Corona killt Begegnung – und damit ein Stück Demokratie

Syda Produc­tions, Shutter­stock Inc.

Die Corona­pan­demie hat unsere Leben massiv verändert. Das betrifft gerade unsere persön­lichen Begeg­nungen. Sich von Angesicht zu Angesicht zu treffen, ist verdächtig und stark einge­schränkt worden. Das hat auch Folgen für unsere Demokratie, argumen­tiert LibMod-Referent Rainald Manthe. 

Wir werden wieder lernen müssen, einander zu begegnen, denn die Pandemie wird absehbar ein Ende haben. Das gilt im Privaten, wo wir nicht mehr vor Umarmungen zurück­schrecken, nicht mehr erschrecken, wenn Menschen in Fernseh­serien sich nah kommen, wo wir keine Halbkreise mehr um Passan­tinnen machen werden. Das gilt aber auch für das Politische, wo Begegnung eine wichtige Rolle spielt.

Die mit der Corona­pan­demie einher­ge­henden Einschrän­kungen haben Nähe verdächtig werden lassen. Das Virus wird durch Nähe übertragen, es kapert die Luft, die wir gemeinsam atmen. Es kapert auch unsere Begeg­nungen von Angesicht zu Angesicht. Nicht umsonst gelten Kontakt­be­schrän­kungen, Abstand und Lüften als Mittel der Wahl zur Eindämmung der Pandemie. Wenn (!) wir uns treffen, sind nur Masken und gebüh­render Abstand sicher.

Tête-à-Tête ist das Modell des letzten Jahres geworden: Wenn wir Menschen treffen, dann meist nur einen zugleich. Diese intensive Form der Zweier­be­gegnung ist in den Vorder­grund getreten, zuungunsten von größeren Interaktionsformen.

Tête-à-Tête ist das Modell der Stunde

Das führt im Privaten zu massiven Einschrän­kungen, zu Depri­vation und Müdigkeit. Aber es bedeutet noch mehr, denn Begegnung ist ein essen­ti­elles Element dafür, dass unsere Demokratie funktio­niert. Denn Demokratie findet nicht nur in Parla­menten, der Zeitung und dem Internet statt, sondern auch am Arbeits­platz, im Sport­verein, der Stamm­kneipe, der sozialen Bewegung. Vieles davon beruht darauf, dass Menschen auf engem Raum zusam­men­kommen und die Möglichkeit haben, sich auszutauschen.

Momentan ist unser Blick für das Politische verengt auf Ministerpräsident:innenrunden, Corona­ver­ord­nungen, Impfbü­ro­kratie. Doch Demokratie ist mehr, und dabei spielt Begegnung eine wichtige Rolle. Um das zu verstehen, müssen wir zuerst verstehen, was so besonders an Begegnung ist.

Inter­aktion ist eine eigene Sozialform

Soziolog:innen nennen die Sozialform, auf der Begegnung beruht, face-to-face Inter­aktion oder einfach nur Inter­aktion. Begegnung basiert darauf, dass man sich so nahe ist, dass man einander als physisch kopräsent wahrnimmt. An dieser Kopräsenz hängt viel: Man teilt denselben Raum, über den man sich kaum noch verstän­digen muss, man kann beinahe synchron kommu­ni­zieren, und man hat das volle Reper­toire von Mimik und Gestik zur Unter­stützung der Kommu­ni­kation zur Verfügung. Gleich­zeitig kann man der Kommu­ni­kation auch schlecht entgehen, ist aufein­ander angewiesen und entwi­ckelt oft einen gewissen „Arbeits­konsens“ der Verstän­digung, wie es der Soziologe Erwing Goffman nennt. Das lässt Menschen sich in der Kommu­ni­ka­ti­ons­si­tuation engagieren und hält Konflikte klein.

Um die Poten­tiale von Begegnung für Demokratie zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf zivil­ge­sell­schaft­liche Prozesse. Ein Beispiel dafür sind die Großtreffen sozialer Bewegungen, die Weltso­zi­al­foren. Diese Veran­stal­tungen, die zwischen Univer­sität, Messe und Festival changieren, habe ich im Rahmen einer Studie unter­sucht. Auf den Weltso­zi­al­foren kommen 30.000–40.000 Menschen zusammen, um sich über verschiedene Themen ihrer sozialen Bewegungen auszu­tau­schen, um sich zu vernetzen, um neue Projekte zu planen.

Die Weltso­zi­al­foren sind Beispiele für das Potential von Begegnung für Demokratie

Auf den Weltso­zi­al­foren zeigt sich sehr deutlich, welchen Wert Begegnung für das Zusam­men­kommen von Menschen hat. Das liegt auch an einigen Beson­der­heiten dieser Großkon­fe­renzen: Es kommen Menschen mit unter­schied­lichen Hinter­gründen aus der ganzen Welt zusammen, die verschiedene Sprachen spreche, häufig verschiedene Erwar­tungen an die Begegnung haben und einige Strapazen auf sich nehmen, um mitzu­machen. Inter­aktion ermög­licht ihnen dann die elementare Organi­sation von Verstän­digung: Man organi­siert das Sprach­ver­stehen, dessen Mangel sonst zum Abbruch von Kommu­ni­kation führen würde, notfalls mit Händen und Füßen; man schafft über viele kleine Mecha­nismen ein Gefühl der Zusam­men­ge­hö­rigkeit und schafft es sogar, die Alter­native Welt ein Stück weit Wirklichkeit werden zu lassen, über die man disku­tiert. So entsteht schnell mehr als ein Arbeits­konsens, es entstehen Zusam­men­ge­hö­rigkeit und Vertrauen, wie sie digital nur sehr vermittelt aufkommen.

