus, die sich nicht nur den ökono­mi­schen, sondern auch stärker den kultu­rellen sowie sozialen Dimen­sionen öffnet.

Das Dämmern der liberalen Demokratie

Über die Frage, warum Menschen sich auch dort von der liberalen Gesell­schafts­ordnung abwenden, wo das „System“ überwiegend funktio­niert, und relativer Wohlstand herrscht, wurde in den letzten Jahren viel geschrieben. Die in vielen westlichen Ländern auszu­ma­chende Krise der liberalen Demokratie zeigt, dass „gutes“ Regieren allein nicht mehr ausreicht, um ausrei­chend Legiti­mation für politische Prozesse zu erhalten. Es fehlt vielen Menschen offenbar noch etwas anderes, etwas, das über den gegen­wär­tigen Zustand hinaus geht.

Ein Hinweis darauf, was das sein könnte, nennt der Soziologe Jens Beckert die verspre­chens-orien­tierte Legiti­mation (promise-oriented legitimacy oder promissory legitimacy). Es handelt sich dabei um eine Form von Legiti­mation, die Politiker:innen durch die Glaub­wür­digkeit von Versprechen in Bezug auf zukünftige Ergeb­nisse gewinnen. Bürger:innen müssen es den Entschei­denden – ganz unabhängig vom Status quo – abnehmen, dass sie das Verspro­chene auch Einhalten: Wohlstand mehren, Frieden wahren, Klima­schutz vorantreiben.

Schwä­cheln liberale Demokratien daran, nicht ausrei­chend glaub­würdige Versprechen für die Zukunft zu beschreiben? Klar ist, dass eine techno­kra­tische Alter­na­tiv­lo­sig­keits­se­mantik und das „Weiter-so-wie-gehabt“ keine vielver­spre­chenden Aussichten für eine mittel- oder langfristige Zukunft haben. Dies gilt umso mehr angesichts der multiplen sozialen und ökolo­gi­schen Krisen, die bereits wüten oder sich abzeichnen.

Portrait von Lukas Daubner

Lukas Daubner ist bei LibMod wissen­schaft­licher Mitar­beiter im Bereich Ökolo­gische Moderne

Offenheit gegenüber Zukünften, Klarheit bei Rahmenbedingungen

In privaten sowie öffent­lichen Debatten zeigt sich, wie heraus­for­dernd es ist, Argumenten Geltung zu verleihen, in denen Zukünften die notwendige Kontingenz für eine offene Gestaltung einge­räumt und gleich­zeitig deutlich gemacht wird, warum liberale Insti­tu­tionen vertei­di­genswert sind. Im Wettlauf um die Köpfe und Herzen müssen die Konzepte und Ideen der liberalen Demokratie (be)greifbar werden. Sonst haben abstrakte Konzepte wie (mehr oder weniger) rationale Märkte oder Multi­la­te­ra­lismus wenig zu gewinnen gegen das als heimelig verkaufte Herdfeuer des engstir­nigen und menschen­feind­lichen Nationalismus.

Offenheit gegenüber kultu­rellen sowie techno­lo­gi­schen Entwick­lungen darf nicht verwechselt werden mit einem achsel­zu­ckendem „Weiter-so“. Aber es muss viel gedank­liche und konzep­tio­nelle Arbeit geleistet werden, um das Vertrauen zu festigen, dass die Zukunft viele Lösungen für gegen­wärtige Probleme bereithält – auch solche, von denen wir uns noch keine Vorstel­lungen machen können. Immerhin ist die Zukunft etwas ganz anderes als die lineare Verlän­gerung der Gegenwart. Oft besteht der Impuls, kurzfristige und vielleicht auch kurzsichtige staat­liche Eingriffe zu unter­nehmen, um eine Entwicklung überhaupt lenken zu können. Aller­dings können solche Eingriffe dazu führen, dass bessere Lösungen in der Zukunft nicht mehr zur Verfügung stehen.

