Corona killt Begegnung – und damit ein Stück Demokratie
Die Coronapandemie hat unsere Leben massiv verändert. Das betrifft gerade unsere persönlichen Begegnungen. Sich von Angesicht zu Angesicht zu treffen, ist verdächtig und stark eingeschränkt worden. Das hat auch Folgen für unsere Demokratie, argumentiert LibMod-Referent Rainald Manthe.
Wir werden wieder lernen müssen, einander zu begegnen, denn die Pandemie wird absehbar ein Ende haben. Das gilt im Privaten, wo wir nicht mehr vor Umarmungen zurückschrecken, nicht mehr erschrecken, wenn Menschen in Fernsehserien sich nah kommen, wo wir keine Halbkreise mehr um Passantinnen machen werden. Das gilt aber auch für das Politische, wo Begegnung eine wichtige Rolle spielt.
Die mit der Coronapandemie einhergehenden Einschränkungen haben Nähe verdächtig werden lassen. Das Virus wird durch Nähe übertragen, es kapert die Luft, die wir gemeinsam atmen. Es kapert auch unsere Begegnungen von Angesicht zu Angesicht. Nicht umsonst gelten Kontaktbeschränkungen, Abstand und Lüften als Mittel der Wahl zur Eindämmung der Pandemie. Wenn (!) wir uns treffen, sind nur Masken und gebührender Abstand sicher.
Tête-à-Tête ist das Modell des letzten Jahres geworden: Wenn wir Menschen treffen, dann meist nur einen zugleich. Diese intensive Form der Zweierbegegnung ist in den Vordergrund getreten, zuungunsten von größeren Interaktionsformen.
Tête-à-Tête ist das Modell der Stunde
Das führt im Privaten zu massiven Einschränkungen, zu Deprivation und Müdigkeit. Aber es bedeutet noch mehr, denn Begegnung ist ein essentielles Element dafür, dass unsere Demokratie funktioniert. Denn Demokratie findet nicht nur in Parlamenten, der Zeitung und dem Internet statt, sondern auch am Arbeitsplatz, im Sportverein, der Stammkneipe, der sozialen Bewegung. Vieles davon beruht darauf, dass Menschen auf engem Raum zusammenkommen und die Möglichkeit haben, sich auszutauschen.
Momentan ist unser Blick für das Politische verengt auf Ministerpräsident:innenrunden, Coronaverordnungen, Impfbürokratie. Doch Demokratie ist mehr, und dabei spielt Begegnung eine wichtige Rolle. Um das zu verstehen, müssen wir zuerst verstehen, was so besonders an Begegnung ist.
Interaktion ist eine eigene Sozialform
Soziolog:innen nennen die Sozialform, auf der Begegnung beruht, face-to-face Interaktion oder einfach nur Interaktion. Begegnung basiert darauf, dass man sich so nahe ist, dass man einander als physisch kopräsent wahrnimmt. An dieser Kopräsenz hängt viel: Man teilt denselben Raum, über den man sich kaum noch verständigen muss, man kann beinahe synchron kommunizieren, und man hat das volle Repertoire von Mimik und Gestik zur Unterstützung der Kommunikation zur Verfügung. Gleichzeitig kann man der Kommunikation auch schlecht entgehen, ist aufeinander angewiesen und entwickelt oft einen gewissen „Arbeitskonsens“ der Verständigung, wie es der Soziologe Erwing Goffman nennt. Das lässt Menschen sich in der Kommunikationssituation engagieren und hält Konflikte klein.
Um die Potentiale von Begegnung für Demokratie zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf zivilgesellschaftliche Prozesse. Ein Beispiel dafür sind die Großtreffen sozialer Bewegungen, die Weltsozialforen. Diese Veranstaltungen, die zwischen Universität, Messe und Festival changieren, habe ich im Rahmen einer Studie untersucht. Auf den Weltsozialforen kommen 30.000–40.000 Menschen zusammen, um sich über verschiedene Themen ihrer sozialen Bewegungen auszutauschen, um sich zu vernetzen, um neue Projekte zu planen.
Die Weltsozialforen sind Beispiele für das Potential von Begegnung für Demokratie
Auf den Weltsozialforen zeigt sich sehr deutlich, welchen Wert Begegnung für das Zusammenkommen von Menschen hat. Das liegt auch an einigen Besonderheiten dieser Großkonferenzen: Es kommen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen aus der ganzen Welt zusammen, die verschiedene Sprachen spreche, häufig verschiedene Erwartungen an die Begegnung haben und einige Strapazen auf sich nehmen, um mitzumachen. Interaktion ermöglicht ihnen dann die elementare Organisation von Verständigung: Man organisiert das Sprachverstehen, dessen Mangel sonst zum Abbruch von Kommunikation führen würde, notfalls mit Händen und Füßen; man schafft über viele kleine Mechanismen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und schafft es sogar, die Alternative Welt ein Stück weit Wirklichkeit werden zu lassen, über die man diskutiert. So entsteht schnell mehr als ein Arbeitskonsens, es entstehen Zusammengehörigkeit und Vertrauen, wie sie digital nur sehr vermittelt aufkommen.
