Digitalismus: Über das Eigenrecht des Politischen
Big Data stelle die Problemlösungsfähigkeit demokratischer Systeme auf eine Belastungsprobe, meint Adrian Lobe in einem Debattenbeitrag für LibMod. Wahlen, Parteien und Parlamente könnten obsolet werden. In einer Gegenrede hält Micha Brumlik das Gut gemeinschaftlich gelebter Freiheit hoch: Wer die Demokratie als ein System zu Verarbeitung von Informationen begreife, verkenne die Freiheitserfahrung politischen Handelns.
Der Beitrag von Adrian Lobe nimmt sowohl gegenüber der Marktwirtschaft als auch gegenüber der liberalen Demokratie einen radikalen Beobachterstandpunkt ein, von dem aus er seine Befürchtungen gegenüber einer prinzipiell möglichen digitalisierten „Demokratie“ artikulieren kann. Das geschient unter Berufung auf den Historiker Yuval Harari und mit Blick auf das heutige China so, dass das politische System der liberalen Demokratie vor allem als ein Informationsbeschaffungssystem verstanden wird.
Freilich ist zunächst zu klären, was sich unter „Demokratie“ teilnehmerbezogen oder normativ verstehen lässt; dann aber gilt: „Demokratie“, wie auch immer man sie im Einzelnen bestimmen und wünschen möge, beinhaltet als Kern, dass eine aufgeklärte, wenngleich keineswegs einmütige Bürgerschaft sich in geregelten Verfahren einen Willen bildet und diesen Willen dann in jenem Territorium, das sie oder ihre Organe effektiv kontrollieren, institutionell durchsetzt.
Es war der österreichische Jurist und Rechtsphilosoph Hans Kelsen (1881–1973), der in seiner erstmals 1925 erschienenen „Staatslehre“ die Grundzüge dessen bestimmt hat, was bis heute als „parlamentarische Demokratie“ gilt. Die Demokratie ist als eine nichtmonarchische Staatsform zunächst eine unter mehreren möglichen Formen der Republik und zeichnet sich zudem in der Moderne dadurch aus, dass sie als „mittelbare, repräsentative Demokratie“ in Erscheinung tritt, d.h.:
„Der Wille zur politischen Freiheit oder Selbstbestimmung“ so Kelsen „beschränkt sich auf die Berufung der arbeitsteilig funktionierenden Staatsorgane durch die Normunterworfenen“[1]
Kelsen weist in diesem Zusammenhang auf die Unangemessenheit des Begriffs der „Repräsentation“ hin – ist doch das Volk nicht nur von jeder unmittelbaren Beteiligung ausgeschlossen, nein gerade das „freie“, nicht imperative Mandat der Abgeordneten widerlegt die Fiktion, es werde hier etwas repräsentiert, abgebildet. Die Berufung von Mitgliedern der die Gesetze schaffenden, sie exekutierenden und die Rechtmäßigkeit ihrer Ausführung überprüfenden Organe aber hängt von „Wahlsystemen“ ab. Wahlberechtigte aber sind letzten Endes Individuen, die – zwar allemal durch Milieus, Gewohnheiten, ethnische, religiöse, verbandliche oder ökonomische Zugehörigkeiten geprägt – gleichwohl in letzter Instanz aus ihrem eigenen, freien Willen heraus eine Wahl treffen. Um diesen freien Willen werben die konkurrierenden Parteien auch durch Vermutungen über die Präferenzen der Wahlberechtigten, wobei sie sich derselben Verfahren bedienen können wie beim Werben um Kaufentscheidungen für beliebige Güter. In dieser Hinsicht trifft die metaphorische Gleichsetzung von Markt und demokratischem Wettbewerb durchaus zu. Mehr noch: heute, im Zeitalter des Digitalen übernehmen zunehmend Spezialisten algorithmisierter Informationen über Konsumenten hier sowie Wähler dort – die sogenannten ‚spin doctors’ – das politische Geschäft.
