Belarus: der Diktator befiehlt kontrol­lierten Pluralismus

Seit der Annexion der Krim durch Russland 2014 hat sich Belarus schritt­weise der Isolation entwunden, indem sich Präsident Lukaschenko als Gastgeber für die Verhand­lungen über einen Frie­dens­plan anbot. Während sich Belarus Russland annähert, auch weil Moskau das einfor­dert, erleich­tert Lukaschenko zugleich seinen west­li­chen Nachbarn durch winzige Zuge­ständ­nisse an die demo­kra­ti­sche Oppo­si­tion die Zusam­men­ar­beit mit der letzten Diktatur Europas.

Es geht in Belarus der Wahlkampf zu Ende. Am Sonntag, 17. November wird das Parlament gewählt, bald darauf finden Präsi­dent­schafts­wahlen statt. Auch wenn die Wahlen vom Staat kontrol­liert sein werden, spricht Präsident Lukaschenko von einer „Prüfung für die Regie­renden“. Übli­cher­weise geht seine Admi­nis­tra­tion in Wahl­kampf­zeiten weniger rigide gegen die Zivil­ge­sell­schaft vor. Viele Oppo­si­tio­nelle nutzen die Möglich­keit, um Unter­schriften für Mahn­wa­chen oder andere Stra­ßen­ak­tionen zu sammeln.

Parla­men­ta­rismus auf Belarussisch

Noch vor nicht allzu langer Zeit galt  das Reprä­sen­tan­ten­haus (die untere Kammer des Parla­ments) als wenig einfluss­reich, da die Macht beim Präsi­denten konzen­triert ist. Abge­ord­neter zu sein wurde als reine Formalie, als guter Warte­stand für die Rente abgetan. Heraus­ra­gende Persön­lich­keiten kann man an drei Fingern abzählen. 

Portrait von Yan Auseyushkin

Yan Ausey­ushkin ist Jour­na­list und lebt in Minsk

In Belarus sind Parla­ments­wahlen unfrei, die Wahlen zum Reprä­sen­tan­ten­haus werden keine Ausnahme sein. Die Bezirks­wahl­kom­mis­sionen bestehen nur zu 2,5 Prozent aus Vertre­tern der Oppo­si­ti­ons­par­teien. Die meisten Mitglieder gehören in einer dem Präsi­denten wohl­ge­son­nenen Partei an oder kommen aus staat­li­chen Verei­ni­gungen, etwa den staat­li­chen Gewerkschaften.

Bei den letzten Wahlen im Jahre 2016 wurden erstmals zwei Vertre­te­rinnen der Oppo­si­tion in das Reprä­sen­tan­ten­haus gewählt: Anna Kano­paz­kaja, Mitglied der Verei­nigten Bürger­partei, und Alena Anisim, Vorsit­zende der Gesell­schaft für die bela­rus­si­sche Sprache. Doch der Präsident weigerte sich, die Entwürfe zu den Inves­ti­tions- und Priva­ti­sie­rungs­ge­setzen zu unter­zeichnen, an deren Erar­bei­tung Anna Kano­paz­kaja aktiv mitge­wirkt hatte. Alena Anisim forcierte die Gründung einer privaten, bela­rus­sisch­spra­chigen Hoch­schule; die Eröffnung steht wegen fehlender Geneh­mi­gung bis heute aus.

Vergli­chen mit der poli­ti­schen Apathie, die vor Jahren herrschte, ist die bela­rus­si­sche Bevöl­ke­rung munter geworden. Bahn­bre­chende Verän­de­rungen sind bei den anste­henden Wahlen nicht zu erwarten, aber die vorsich­tigen Schritte des Regierung zeigen, dass diese poli­ti­sche Räume bis zu einem gewissen Maß duldet. 

Mögli­cher­weise wird Lukaschenko bei den bevor­ste­henden Wahlen einen weiteren Trip­pel­schritt auf die Oppo­si­tion zugehen. In Anbe­tracht der Norma­li­sie­rung der Bezie­hungen zu den USA und einer Reihe hoch­ran­giger Staats­be­suche, insbe­son­dere dem von John Bolton, damals Berater des US-Präsi­denten, sowie David Hale, stell­ver­tre­tender US-Außen­mi­nister für poli­ti­sche Ange­le­gen­heiten, könnten die bela­rus­si­schen Macht­haber geneigt sein, noch ein paar weitere Oppo­si­tio­nelle ins Parlament wählen zu lassen.

Intern schlägt das Regime einen Kurs ein, mit dem den Wahlen mehr Aufmerk­sam­keit geschenkt und dem Parlament insgesamt mehr Bedeutung beigemessen werden soll. Und hier können auch neue Gesichter eine Rolle spielen. So erklärte zum Beispiel die Leiterin der Zentralen Wahl­kom­mis­sion, Lidija Jermo­schina, die Politik des Staates ziele darauf ab, dass nur 30 Prozent der Mitglieder des schei­denden Parla­ments eine weitere Legis­la­tur­pe­riode im Amt bleiben.

