Biedermann Erdogan: Brandstifter der Türkei
Als Recep Tayyip Erdogan 2003 erstmals im Bewusstsein des Westens auftauchte, unterschätzte man ihn als bodenständigen aber harmlosen und seinem Volk zugewandten Politiker. Seine AKP galt als religiös-bürgerlicher Teil der demokratischen, rechten Mitte. Wie falsch diese Einschätzungen waren, zeigt der desolate Zustand der Türkei 17 Jahre später. Teil 3 unserer Serie zum Autoritarismus 2020.
Recep Tayyip Erdogan war seiner Zeit voraus, möchte man sagen. In einer Welt voller selbst ernannter “Strongmen”, die für ihre Nationen den Platz an der Sonne erstreiten wollen, fällt es schwer zu entflechten, wer dieser Mode den Weg gewiesen hat. Bisweilen möchte man in Europa Silvio Berlusconi diesen Platz zuerkennen. Der Mailänder Medien-Zar, der mit Hilfe seines Imperiums an die Macht kam und sich dort lange durch einen Mix aus Populismus und skandalösen Verstrickungen hielt, war eine flamboyante Figur, die zu exzessiven Auftritten neigte. Legendär die Aufmachung als Pirat, in der er unter anderem den damaligen britischen Premierminister Tony Blair empfing. Herrn Erdogan sind diese vordergründigen Allüren fremd. Er ist in Erscheinung und Auftritt solide, um nicht zu sagen bieder.
Aber er hat seinen Wahlkampf am Beginn dieses Jahrhunderts mit einer kalkulierten Polarisierung begonnen, die heute schon trauriger Standard geworden ist in etlichen Ländern der demokratischen Welt. Er, Erdogan, so sagte er im Wahlkampf 2004, vertrete die “braunen Türken”, jenes normale Volk, das von den “weißen Türken”, der kemalistischen, säkularen Elite, die von den Medien bis zum Militär reicht, in Schach gehalten werde. Herr Erdogan begann bereits damals, sich als Vertreter eines Türkentums zu inszenieren, das von der Republik nicht wertgeschätzt, um nicht zu sagen, unterdrückt sei. Dieses Motiv hat er bis zum heutigen Tag durchgehalten. Viele jener “braunen Türken” waren entzückt und erfreut, als Herr Erdogan die Kirche der Weisheit in Istanbul, die seit der Republikgründung ein Museum war, im Juli 2020 wieder zu einer Moschee machte. Präsident Erdogan führte das Gebet an. Der Prediger zeigte ein Schwert in die Kameras und frohlockte etwas über das Wiedererstarken des Islam und Osmanentums, für das die Umwandlung der ehemaligen Kirche in eine Moschee stünde. Die Menschen, die draußen vor dem imposanten Bau dem Gebet beiwohnten, interessieren sich nicht für diese Großmachtfantasien. Aber dass Herr Erdogan sich für den gemeinen Gläubigen einsetzt, das goutieren sie schon.
Durch eine Verfassungsreform, deren Referendum auch zu seinen Gunsten entschieden wurde, wurde die Türkei in eine Präsidialrepublik umgewandelt, was ihm die Change gab, bis auf den heutigen Tag als eben dieser Präsident zu amtieren. Dem Beispiel Vladimir Putins, der ebenfalls zwischen den höchsten Staatsämtern rochierte, folgen neben der Türkei auch Polen und Ungarn. In Ländern, deren politisches System durch eine Verfassung etabliert ist, führt der Weg zur Zementierung der Macht über eben solche Verfassungsänderungen. Etwas weniger als die Hälfte derer, die in den vergangenen Jahren an die Wahlurne schritten, wollten der Regentschaft von Herrn Erdogan ein Ende bereiten. Eine Rückabwicklung einer solch gravierenden Veränderung, die Erdogan vorgenommen hat, lässt sich allerdings nicht über Nacht machen, auch nicht nach einem Wahlsieg derer, die jetzt in der Opposition sind.
Wie andere selbsternannte Führer schwört Präsident Erdogan seine Anhänger auf die Gefolgschaft ein, indem er ihnen Furcht vor den vielen äußeren und inneren Gefahren, die beständig lauern, einflösst. Diese illustre Schar der Feinde, zu denen die Europäer ebenso wie die Juden im benachbarten Israel gehören, können, so Erdogan, den Siegeszug der Türkei nicht aufhalten. Mehr als einmal hat der Machthaber rhetorisch zugespitzt formuliert, dass sich die Türkei nicht für ewig in die Grenzen, die ihr 1923 gegeben wurden, werde einengen lassen. Allerdings geht es in einem solchen Umfeld mit der Wirtschaft und der Währung bergab. Indem Erdogan seinen Schwiegersohn zum Finanzminister machte und beständig in die Belange der Notenbank eingriff, wurde Investoren deutlich, dass es in der Türkei keine unabhängigen Institutionen mehr gibt, die dazu bereit wären, die ökonomische Situation des Landes adäquat darzustellen. Solche Eingriffe in die Währungsgeschäfte geschehen in Autokratien regelmäßig, wie beispielsweise in der Volksrepublik China, über deren wirklichen ökonomischen Status niemand außerhalb des Landes wirklich Bescheid weiß. Wenn es zu einem solchen nepotistischen Gebaren in Demokratien kommt, ist Gefahr im Verzug. Und selbstverständlich ist der Kahlschlag der Medien: viele Journalisten sitzen im Gefängnis, die Medienhäuser geraten unter immensen Druck.
Seit seinem Marsch vom Schwarzen Meer in die Schaltzentrale der Macht in Ankara ist Herrn Erdogan der Bilderbuch-Aufstieg eines Autokraten gelungen. Anfangs als konservativer Reformer gefeiert, dessen Bezüge auf den Islam genauso rhetorischer Natur zu sein schienen wie das Christliche in europäischen konservativen Parteien hervorgehoben wurde, ist heute klar, dass Erdogan eine nationalistisch-religiöse Agenda verfolgt, die jenen in Russland, Ungarn, Polen, stark ähnelt. Vielleicht bewirkt der Totalschaden, den die türkische Lira derzeit aufgrund der Politik von Herrn Erdogan erleidet, ja ein Umdenken bei denen, die den Präsidenten unterstützen. Aber es ist besser, große, demokratische Erwartungen zu zügeln.
Den ersten Teil unserer Serie zum Autoritarismus 2020, in dem wir nach Asien blicken, finden Sie hier. Den zweiten Teil, der sich mit Ungarn und Polen befasst haben wir hier für Sie verlinkt.
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