„Wir müssen Energie- und Sicherheitspolitik zusammendenken“
Kein anderes europäisches Land hat sich aus freien Stücken in eine so weitreichende energiewirtschaftliche Abhängigkeit von Moskau begeben wie Deutschland. Putins Krieg erzwingt eine Neuausrichtung. Dazu brauchen wir andere strategische Partnerschaften. Ein Kommentar von Ralf Fücks in der WELT.
Der russische Überfall auf die Ukraine ist nicht nur ein massiver Schlag gegen die europäische Sicherheitsordnung. Auch für die deutsche Energiepolitik markiert dieser Krieg eine Zäsur. Kein anderes europäisches Land hat sich aus freien Stücken in eine so weitreichende energiewirtschaftliche Abhängigkeit von Russland begeben.
Knapp 55 Prozent unseres Gasverbrauchs, ein Drittel des Öls und rund die Hälfte der in Deutschland verfeuerten Steinkohle kamen bisher aus Putins Reich. Spätestens mit der Annexion der Krim und der ersten russischen Militärintervention in der Ostukraine im Jahr 2014 haben diese Importe ihre politische Unschuld verloren.
Seitdem hat Deutschland fossile Energieträger im Gegenwert von rund 170 Milliarden aus Russland importiert. Wir waren der wichtigste Kunde und eine schier unerschöpfliche Geldquelle für das Putin-Regime.
Es ist keine böse Übertreibung zu sagen, dass Deutschland damit auch die russische Militärmaschine finanzierte, die jetzt in der Ukraine Tod und Zerstörung anrichtet. Fossile Energieexporte machen etwa 60 Prozent der russischen Exporterlöse aus und decken zu 40 Prozent den Staatshaushalt. Sie sind die finanzielle Lebensader des Systems.
Die „strategische Energiepartnerschaft“ mit Russland war eine Grundlinie der deutschen Politik der Merkel-Jahre. SPD und Union waren sich mit Top-Managern der deutschen Wirtschaft einig, die auf Öl und Gas aus Russland setzten. Die Verträge für Nord Stream 2 wurden nach der Annexion der Krim geschlossen.
Deutlicher konnte man Moskau nicht signalisieren, dass die Ukraine kein Störfaktor für die deutsch-russische Energiekooperation sein sollte. Dazu passt auch der Verkauf eines Viertels der deutschen Gasspeicher an Gazprom.
Bewusst oder unbewusst griff diese Politik eine Tradition auf, die bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht: Russland sollte als Rohstofflieferant den Aufstieg der deutschen Industrie gewährleisten, Deutschland im Gegenzug Maschinen und industrielle Fertigprodukte liefern. 1880 hatte Deutschland einen Anteil von 40 Prozent an den russischen Importen.
Die Machtergreifung der Bolschewiki änderte nichts an diesem Grundmuster. 1931 kamen sogar 46 Prozent aller Einfuhren der Sowjetunion aus Deutschland. Die antiwestliche Allianz zwischen den beiden Mächten setzte sich nach dem Hitler-Stalin-Pakt fort, als die Sowjetunion noch bis zum Beginn des deutschen Überfalls im Juni 1941 kriegswichtige Rohstoffe an das „Dritte Reich“ lieferte.
Die unbeirrt vorangetriebene wirtschaftliche Verflechtung mit Russland seit der Machtübernahme Putins beruhte auf einer geradezu schizophrenen Trennung von Wirtschaftsbeziehungen und Politik. Verbrämt wurde sie durch das deutsche Mantra von „Wandel durch Handel“. Nord Stream 2 wurde als „Friedenspipeline“ verkauft, obwohl von vorneherein klar war, dass es um den Ausschluss der Ukraine vom europäischen Gastransit ging.
Auch die deutsche Energiewende stellte sich sicherheitspolitisch blind. Die steigende Abhängigkeit von russischem Gas war das schmutzige Geheimnis des Atom- und Kohleausstiegs. Zwar opponierten die Grünen wie die Umweltverbände gegen Nord Stream 2, aber selbst in den ambitioniertesten Energiewende-Szenarien diente Erdgas als „Brücke“ aus der fossilen Energiewelt in ein klimaneutrales Energiesystem.
Im Stromsektor sollten neue Gaskraftwerke in einer Größenordnung von 20 bis 30 Gigawatt als Back Up für Sonnen- und Windenergie gebaut werden; in der Industrie Erdgas den Übergang zu Wasserstoff absichern. Da amerikanisches „Frackinggas“ vehement abgelehnt wurde, war faktisch klar, dass Russland liefern musste.