Neue Gesichter ließen nicht lange auf sich warten. Ein Beispiel ist die geplante Kandi­datur der 22-jährigen Marija Wasi­le­witsch, Miss Belarus und Mode­ra­torin im staat­li­chen Fernsehen. Es besteht kein Zweifel, dass ihre Wähler­initia­tive die für die Wahlen erfor­der­li­chen 1000 Unter­schriften zusam­men­be­kommt und sie anschlie­ßend ihren Wahlkreis gewinnt. Außerdem stellt sich Gennadij Davydko, ehema­liger Chef des bela­rus­si­schen Rundfunk- und Fern­seh­un­ter­neh­mens und Vorsit­zender von „Belaja Rus“, der größten regie­rungs­freund­li­chen gesell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tion, zur Wahl. Bei Davydko handelt es sich um einen einfluss­rei­chen Funk­tionär, dessen Kandi­datur dazu führen wird, dass das Parlament belebt wird und der Regie­rungs­ap­parat trotzdem nicht an Einfluss verliert.

Zudem ist das Regime bemüht, die Befug­nisse des Parla­ments auszu­weiten und das Gewicht loyaler poli­ti­scher Parteien zu stärken. Gegen­wärtig bereitet das Justiz­mi­nis­te­rium Ände­rungen zum Partei­en­gesetz vor und berück­sich­tigt dabei auch Vorschläge der Oppo­si­tion. Der Gesetz­ent­wurf enthält eine Reihe von moderaten Erleich­te­rungen bei der Arbeits­auf­nahme und der Regis­trie­rung gesell­schaft­li­cher Verei­ni­gungen. Dennoch ist eine Demo­kra­ti­sie­rung des bela­rus­si­schen Wahl­system nicht in Sicht.

Nach den Worten von Sergej Pigarew, dem stell­ver­tre­tenden Vorsit­zenden von „Belaja Rus“, der größten gesell­schaft­li­chen Verei­ni­gung – sie spielt die Rolle einer Regie­rungs­partei – liegt es durchaus im Bereich des Möglichen, dass ein Teil der Aufgaben der staat­li­chen Verwal­tung, insbe­son­dere im sozialen Bereich, an bestimmte gesell­schaft­liche Verei­ni­gungen und poli­ti­sche Parteien delegiert wird. Vor diesem Hinter­grund wird der Anteil der Parla­ments­ab­ge­ord­neten, die Mitglieder in einer poli­ti­schen Partei sind, zunehmen. Derzeit liegt er bei 20 Prozent.

Der andere Flügel

Auch hat der oppo­si­tio­nelle Flügel seine Strategie geändert.  Die tradi­tio­nelle Oppo­si­tion besteht aus den Parteien Bela­rus­si­sche Nationale Front (BNF), Verei­nigte Bürger­partei von Belarus (OPG), der Bewegung „Für die Freiheit“, dem Orga­ni­sa­ti­ons­ko­mitee für die Gründung einer Bela­rus­si­schen Christ­lich-Demo­kra­ti­schen Partei und anderen Orga­ni­sa­tionen. Diese rufen nun nicht mehr zum Sturz des Regimes auf.

Weniger bekannte Bewe­gungen, die früher zum Wahl­boy­kott aufge­rufen hatten, wie zum Beispiel die Bürger­be­we­gung „Euro­päi­sches Belarus“ und „Narodnaja Gramada“ werden versuchen, den Wahlkampf zu nutzen, um durch patrio­ti­sche Rhetorik und Regime­kritik Mitstreiter zu gewinnen. Sie fordern den Rücktritt Lukaschenkos, die Ablehnung der Inte­gra­tion mit Russland und den Wider­stand gegen die bevor­ste­hende Inbe­trieb­nahme des neuen bela­rus­si­schen Atomkraftwerks.

Die Bewegung „Sag die Wahrheit“ trägt keinen direkten Konflikt mit den Macht­ha­bern aus, sondern lenkt die Aufmerk­sam­keit der Wähler auf lokale Infra­struk­tur­pro­bleme. Poli­ti­sche Forde­rungen kommen nicht vor.

Eine Sonder­stel­lung nehmen die Protest­be­we­gungen ein, die erst im Laufe der Zeit politisch geworden sind. Ein Beispiel ist der Protest gegen die Inbe­trieb­nahme einer Batte­rie­fa­brik in Brest. Über 20 Monate hatten Anwohner hier jede Woche Mahn­wa­chen und Protest­kund­ge­bungen orga­ni­siert, wobei die Admi­nis­tra­tion in diesem Zeitraum lediglich eine einzige Groß­ver­an­stal­tung genehmigt hatte. Akti­visten waren fest­ge­nommen, vorüber­ge­hend fest­ge­setzt und zur Zahlung hoher Bußgelder verur­teilt worden.

