Belarus: Geburt einer Zivil­ge­sell­schaft oder ein europäi­sches Nordkorea?

Foto: Shutterstock, qwret
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Gewalt gedeiht im Dunklen und scheut das Licht der Öffent­lichkeit. Die inter­na­tionale Aufmerk­samkeit und Unter­stützung für die Demokra­tie­be­wegung in Belarus sind jetzt dringender als je. Ein Gastbeitrag der belarus­si­schen Journa­listin und Aktivistin Aksana Lutskaya.

Belarus hat seit dem Beginn der Proteste gegen Wahlma­ni­pu­la­tionen im August 2020 viele Schlag­zeilen gemacht. Die meisten Menschen im Land und im Ausland haben jedoch nicht wirklich erwartet, dass aus den Protesten ein derartig langwie­riger Wider­stand würde. Damals gab es große Hoffnungen auf einen schnellen Sieg, angesichts des Ausmaßes an Schmerz und Frust, das die Menschen in Belarus bereits vor dem Wahltag und in den Tagen danach durch­ge­macht hatten. Zwischen dem 9. und 11. August sahen und erlebten die Menschen in Minsk und in vielen anderen Städten unzählige Prügel, Schüsse und Grana­ten­würfe. Fried­liche Demons­tranten wurden schwer verletzt und sogar ermordet. Im Februar 2021 sind die Belarussen immer noch aktiv und kämpfen für ihre Freiheit und die grund­le­genden Menschen­rechte, die ihnen schon lange vorent­halten werden. Was spielt sich also ab in dem Land, das die größten politi­schen Unruhen seiner unabhän­gigen Geschichte erlebt hat, und was sind die Aussichten für die Zukunft?

Mehrere staatlich kontrol­lierte Medien in Belarus und ihre ideolo­gi­schen Genossen in Russland behaupten seit einiger Zeit fröhlich, dass die Proteste abgeklungen seien und unter Lukaschenkas Herrschaft wieder Ruhe und Frieden einge­kehrt seien. Doch obwohl die Aufmärsche nicht mehr wöchentlich in einer Menge von ein paar hundert­tausend Menschen statt­finden, hat niemand aufgehört und aufge­geben. Vielmehr hat sich der belarus­sische Protest, der von so vielen für seine anhal­tende Fried­fer­tigkeit angesichts der schreck­lichen Polizei­bru­ta­lität gepriesen wurde, weiter­ent­wi­ckelt und seine Form geändert – sich den neuen Bedin­gungen angepasst.

Seit der zweiten Corona­virus-Welle im Herbst, die auch dadurch gekenn­zeichnet war, dass die Sicher­heits­kräfte zeitweise Menschen zu Tausenden an einem einzigen Tag verhaf­teten, werden die Inhaf­tierten einer bisher nicht gekannten Art von Folter ausge­setzt. Die Behörden begannen, die Zellen mit doppelt und dreifach so vielen Menschen zu füllen wie vorge­sehen und sie endlos zu rotieren, so dass jeder unwei­gerlich mit so vielen anderen wie möglich in Kontakt kommen würde. Dadurch steckten sich dieje­nigen, die auf die Straße gegangen waren, mit Covid an.

Die Winter­kälte hat es unmöglich gemacht, wie früher zu marschieren, aber die Kreati­vität angesta­chelt. Nun schmücken die Belarusen Städte und Gemeinden mit weiß-rot-weißen Symbolen, was die Bereit­schafts­po­lizei und die kommu­nalen Dienste landesweit dazu gezwungen hat, sich buchstäblich mit Schnee­männern und in der Oberfläche von Seen, Flüssen und sogar kleinen Pfützen festge­fro­renen Fahnen zu beschäf­tigen. Tausende von aktiven Demons­tranten sind aus Angst vor Straf­ver­folgung oder anderen Repres­sionen aus dem Land vertrieben worden. Der Winter war geprägt von kurzen lokalen Demons­tra­tionen und Solida­ri­täts­ketten, die im Gegensatz zu den anfäng­lichen Massen­ver­samm­lungen in den Stadt­zentren völlig dezen­tra­li­siert sind und zu jeder Zeit hier und da in Minsk und anderen belarus­si­schen Orten statt­finden. Sie vereinen die Einwohner verschie­dener Bezirke zu Gemein­schaften, die aus eigener Initiative zivile Aktionen durch­führen und umfang­reiche Unter­stüt­zungs­netz­werke aufbauen, die helfen, den zermür­benden Wider­stand zu überleben.