Dass ein solches Erlebnis digital schwer zu repro­du­zieren ist, zeigte die digitale Ausgabe des Weltso­zi­al­forums 2021. Auf organi­sa­to­ri­scher Ebene war es schwie­riger, Veran­stal­tungen zu finden – das Absuchen von Seminar­räumen war digital schlicht nicht möglich. Und auch, wenig erstaunlich, die Dynamik war digital eine andere: weniger inter­aktiv, weniger bunt, weniger spontan. Wenn man ständig still und heimlich die Veran­staltung verlassen kann, ist der gemein­samer Arbeits­konsens brüchiger, es entsteht nur schwer ein Gefühl von Zusammengehörigkeit.

Begegnung ist eine Infra­struktur der Demokratie

Diese Erkennt­nisse sind wichtig, um den Zusam­menhang von Demokratie und Begegnung zu verstehen. Denn dieselben Mecha­nismen, die sich auf den Weltso­zi­al­foren beobachten lassen, gelten auch für andere Situa­tionen. Aber noch einmal syste­ma­tisch: Neben den Beratungen in Parla­menten und Verwal­tungen und öffent­lichen Auftritten des politi­schen Personals wird Demokratie – im Gegensatz zu anderen Staats­formen – grundiert durch eine breite Palette von weiteren Prozessen, wie eben Begeg­nungen, aber auch andere Infra­struk­turen des Politischen.

Für einen Teil dieser Prozesse spielt Begegnung eine maßgeb­liche Rolle. Dabei gibt es solche, bei denen das Politische explizit ist: Bürger:innenversammlungen, die Beratungen über Bürger­haus­halte, Anhörungen zu Baupro­jekten. Und es gibt solche, bei denen Politik gleichsam nebenbei passiert: im Sport­verein, in der Kneipe, beim urban gardening, bei der freiwil­ligen Feuerwehr, im Schul­projekt, in der Nachbar­schafts­ver­sammlung. Bei all diesen Gelegen­heiten kommen Menschen zusammen, die sonst meist nicht zusam­men­kommen würden. Hier findet Vieles statt, das demokra­tie­re­levant ist: Meinungs­bildung, Aushandlung von Inter­essen, manchmal auch gemeinsame Entschei­dungs­findung, das Lernen von Kompro­missen, Koali­ti­ons­bildung, Konflikt und vieles mehr. Wichtig ist dabei: Dadurch, dass man sich von Angesicht zu Angesicht begegnet, eskalieren Konflikte seltener, werden Aushand­lungen seltener abgebrochen, entsteht eher ein Gefühl der Zusam­men­ge­hö­rigkeit und gegen­sei­tiges Vertrauen. Inter­aktion zügelt die Gemüter – eine Eigen­schaft, die es in der Demokratie braucht.

Das alles ist während Corona verkümmert. Wir sitzen vor unseren Bildschirmen, fühlen uns einge­sperrt, zum Teil ausge­liefert. Manche wüten gegen die Regierung, viele gegen ein unsicht­bares Virus. Aber die wieder zuneh­mende Verdichtung unserer Begeg­nungen im Sommer bietet auch Chancen. Bald werden unsere Inter­ak­ti­ons­mög­lich­keiten wieder zunehmen. Wir werden uns wieder an eine Mimik jenseits der Augen­partie gewöhnen müssen – eine Überfor­derung nach einem langen Entzug. Wir werden Inter­aktion nicht nur ein wenig neu lernen müssen, sondern sie vermutlich auch anders zu schätzen wissen.

Was folgt daraus für den Zusam­menhang zwischen Demokratie und Begegnung? Nicht alles ist digital ersetzbar, das sollte im vergan­genen Jahr deutlich geworden sein. Was mit Abstrichen digital machbar war, wurde umgesetzt. Aber es bleibt Vieles – etwa der Smalltalk am Rande von Sitzungen, das zufällige Kneipen­ge­spräch, Kultur­ver­an­stal­tungen, kompli­zierte Aushand­lungen – das sich besser face-to-face abwickeln lässt. Und trotz rasanter Entwick­lungen von Technik und Medien­kom­petenz scheint das noch eine Weile so zu bleiben.

Politik kann Begegnung fördern und breit zugänglich machen

Die Wertschätzung für Begeg­nungen sollte sich auch politisch nieder­schlagen. Denn wo Begegnung möglich ist, kann Politik entstehen. Politik kann Begeg­nungsorte fördern, etwa soziale Zentren, Dorfkneipen, Vereins­struk­turen – einfach Räume, in denen Menschen zusam­men­kommen und sich austau­schen können. Wichtig ist neben diesen Rahmen­be­din­gungen, dass solche Orte breiten Bevöl­ke­rungs­schichten zugänglich sind. So kann Demokratie im Alltäg­lichen grundiert und damit insgesamt stärker, resili­enter werden.

 

Die Studie „Warum treffen sich soziale Bewegungen?“ ist 2020 im Transcript-Verlag erschienen und kostenlos als PDF verfügbar. Ein neues Buch, eine deutsch-US-ameri­ka­nische Repor­ta­ge­reise zu Begeg­nungs­orten, ist in Vorbereitung.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Spenden mit Bankeinzug

Spenden mit PayPal


Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.


den