Dass ein solches Erlebnis digital schwer zu reproduzieren ist, zeigte die digitale Ausgabe des Weltsozialforums 2021. Auf organisatorischer Ebene war es schwieriger, Veranstaltungen zu finden – das Absuchen von Seminarräumen war digital schlicht nicht möglich. Und auch, wenig erstaunlich, die Dynamik war digital eine andere: weniger interaktiv, weniger bunt, weniger spontan. Wenn man ständig still und heimlich die Veranstaltung verlassen kann, ist der gemeinsamer Arbeitskonsens brüchiger, es entsteht nur schwer ein Gefühl von Zusammengehörigkeit.
Begegnung ist eine Infrastruktur der Demokratie
Diese Erkenntnisse sind wichtig, um den Zusammenhang von Demokratie und Begegnung zu verstehen. Denn dieselben Mechanismen, die sich auf den Weltsozialforen beobachten lassen, gelten auch für andere Situationen. Aber noch einmal systematisch: Neben den Beratungen in Parlamenten und Verwaltungen und öffentlichen Auftritten des politischen Personals wird Demokratie – im Gegensatz zu anderen Staatsformen – grundiert durch eine breite Palette von weiteren Prozessen, wie eben Begegnungen, aber auch andere Infrastrukturen des Politischen.
Für einen Teil dieser Prozesse spielt Begegnung eine maßgebliche Rolle. Dabei gibt es solche, bei denen das Politische explizit ist: Bürger:innenversammlungen, die Beratungen über Bürgerhaushalte, Anhörungen zu Bauprojekten. Und es gibt solche, bei denen Politik gleichsam nebenbei passiert: im Sportverein, in der Kneipe, beim urban gardening, bei der freiwilligen Feuerwehr, im Schulprojekt, in der Nachbarschaftsversammlung. Bei all diesen Gelegenheiten kommen Menschen zusammen, die sonst meist nicht zusammenkommen würden. Hier findet Vieles statt, das demokratierelevant ist: Meinungsbildung, Aushandlung von Interessen, manchmal auch gemeinsame Entscheidungsfindung, das Lernen von Kompromissen, Koalitionsbildung, Konflikt und vieles mehr. Wichtig ist dabei: Dadurch, dass man sich von Angesicht zu Angesicht begegnet, eskalieren Konflikte seltener, werden Aushandlungen seltener abgebrochen, entsteht eher ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und gegenseitiges Vertrauen. Interaktion zügelt die Gemüter – eine Eigenschaft, die es in der Demokratie braucht.
Das alles ist während Corona verkümmert. Wir sitzen vor unseren Bildschirmen, fühlen uns eingesperrt, zum Teil ausgeliefert. Manche wüten gegen die Regierung, viele gegen ein unsichtbares Virus. Aber die wieder zunehmende Verdichtung unserer Begegnungen im Sommer bietet auch Chancen. Bald werden unsere Interaktionsmöglichkeiten wieder zunehmen. Wir werden uns wieder an eine Mimik jenseits der Augenpartie gewöhnen müssen – eine Überforderung nach einem langen Entzug. Wir werden Interaktion nicht nur ein wenig neu lernen müssen, sondern sie vermutlich auch anders zu schätzen wissen.
Was folgt daraus für den Zusammenhang zwischen Demokratie und Begegnung? Nicht alles ist digital ersetzbar, das sollte im vergangenen Jahr deutlich geworden sein. Was mit Abstrichen digital machbar war, wurde umgesetzt. Aber es bleibt Vieles – etwa der Smalltalk am Rande von Sitzungen, das zufällige Kneipengespräch, Kulturveranstaltungen, komplizierte Aushandlungen – das sich besser face-to-face abwickeln lässt. Und trotz rasanter Entwicklungen von Technik und Medienkompetenz scheint das noch eine Weile so zu bleiben.
Politik kann Begegnung fördern und breit zugänglich machen
Die Wertschätzung für Begegnungen sollte sich auch politisch niederschlagen. Denn wo Begegnung möglich ist, kann Politik entstehen. Politik kann Begegnungsorte fördern, etwa soziale Zentren, Dorfkneipen, Vereinsstrukturen – einfach Räume, in denen Menschen zusammenkommen und sich austauschen können. Wichtig ist neben diesen Rahmenbedingungen, dass solche Orte breiten Bevölkerungsschichten zugänglich sind. So kann Demokratie im Alltäglichen grundiert und damit insgesamt stärker, resilienter werden.
Die Studie „Warum treffen sich soziale Bewegungen?“ ist 2020 im Transcript-Verlag erschienen und kostenlos als PDF verfügbar. Ein neues Buch, eine deutsch-US-amerikanische Reportagereise zu Begegnungsorten, ist in Vorbereitung.
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