Das Gesetz funktio­niert nicht, es sei denn, es funktio­niert gegen dich.

Doch wird die Situation ernster und ernster, da Lukaschenka seine Maßnahmen verschärft. Während Beobachter*innen ihre Aufmerk­samkeit von Belarus und den sich hier abspie­lenden Ereig­nissen abwenden, werden die Belarusen mit dem Regime allein gelassen. Nachdem er alle möglichen Grenzen überschritten hat, die seine Herrschaft zuvor zumindest einiger­maßen plausibel erscheinen ließen, hat er nun keinen Grund mehr, auch nur so zu tun, als würde er die Menschen auf menschen­würdige Weise behandeln. Die Gesetz­gebung wird von der Regierung missbraucht, um Demons­tranten zu verhaften und einzu­schüchtern (Androhung von Gefäng­nis­strafen, dem Entzug ihrer Kinder, dem Ruin ihrer Geschäfte und der Entlassung aus Arbeits­plätzen) und niemand ist mehr sicher. Ein Kritiker sagte: „Ich bin mit dem Verständnis geboren und aufge­wachsen, dass das Gesetz nicht funktio­niert, es sei denn, es funktio­niert gegen dich“, und so ist es auch in Wirklichkeit. Menschen werden aufs Geratewohl am helllichten Tag von der Straße entführt, darunter auch 13-Jährige. Das Land hat seine Grenzen geschlossen, um die Bürger an der Ausreise zu hindern, sollten sie ins Visier der „Sicher­heits­kräfte“ geraten. Arbeiter, die nach der Wahl in den Streik getreten waren, erhielten Gefäng­nis­strafen für die Ausübung ihres Grund­rechts und ein Konzen­tra­ti­ons­lager für aktive Demonstrant*innen gegen das Regime (d.h. fast alle) befindet sich in Planung. Ein ehema­liges Entzugs­zentrum, in dem im August schon etwa 100 Demons­tranten festge­halten wurden, wird dafür umfunk­tio­niert. Die belarus­sische Philo­sophin Tatsiana Shchyttsova hat die Situation näher erläutert und charak­te­ri­siert die jüngsten Entwick­lungen als „Parafa­schismus“.

Frauen werden zusätzlich belastet

Es ist schwer, ein genaues Stimmungsbild aus der Bevöl­kerung zu geben, da die unabhängige Sozio­logie schon vor einiger Zeit aus dem Land gedrängt wurde (Lukaschenka stoppte bekanntlich sogar Medien­um­fragen, die versuchten, sich vor der Wahl ein allge­meines Bild von den politi­schen Präfe­renzen der Bevöl­kerung zu machen). Eine Studie über die Situation und die Bedürf­nisse der Frauen, die an den Protesten teilge­nommen haben, die von der Fem-Gruppe des Koordi­nie­rungs­rates von Belarus (ein unabhän­giges Gremium, das mit der Förderung und Unter­stützung von Swetlana Tichanowskaja gegründet wurde) durch­ge­führt wurde, kam zu dem Schluss, dass die Frauen mit einer Fülle von zusätz­lichen Belas­tungen konfron­tiert werden. Sie müssen sehr viel zusätz­liche Hausarbeit und Kinder­be­treuung bewäl­tigen und zusätzlich eine Menge emotio­naler Arbeit leisten, um irgendwie die unermess­liche Wut, den Schmerz, die gelegent­liche Hoffnungs­lo­sigkeit und die Verzweiflung aufzu­fangen. Emotionen, die manchmal für alle ihre Famili­en­mit­glieder und oft sogar für die lokalen Gemeinden überwäl­tigend sein können. Doch trotz des anstren­genden und kostspie­ligen Kampfes für die Freiheit und die Fähigkeit, ihre eigenen Entschei­dungen zu treffen, sammeln alle ihre Kräfte für Runde zwei des aktiven Protestes, wenn der Frühling kommt. Der nächste mögliche Massen­protest wird wahrscheinlich am 11. und 12. Februar statt­finden, als Reaktion auf eine insze­nierte Veran­staltung, die sich „All-Belarus National Assembly“ (gesamt­be­la­rus­sische Natio­nal­ver­sammlung) nennt und die von Lukaschenka selbst initiiert wurde. Sie ist ein Versuch, sowohl die belarus­sische Öffent­lichkeit als auch den russi­schen Präsi­denten zu beruhigen und verspricht einige Verfas­sungs­än­de­rungen, die seine Macht einschränken würden. Seine Rhetorik bezüglich des Ereig­nisses hat sich radikal verändert, nun sagt er offen, dass es eigentlich keine Notwen­digkeit für Verän­de­rungen gibt und eine starke präsi­diale Autorität benötigt wird, um die belarus­sische Souve­rä­nität zu schützen. Normale Bürger durften sich für die Veran­staltung nicht einmal als Delegierte aufstellen. Diese wurden sorgfältig aus den loyalen Mitgliedern des Staats­ap­pa­rates ausgewählt.