Im Juni wurde die Inbe­trieb­nahme der Batte­rie­pro­duk­tion gestoppt und ein Besitzer des Unter­neh­mens verhaftet. Am 6. September schlug sich Lukaschenko öffent­lich auf die Seite der Demons­tranten. Die Gegner der Fabrik befürchten aller­dings, dass der Präsident sein Wort brechen wird. Sie stellten deshalb Mitglieder der Bewegung als Kandi­daten auf.

Ähnlich verhält es sich mit der Bewegung „Mütter 328“. Dabei handelt es sich um Frauen, deren Kinder wegen der Weiter­gabe von Drogen verur­teilt wurden. Die Strafen für diese Art von Delikten sind in Belarus drako­nisch. Die betrof­fenen jungen Leute kommen oft für unver­hält­nis­mäßig lange Zeit in Haft. Ihre Mütter bemühen sich um eine Wieder­auf­nahme der Prozesse und eine Lockerung des Strafrechts.

Die Oppo­si­tion erhielt außerdem Zulauf, als im Sommer ein Gesetz verab­schiedet wurde, das den Aufschub beim Wehr­dienst abschafft. Nach Abschluss eines Studiums oder einer Ausbil­dung müssen die Jugend­li­chen nun ihren Wehr­dienst antreten. Das Gesetz führt zu Unmut, die Studenten orga­ni­sierten eine Reihe legaler einzelner Mahn­wa­chen und haben eine Wähler­initia­tiven zur Teilnahme an den Wahlen angemeldet.

Doch vor der Parla­ments­wahl am Sonntag wurden fast alle Kandi­daten der Oppo­si­tion von den Wahl­listen gestri­chen, auch die Umwelt­ak­ti­visten aus der Stadt Brest.

Der Russ­land­faktor

In Zeiten wirt­schaft­li­chen Drucks durch Moskau und einer erzwun­genen Inte­gra­tion bündeln viele oppo­si­tio­nelle Initia­tiven ihre Kräfte: sie fordern die Offen­le­gung des Inhalts der Verhand­lungen mit Moskau und den Austritt aus dem Bündnisvertrag.

Ausge­rechnet das neue Reprä­sen­tan­ten­haus soll Gesetz­ent­würfe über eine vertiefte Inte­gra­tion mit Russland verab­schieden. Am 6. September verkün­dete Premier­mi­nister Sergej Rumas, das Inte­gra­ti­ons­pro­gramm sei abge­stimmt und umfasse 31 Roadmaps zu fast allen Bereichen der Wirt­schaft. Nach Infor­ma­tionen der russi­schen Zeit­schrift Kommersant sieht das Programm die Verein­heit­li­chung des Steu­er­ge­setzes und des bürger­li­chen Gesetz­bu­ches vor. Besonders realis­tisch erscheint das nicht, aber auf alle Fälle sollen diese neu gewählten Abge­ord­neten eine riesige Menge von Geset­zes­ent­würfen, Ände­rungs­an­trägen und sonstigen gesetz­li­chen Rege­lungen verabschieden.

Bislang hat das Reprä­sen­tan­ten­haus noch nie gegen Gesetz­ent­würfe der Regierung gestimmt. Weil Regierung und Parlament die Inte­gra­ti­ons­in­itia­tive durchaus skeptisch sehen, wird das Reprä­sen­tan­ten­haus umsichtig vorgehen müssen: bestimmte Gesetz­ent­würfe wird es heraus­zö­gern und andere so schnell wie möglich verab­schieden, damit Belarus nicht den Zorn Moskaus auf sich zieht. Bei kriti­schen Themen, welche die Unab­hän­gig­keit des Landes berühren, kann es zu gesell­schaft­li­chem Druck auf die Parla­men­ta­rier kommen – Proteste sind möglich.

Vergli­chen mit der poli­ti­schen Apathie, die vor Jahren herrschte, ist die bela­rus­si­sche Bevöl­ke­rung munter geworden. Bahn­bre­chende Verän­de­rungen sind bei den anste­henden Wahlen nicht zu erwarten, aber die vorsich­tigen Schritte des Regierung zeigen, dass diese poli­ti­sche Räume bis zu einem gewissen Maß duldet.

In einem LibMod-Policy-Paper erörtert John Lough die Situation in Belarus. Das Land sei zum neu­es­ten Schau­platz rus­si­scher Groß­macht­am­bi­tio­nen gewor­den. Putin ver­schärfe den Druck, Belarus in eine staat­li­che Union zu zwingen. Sie würde die stra­te­gi­sche Lage in Mittel-Ost­eu­ropa gra­vie­rend ver­än­dern.

Textende

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