Indes: Immerhin erlauben es aber „repräsentative, parlamentarische Demokratien“, dass das Volk durch Volksbegehren, Volksinitiativen, und ‑entscheide oder durch Referenden an der Gesetzgebung beteiligt wird. Entscheidend aber ist für das Funktionieren all dieser Systeme, die sich als „demokratisch“ verstehen, die Einsicht ihrer Bürger, dass letzte, absolute Konzeptionen des „Guten“ nicht möglich sind:
„Wer aber“ um noch einmal Kelsen zu zitieren „absolute Wahrheit und absolute Werte menschlicher Erkenntnis für verschlossen hält, muß nicht nur die eigene, muß auch die fremde, gegenteilige Meinung zumindest für möglich halten. Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, der der demokratische Gedanke voraussetzt. Demokratie schätzt den politischen Willen jedermanns gleich ein ... Darum gibt sie jeder politischen Überzeugung die gleiche Möglichkeit sich zu äußern und im freien Wettbewerb um die Gemüter der Menschen sich geltend zu machen.“[2]
Es war ein ebenfalls österreichischer Zeitgenosse Hans Kelsens, nämlich Josef Schumpeter (1883–1950), der eine marktbezogene, „realistische“ Theorie der Demokratie postuliert hat:
„Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher Einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben“[3]
Adrian Lobe scheint nun davon auszugehen, dass „digitale“ , hoch komplexe Gesellschaften zur Erreichung ihrer politisch jeweils gewollten Ziele und Zustände über derartige Mengen an Informationen verfügen müssen, dass diese nicht mehr von herkömmlichen demokratischen Institutionen zureichend gesammelt und verwaltet werden können. Er räumt freilich ein:
„Gewiss ist es verkürzend, Demokratien auf ein Datenverarbeitungssystem zu reduzieren, weil sie nicht nur Daten, sondern auch Ideen „verarbeiten“ und produzieren. Doch die exponentiell steigende Datenmenge stellt die Problemlösungsfähigkeit und Responsivität demokratischer Systeme auf eine Belastungsprobe. „Die größte Gefahr, der sich die liberale Demokratie derzeit gegenübersieht, besteht darin, dass die Revolution in der Informationstechnologie Diktaturen effizienter macht als Demokratien“, warnte Harari während eines TED –Talks in Vancouver.“
Diesem Eingeständnis zum Trotz setzt Lobe die marktmäßige Bestimmung von Preisen für konsumierbare oder lebensnotwendige Güter mit der öffentlichen, stets auch debattierenden Setzung von Normen und Prinzipien für das menschliche Zusammenleben gleich – ohne zu berücksichtigen, dass es bei individuell oder kollektiv getroffenen oder zu treffenden Entscheidungen um die Realisierung eines Gutes anderer Art, nämlich nur gemeinschaftlich zu lebender Freiheit geht. So etwa Hannah Arendt in einem Vortrag aus dem Jahre 1959:
„Man kann nicht über Politik sprechen, ohne immer auch über Freiheit zu sprechen, und man kann nicht von Freiheit sprechen, ohne immer schon über Politik zu sprechen. Wo das Zusammenleben der Menschen nicht politisch organisiert ist – also z.B. im Zusammenleben primitiver Stämme oder in der Privatsphäre des Familienhaushalts –, ist es nicht von Freiheit, sondern von der Notwendigkeit des Lebens und der Sorge um seine Erhaltung bestimmt; und wenn die von Menschen erstellte Welt nicht der Schauplatz politischen Handelns wird – wie in einem despotisch regierten Gemeinwesen, das die Untertanen in die Enge ihrer Häuser und Privatsorgen verbannt –, hat Freiheit keine weltliche Realität. Ohne einen politisch garantierten öffentlichen Bereich hat Freiheit in der Welt keinen Ort, an dem sie erscheinen könnte, und wenn sie auch immer und unter allen Umständen als Sehnsucht in den Herzen der Menschen wohnen mag, so ist sie doch weltlich nicht nachweisbar. Im Sinne einer nachweisbaren Realität fallen Politik und Freiheit zusammen, sie verhalten sich zueinander wie die beiden Seiten der nämlichen Sache.“[4]
In genau diesem Sinne ist auch der Gütermarkt von der Sorge um die Erhaltung oder auch Besserstellung des Lebens bestimmt.
In der Nachfolge Schumpeters war es der Politologe Anthony Downs, der eine dem entgegengesetzte ökonomische Theorie der Demokratie vorgelegt hat.[5] Die treffende Zusammenfassung seiner Theorie referiert Wikipedia so:
Downs versteht „Demokratie“ als komplexes Tauschsystem,
„ in dem individuelle Akteure (die Wähler) und Kollektivakteure (Parteien) miteinander kommunizieren und ihre Wahlen nach der Maximierung des erwarteten Eigennutzens treffen.[...] Er versteht Politik analog zur Ökonomie als Markt, auf dem Unternehmer (Parteien) Käufern (Bürger) Waren (politische Programme) anbieten. Dies, so Downs, führt zum Rationalitätsaxiom der individuellen Nutzenmaximierung auf Seiten der „Anbieter“ (Parteien, Regierung, Politiker), die auf Machterhalt und Machterwerb aus sind, und der „Konsumenten“ (Bürger, Wähler).“
Diese, Schumpeter bei weitem übertreffende, radikale Beobachterperspektive zehrt – ebenso wie Lobes Überlegung – von einer empirischen Annahme: dass nämlich Lebensformen und Lebensvollzüge, in denen gemeinschaftlich zu denkende Freiheit den Individuen nichts mehr wert sind, der technokratischen, digitalisierten Verwaltung ihrer jeweiligen Präferenzen unterliegen. Es liegt am Willen von uns Bürgerinnen oder Bürgern, uns Citoyens und Citoyennes, ob sich diese Hypothese bewahrheiten wird.
[1] H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Wien 1993
[2] a.a.O. S. 370
[3] J. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1950: 428
[4] http://siaf.ch/files/arendt.pdf
[5] A. Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.