Die Spur des Geldes führt nach Russland

Doch obwohl die Belarussen für den Erfolg der Befrei­ungs­be­wegung selbst verant­wortlich sind, war die inter­na­tionale Unter­stützung noch nie so wichtig wie jetzt. Die Unter­stützung Russlands erschwert es, das Regime anzufechten; das Land hatte als erstes den Sieg Lukaschenkas anerkannt und ihm zu seiner sechsten Amtszeit als gewählter Präsident gratu­liert. Später, als sich die Proteste für seinen Amtskol­legen als weitaus schwie­riger zu handhaben erwiesen, wählte Putin eine vorsich­tigere Heran­ge­hens­weise. Er unter­stützte ihn hinter den Kulissen und kriti­sierte die Staaten, die die belarus­si­schen Wahler­geb­nisse nicht anerkannt haben, sich in die Angele­gen­heiten eines unabhän­gigen Staates einzu­mi­schen. Darüber hinaus unter­stützt Russland die amtie­rende Regierung weiterhin finan­ziell, indem es ihr Kredite zur Deckung der gasbe­zo­genen Zinszah­lungen zur Verfügung stellt und erst kürzlich die Rückzah­lungs­frist eines weiteren Milli­ar­den­kredits verlän­gerte. Zusätzlich sendet Russland regel­mäßig Nachrichten über mögliche militä­rische Unter­stützung an die Behörden in Belarus, um die Menschen zu verängs­tigen und von der Straße zu halten. Obwohl der russische Staat nun für einige Zeit mit seinen inneren Angele­gen­heiten abgelenkt sein dürfte, erweist er sich immer noch als mächtiger Unter­stützer der anderen Autokratie. Solange er nicht ernsthaft von den eigenen Protesten im Inneren überflutet wird, ist es unwahr­scheinlich, dass sich sein Griff auf Belarus lockert. Selbst ein Aufschub von Lukaschenkas finan­zi­ellen Verpflich­tungen kann eine Menge Druck von seinen Schultern nehmen und es ihm erlauben, sich darauf zu konzen­trieren, das belarus­sische Volk weiterhin zu foltern.

Europäische Mittel­zu­flüsse

Da Geld eine der Säulen ist, ohne die das Regime zusam­men­bricht, ist es extrem wichtig, die Versorgung aus der EU, dem zweit­größten Handels­partner des Landes, zu unter­brechen. Obwohl die Europäische Union bereits drei Sankti­ons­pakete verhängt hat, gab Peter Stano, der EU-Sprecher für Außen- und Sicher­heits­po­litik, zu, diese würden mehr Zeit benötigen, um zu wirken. Gerüchten zufolge wurden einige reiche und mächtige Verbündete Lukaschenkas (z.B. der Tabak­magnat Aliaksei Aleksin) in letzter Minute von der Liste gestrichen. Dies verdeut­licht, dass der Prozess viel trans­pa­renter sein muss, um Lobby­ismus von Wirtschafts­in­ter­es­sen­gruppen zu verhindern, der die Menschen­rechte gefährdet. Einer der Haupt­han­dels­partner des Unter­nehmens „Belaruskali“, die norwe­gische Firma Yara Inter­na­tional, erwägt immer noch, einen weiteren Vertrag mit dem Werk zu unter­zeichnen und damit faktisch die illegitime Regierung mit viel Geld zu versorgen, um die Leute zu bezahlen, die Belarussen schlagen, inhaf­tieren und foltern. Obwohl sie bereits ihr Bestes getan haben, um Druck auf Yara Int. auszuüben, indem sie mehrere Appelle verschickt haben, würde sich etwas zusätz­licher Druck von den EU-Bürgern als noch überzeu­gender erweisen, auch wenn Norwegen kein Teil der EU ist. Gleiches gilt für andere Länder und Unter­nehmen, die es vorziehen, weiterhin im Stillen mit dem Regime Geschäfte zu machen. Mehr Medien­auf­merk­samkeit und Druck seitens der Zivil­ge­sell­schaft in der EU gegenüber den Geschäfts­in­ter­essen innerhalb ihrer Länder könnten einen riesigen Unter­schied machen.