Dazu passt, dass niemals eine ehrliche Klima- und Umweltbilanz für Erdgas aus den neuen Fördergebieten im arktischen Norden Russlands aufgestellt wurde, einschließlich der Methan-Emissionen am Bohrloch und auf dem langen Transportweg.
Für energieintensive Industrien wie die Grundstoffchemie sicherten die langfristigen Verträge mit Gazprom ihre Wettbewerbsfähigkeit. Preisgünstig war russisches Erdgas allerdings nur, weil die damit einhergehenden ökologischen Schäden ebenso wenig eingepreist wurden wie die sicherheitspolitischen Risiken einer wachsenden Abhängigkeit von Russland.
Die Analogie zum Klimawandel drängt sich geradezu auf. In beiden Fällen geht es um die „Externalisierung“ von Kosten, die sich jetzt mit Macht geltend machen: die einen als steigende Temperaturen, Dürren und Unwetter, die anderen als Krieg vor unserer Haustür mit unabsehbaren Folgen für unsere nationale Sicherheit.
Jetzt ist guter Rat teuer. Die Industrie beschwört die „Deindustrialisierung“ Deutschlands herauf, wenn ihr das vermeintlich billige russische Gas entzogen wird. Aber weitblickende Köpfe in den Unternehmen werden wissen, dass die Zeit vorbei ist, in der sie ihr Geschäftsmodell auf die Externalisierung ökologischer und sicherheitspolitischer Risiken gründen konnten.
Der Streit geht um das Tempo, in dem Europa sich von russischen fossilen Energien unabhängig macht – und um die Verteilung der Kosten, die damit einhergehen. Auf absehbare Zeit ist die Ära billiger Energie vorbei.
Vielleicht kommt sie irgendwann wieder, wenn die Kosten für Solar- und Windstrom, Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe, Stromnetze, Batterien und Elektromobilität kontinuierlich fallen. Aber in der Zwischenzeit müssen Unternehmen wie private Haushalte mit steigenden Energiekosten rechnen.
Ein schneller Ausstieg aus russischem Erdgas funktioniert nicht ohne zeitweiligen Rückgriff auf Kohle und Atomenergie im Stromsektor sowie Diversifizierung der Erdgasimporte für die Industrie und private Haushalte. Das schließt den längst überfälligen Bau von Flüssiggas-Terminals an der Nordsee ein.
Gleichzeitig muss die Energieeffizienz im Gebäudesektor und der Industrie forciert werden. Jeder heute eingesparte Kubikmeter Erdgas hilft, über die kommende Wintersaison zu kommen. Mittelfristig liegt der Königsweg im Ausbau eines transeuropäischen Netzwerks erneuerbarer Energien von Skandinavien bis zum Mittelmeer und vom Atlantik bis zur Ukraine.
Eine nationale Engführung der Energiewende wird scheitern. Die Antwort auf die einseitige Abhängigkeit von Kohlenwasserstoffen aus Russland ist nicht Energie-Autarkie, sondern die Diversifizierung unserer Energieimporte und der Aufbau neuer strategischer Partnerschaften über Europa hinaus.
Die Ukraine kann allerdings nicht warten, bis wir einen reibungslosen Abschied von russischem Öl und Gas sichergestellt haben. Sie befindet sich in einem verzweifelten Abwehrkampf, der ihre menschlichen, militärischen und ökonomischen Reserven erschöpft, je länger er sich hinzieht. Europa muss deshalb hier und jetzt handeln, um dem Putin-Regime die finanziellen Ressourcen für diesen Krieg zu entziehen.
Falls sich die Bundesregierung nicht zu einem kompletten Importstopp für fossile Energien aus Russland aufraffen kann, sollte sie sich zumindest für ein rasches Ölembargo einsetzen, kombiniert mit einer ansteigenden Importabgabe auf russisches Gas. Den Energieverbrauch der Industrie und den Spritverbrauch privater Haushalte zu subventionieren, ist der falsche Weg.
Er bremst den überfälligen Strukturwandel und hält die Energiepreise höher als nötig. Der soziale Ausgleich für einkommensschwache Haushalte und Anpassungshilfen für energieintensive Industrien können auf anderen Wegen gewährleistet werden. Wir sollten die gegenwärtige Krise als Chance nutzen, das bisherige Konzept der Energiewende auf den Prüfstand zu stellen, ohne unsere klimapolitischen Ziele zu verwässern.
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