Das zeigt sich unter anderem bei der Diskussion über den richtigen Umgang mit dem Klima­wandel. Es gilt eine glaub­würdige und entschiedene Strategie gegen die Klima­krise zu formu­lieren und gleich­zeitig zu vermeiden, in einen einschrän­kenden und, wenn überhaupt, kurzfristig gewinn­brin­genden Öko-Etatismus zu verfallen. Zwar sind schnelle Lösungen nötig. Doch ist es sinnvoll beim Entwi­ckeln von Lösungen, auf die dynami­schen Kreativ­kräfte der Zivil­ge­sell­schaft sowie der Wirtschaft zu setzen. Zugleich sind zum Erreichen einer post-fossilen Gesell­schaft klare staat­liche Rahmen­be­din­gungen und Unter­stüt­zungs­leis­tungen nötig. Der deutsche Kohle­aus­stieg wäre wohl durch den Markt schneller erreicht worden. Eine post-fossile Trans­for­mation der Kohle­re­gionen sowie andere Infra­struk­tur­pro­jekte dagegen benötigen selbst­ver­ständlich staat­liche Hilfen.

Nur auf den Markt zu setzen, wäre genauso töricht, wie alles dem Staat zu überlassen. Der Staat kann viel. Aber er kann nicht die Zukunft vorher­sagen. Anstelle sich immer wieder an der dumpfen Gegen­über­stellung von Markt versus Staat aufzu­reiben, sollte diese Diskussion in Richtung sinnvoller Misch­ver­hält­nisse aufgelöst werden.

Markt, Staat oder was?

Einen Vertrau­ens­vor­schuss der Bürger:innen für die liberale Demokratie und für den zukünf­tigen Erfolg von heutigen Entschei­dungen zu erhalten – das nämlich ist die von Beckert skizzierte verspre­chens-orien­tierte Legiti­mation –, wird nicht durch das Wieder­holen von Leerformeln gewonnen. Auch die stetige Warnung vor illibe­ralen Feinden reicht nicht allein als Legiti­ma­ti­ons­motor. Die oft holzschnitt­artig vorge­tra­genen Konzepte und Begriffe müssen nicht nur mit Leben gefüllt, sondern auch deren Prämissen und deren Relevanz immer wieder erklärt werden: Warum ist Offenheit gut, wieso ist soziale Markt­wirt­schaft kein Selbst­zweck, wo sind die Grenzen des Indivi­dua­lismus und warum sind politische Kompro­misse so wertvoll?

Ein vertrau­ens­stif­tender Libera­lismus sollte Markt und Staat als Steue­rungs­in­stanzen nicht einfach als Gegen­sätze verstehen oder gegen­ein­ander ausspielen. Vielmehr bedarf es gesell­schaft­licher Ausein­an­der­set­zungen darüber, wo der Staat seine Stärken hat und in welchen Bereichen Märkte an ihre Grenzen kommen, wo staat­liches Handeln kontra­pro­duktiv ist und wo Märkte dynamische und effiziente Lösungen ermög­lichen. Genügend empirische Evidenzen als Stoff einer Erzählung über gute Misch­ver­hält­nisse gibt es.

Darüber hinaus könnten weitere Steue­rungs­ar­ran­ge­ments ins Auge gefasst werden, die wie etwa Genos­sen­schaften auf gemein­schaft­liches Handeln abzielen, aber zwischen Markt und Staat angesiedelt sind. Land auf Land ab werden solche Lösungen für unter­schied­liche Probleme erfolg­reich genutzt. Sie können als Binde­glied zwischen globalen Märkten und Natio­nal­staaten dienen. Natürlich gibt es keine objektiv messbaren richtigen Misch­ver­hält­nisse dieser Steue­rungs­ar­ran­ge­ments. Die verschie­denen liberalen Strömungen bewerten sie jeweils unter­schiedlich. Eine offene Ausein­an­der­setzung darüber und politische Antworten, die auf klugen Kombi­na­tionen von Staat, Markt und weiteren Möglich­keiten basieren, können aber politische und kultu­relle Anzie­hungs­kräfte entwickeln.

Anstatt den Niedergang der liberalen Gesell­schaft zu betrauern, sollte der Blick in die Zukunft gerichtet werden. Sonst droht Gefahr, dass der Niedergang als selbst­er­fül­lende Prophe­zeiung, wie es der Soziologe Robert K. Merton formu­lierte, Wirklichkeit wird. Es sind Ideen, die langfristig die Gesell­schaft verändern. Diese neuen Ideen müssen aufge­griffen und verknüpft werden mit den liberalen Idealen. Auf diese Weise könnte eine breite politische Allianz geschaffen werden, in deren Fahrwasser genügend Legiti­mität für gegen­wärtige sowie zukünftige liberale Politik besteht. Der Nostalgie der Vergan­genheit könnte so eine nüchterne, aber zugleich mutige und zuver­sicht­liche Erzählung der Zukunft entge­gen­ge­setzt werden.

 

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