Wider­stand ohne Verfallsdatum

Während viele gerne eine Art Frist für den Sieg der Revolution setzen würden, würde ein solcher Wunsch auf lange Sicht wahrscheinlich mehr Schaden anrichten. Denn es geht, wie es viele belarus­sische Denker formu­liert haben, nicht darum, die Person, die das Land regiert, einfach zu ersetzen, sondern darum, zu lernen, sich gegen­seitig wahrzu­nehmen und gemeinsam Entschei­dungen über unser Leben zu treffen, anstatt dies passiv an jemanden zu delegieren, der dieses Privileg nach und nach usurpiert hat und die belarus­sische Gesell­schaft ein Viertel­jahr­hundert lang erfolg­reich atomi­siert hat. Die Revolution sollte also eher als ein Prozess ohne klares Enddatum angesehen werden und die Belarussen sollten sich darauf einstellen, damit zu leben, um nicht im Burnout zu enden. Unter­dessen arbeiten sie weiter gemeinsam daran, eine Gesell­schaft aufzu­bauen, in der jeder und jede gerne leben würde. Trotz allem Optimismus kann man in Wirklichkeit nicht von heute auf morgen etwas abbauen, was 26 Jahre lang aufgebaut und gefestigt wurde. Oder auch nicht über ein paar Monate, es sei denn, das Vergießen von Blut könnte als akzep­tabel angesehen werden, was es absolut nicht ist.

Die Geburt einer neuen Zivilgesellschaft

Daher ist die Schlüs­sel­funktion der belaru­si­schen Revolution die Geburt der neuen Zivil­ge­sell­schaft. Eine Zivil­ge­sell­schaft, in der sich die Menschen frei fühlen und handeln können, um Verän­de­rungen auf allen Ebenen herbei­zu­führen, sowohl indivi­duell als auch gemeinsam, ohne sich zu sehr auf die Regierung zu verlassen. Man erinnert sich vielleicht daran, dass es vor dem Hinter­grund der Untätigkeit der Regierung im Umgang mit der COVID-Pandemie die belarus­sische Zivil­ge­sell­schaft war, die die Dinge selbst in die Hand nahm. Jetzt zielt sie auf nichts anderes ab, als diese zu ermäch­tigen, einfach weil es kein Zurück mehr gibt. Die neue belarus­sische Gesell­schaft, die im wahrsten Sinne des Wortes in den Flammen des gegen sie selbst einge­setzten militä­ri­schen Feuers geschmiedet wurde, wird nicht mehr akzep­tieren, was in den vergan­genen 26 Jahren vor sich ging. Die Alter­native ist der Polizei­staat, den viele bereits als ein „europäi­sches Nordkorea“ bezeichnen, da Lukaschenka auf keinen Fall einfach alles wieder so sein lassen wird, wie es war, ohne einen todbrin­genden Groll zu hegen.

Swetlana Tichanowskaja hat den 7. Februar zum Tag der Solida­rität mit Belarus erklärt, mit zahlreichen Veran­stal­tungen: Runde Tische, Konfe­renzen, Straßen­kunst-Aktionen und belarus­sische Diaspora-Aktionen sind in vielen Ländern der Welt geplant. Belarus wäre seinen Freunden überall dankbar, wenn sie das Geschehene nicht vergessen und immer wieder auf allen Ebenen darüber sprechen würden. Es ist damit vergleichbar, häusliche Gewalt im ganzen Land publik zu machen: Während Gewalt durch Schweigen floriert, vergeht sie im Licht der Öffentlichkeit.

Obwohl die Situation hier keine Clickbait-Schlag­zeile mehr zu machen scheint, müssen alle auf der ganzen Welt wissen und daran denken, dass die staat­liche Gewalt nicht erträg­licher und weniger grausam geworden ist. Es ist weiterhin überle­bens­wichtig, dass Belarus in den Nachrichten so vieler Medien wie möglich präsent ist. Es ist überle­bens­wichtig, dass Menschen in anderen Ländern Druck auf Unter­nehmen und Regie­rungen ausüben. Es ist überle­bens­wichtig, eine Petition zu unter­schreiben, einen Brief an Ihren Abgeord­neten zu schreiben, an Fonds zur Unter­stützung der Belarusen zu spenden oder sich einem Protest anzuschließen und die eigene Unter­stützung auf andere Art zu zeigen. All dies wird uns helfen, endlich das Land zu werden, das alle gerne vor der Tür der EU sehen würden.

Textende

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