Bieder­mann Erdogan: Brand­stifter der Türkei

Erdogan, Putin 2019 Foto: Shutterstock, Alex Gakos
Erdogan, Putin 2019 Foto: Shut­ter­stock, Alex Gakos

Als Recep Tayyip Erdogan 2003 erstmals im Bewusst­sein des Westens auftauchte, unter­schätzte man ihn als boden­stän­digen aber harmlosen und seinem Volk zuge­wandten Politiker. Seine AKP galt als religiös-bürger­li­cher Teil der demo­kra­ti­schen, rechten Mitte. Wie falsch diese Einschät­zungen waren, zeigt der desolate Zustand der Türkei 17 Jahre später. Teil 3 unserer Serie zum Auto­ri­ta­rismus 2020. 

Recep Tayyip Erdogan war seiner Zeit voraus, möchte man sagen. In einer Welt voller selbst ernannter “Strongmen”, die für ihre Nationen den Platz an der Sonne erstreiten wollen, fällt es schwer zu entflechten, wer dieser Mode den Weg gewiesen hat. Bisweilen möchte man in Europa Silvio Berlus­coni diesen Platz zuer­kennen. Der Mailänder Medien-Zar, der mit Hilfe seines Imperiums an die Macht kam und sich dort lange durch einen Mix aus Popu­lismus und skan­da­lösen Verstri­ckungen hielt, war eine flam­boy­ante Figur, die zu exzes­siven Auftritten neigte. Legendär die Aufma­chung als Pirat, in der er unter anderem den damaligen briti­schen Premier­mi­nister Tony Blair empfing. Herrn Erdogan sind diese vorder­grün­digen Allüren fremd. Er ist in Erschei­nung und Auftritt solide, um nicht zu sagen bieder.

Aber er hat seinen Wahlkampf am Beginn dieses Jahr­hun­derts mit einer kalku­lierten Pola­ri­sie­rung begonnen, die heute schon trauriger Standard geworden ist in etlichen Ländern der demo­kra­ti­schen Welt. Er, Erdogan, so sagte er im Wahlkampf 2004, vertrete die “braunen Türken”, jenes normale Volk, das von den “weißen Türken”, der kema­lis­ti­schen, säkularen Elite, die von den Medien bis zum Militär reicht, in Schach gehalten werde. Herr Erdogan begann bereits damals, sich als Vertreter eines Türken­tums zu insze­nieren, das von der Republik nicht wert­ge­schätzt, um nicht zu sagen, unter­drückt sei. Dieses Motiv hat er bis zum heutigen Tag durch­ge­halten. Viele jener “braunen Türken” waren entzückt und erfreut, als Herr Erdogan die Kirche der Weisheit in Istanbul, die seit der Repu­blik­grün­dung ein Museum war, im Juli 2020 wieder zu einer Moschee machte. Präsident Erdogan führte das Gebet an. Der Prediger zeigte ein Schwert in die Kameras und froh­lockte etwas über das Wieder­erstarken des Islam und Osma­nen­tums, für das die Umwand­lung der ehema­ligen Kirche in eine Moschee stünde. Die Menschen, die draußen vor dem impo­santen Bau dem Gebet beiwohnten, inter­es­sieren sich nicht für diese Groß­macht­fan­ta­sien. Aber dass Herr Erdogan sich für den gemeinen Gläubigen einsetzt, das goutieren sie schon.

Durch eine Verfas­sungs­re­form, deren Refe­rendum auch zu seinen Gunsten entschieden wurde, wurde die Türkei in eine Präsi­di­al­re­pu­blik umge­wan­delt, was ihm die Change gab, bis auf den heutigen Tag als eben dieser Präsident zu amtieren. Dem Beispiel Vladimir Putins, der ebenfalls zwischen den höchsten Staats­äm­tern rochierte, folgen neben der Türkei auch Polen und Ungarn. In Ländern, deren poli­ti­sches System durch eine Verfas­sung etabliert ist, führt der Weg zur Zemen­tie­rung der Macht über eben solche Verfas­sungs­än­de­rungen. Etwas weniger als die Hälfte derer, die in den vergan­genen Jahren an die Wahlurne schritten, wollten der Regent­schaft von Herrn Erdogan ein Ende bereiten. Eine Rück­ab­wick­lung einer solch gravie­renden Verän­de­rung, die Erdogan vorge­nommen hat, lässt sich aller­dings nicht über Nacht machen, auch nicht nach einem Wahlsieg derer, die jetzt in der Oppo­si­tion sind.

Wie andere selbst­er­nannte Führer schwört Präsident Erdogan seine Anhänger auf die Gefolg­schaft ein, indem er ihnen Furcht vor den vielen äußeren und inneren Gefahren, die beständig lauern, einflösst. Diese illustre Schar der Feinde, zu denen die Europäer ebenso wie die Juden im benach­barten Israel gehören, können, so Erdogan, den Siegeszug der Türkei nicht aufhalten. Mehr als einmal hat der Macht­haber rheto­risch zuge­spitzt formu­liert, dass sich die Türkei nicht für ewig in die Grenzen, die ihr 1923 gegeben wurden, werde einengen lassen. Aller­dings geht es in einem solchen Umfeld mit der Wirt­schaft und der Währung bergab. Indem Erdogan seinen Schwie­ger­sohn zum Finanz­mi­nister machte und beständig in die Belange der Notenbank eingriff, wurde Inves­toren deutlich, dass es in der Türkei keine unab­hän­gigen Insti­tu­tionen mehr gibt, die dazu bereit wären, die ökono­mi­sche Situation des Landes adäquat darzu­stellen. Solche Eingriffe in die Währungs­ge­schäfte geschehen in Auto­kra­tien regel­mäßig, wie beispiels­weise in der Volks­re­pu­blik China, über deren wirk­li­chen ökono­mi­schen Status niemand außerhalb des Landes wirklich Bescheid weiß. Wenn es zu einem solchen nepo­tis­ti­schen Gebaren in Demo­kra­tien kommt, ist Gefahr im Verzug. Und selbst­ver­ständ­lich ist der Kahl­schlag der Medien: viele Jour­na­listen sitzen im Gefängnis, die Medi­en­häuser geraten unter immensen Druck.

Seit seinem Marsch vom Schwarzen Meer in die Schalt­zen­trale der Macht in Ankara ist Herrn Erdogan der Bilder­buch-Aufstieg eines Auto­kraten gelungen. Anfangs als konser­va­tiver Reformer gefeiert, dessen Bezüge auf den Islam genauso rheto­ri­scher Natur zu sein schienen wie das Christ­liche in euro­päi­schen konser­va­tiven Parteien hervor­ge­hoben wurde, ist heute klar, dass Erdogan eine natio­na­lis­tisch-religiöse Agenda verfolgt, die jenen in Russland, Ungarn, Polen, stark ähnelt. Viel­leicht bewirkt der Total­schaden, den die türkische Lira derzeit aufgrund der Politik von Herrn Erdogan erleidet, ja ein Umdenken bei denen, die den Präsi­denten unter­stützen. Aber es ist besser, große, demo­kra­ti­sche Erwar­tungen zu zügeln.

 

Erdogan, Putin 2019 Foto: Shutterstock, Alex Gakos
Erdogan, Putin 2019 Foto: Shut­ter­stock, Alex Gakos

 

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