Außenansichten
Deutschland: das schwächste Kettenglied
Berlins Inkompetenz und Zaudern gefährdet alle – der Kommentar von Edward Lucas vom Center for European Policy Analysis.
Unverantwortlich und unzuverlässig: Deutschland bekommt in diesen Tagen eine wohlverdiente Abreibung von seinen Verbündeten. Sie hatten über viele Jahre hinweg genügend Gründe, erbost zu sein. Deutschlands strategische Auszeit begann mit der Gorbi-Manie in den 1980er Jahren und dauerte bis 2022. Seither hat Russland durch jahrzehntelange Einflussnahme eine erschreckend tiefe Durchdringung der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft erreicht.
Um nur einige Symptome zu nennen: Jan Marsalek, der ehemalige Chief Operating Officer des zusammengebrochenen Finanzriesen Wirecard, einst eines der größten Unternehmen des Landes, wurde gerade als Spion des russischen Militärgeheimdienstes GRU enttarnt. Wirecard hatte Zugang zu einer großen Menge privater Finanzdaten, nicht zuletzt zu Zahlungen für Internet-Pornoseiten: sehr nützlich für Spione, die an Erpressung interessiert sind. Wirecard genoss außerordentlichen politischen Schutz, selbst zu einem Zeitpunkt, als sein betrügerisches Geschäftsmodell bereits offensichtlich war. Dieser kam vom damaligen deutschen Finanzminister Olaf Scholz, wofür er sich nie entschuldigt hat.
Verteidigungs‑, Nachrichtendienst- und Sicherheitsstrukturen, die Deutschland vor diesen Angriffen schützen sollten, sind nur allzu oft ein Einfallstor für diese Angriffe. Der jüngste Spionageskandal betrifft einen hochrangigen Beamten des deutschen Auslandsnachrichtendienstes, der gemäß den deutschen Medienvorschriften nur als Carsten L. identifiziert werden kann, und einen mutmaßlichen Komplizen, Arthur E. Beide Männer standen im Dezember wegen Spionage für Russland vor Gericht. Die beiden wurden nicht dank deutscher Sorgfalt verhaftet, sondern aufgrund eines Hinweises des FBI.
Russische Spione, Verbrecher und Gauner haben sich vor den Augen der bürokratieverliebten deutschen Polizei und der Spionageabwehr ausgetobt. John Sipher, ein ehemaliger Spitzenmann der CIA in Russland, beschreibt die deutschen Dienste als „arrogant, inkompetent, bürokratisch und nutzlos“. Als Auslandskorrespondent im geteilten Berlin weiß ich noch, wie mir ein britischer Geheimdienstmann sagte: „Wenn Sie wollen, dass der Kreml etwas ernst nimmt, geben Sie es den Deutschen und sagen Sie ihnen, es sei ein Geheimnis. Am nächsten Morgen wird es auf jedem Schreibtisch des Politbüros liegen.“ Dieser alte Witz löst immer noch ein wissendes Lachen aus.
Unachtsamkeit führt zu Verrat, sei es, dass Offiziere der Luftwaffe die Einzelheiten der Schenkung von Taurus-Raketen an die Ukraine erörtern oder dass Bundeskanzler Scholz die Anwesenheit französischer und britischer Militärangehöriger in der Ukraine ausplaudert. Die Weigerung, der Ukraine Taurus-Lenkraketen zu liefern, um nicht selbst „Kriegspartei“ zu werden, ist eine Einladung an Putin, den Krieg weiter zu eskalieren.
Die Ukrainer und ihre Freunde sind zu Recht wütend über all dies. Die Zeitenwende, die der deutsche Regierungschef nach dem russischen Einmarsch 2022 ankündigte, hat sich als große Enttäuschung erwiesen. Das deutsche Militär ist nach wie vor unterausgestattet, finanziell überfordert und überdehnt.
Deutschlands selbstbezügliche Abneigung gegen hartes Sicherheitsdenken liegt zum Teil an seinen zwei katastrophalen Niederlagen im letzten Jahrhundert und an seiner Rolle als potenzielles nukleares Schlachtfeld während des Kalten Krieges. Das schürt Antiamerikanismus und Antimilitarismus. „Selbst der schlimmste Frieden ist besser als der beste Krieg“, so hört man viele Stimmen aus Deutschland, seit die Ukraine ihren Überlebenskampf begann. Dass es sich lohnen könnte, für die Freiheit zu sterben, zählt nicht.
Bei aller Frustration, die die Verbündeten derzeit über die deutsche Regierung empfinden, sollten sie sich daran erinnern, dass es einmal schlimmer war. Die Ära Gerhard Schröders, als Deutschland Putins verlässlichster europäischer Verbündeter war, scheint weit entfernt zu sein. Deutschland unterstützt die Sanktionen gegen Russland. Es hat seine Abhängigkeit von russischem Erdgas rascher beendet als erwartet. Deutschland ist mit 27,8 Milliarden Euro (30,4 Milliarden Dollar) der zweitgrößte Geber für die Ukraine. Es hat eine große Rolle bei der humanitären Hilfe gespielt, von Flüchtlingen bis zur medizinischen Versorgung verwundeter Soldaten. Außenministerin Annalena Baerbock ist ein absolutes Talent. Nur schade, dass sie die Außenpolitik ihres Landes nicht bestimmt.
Westliche Verbündete können gegenüber kleinen Ländern wie Österreich, Ungarn und der Slowakei gefährliche Entwicklungen umgehen. Aber Deutschland ist zu groß, um es zu ignorieren. Deutschland braucht eindeutig eine neue Sicherheitspolitik. Und der Rest von uns braucht eine neue Deutschlandpolitik.
Edward Lucas ist britischer Journalist und Senior Fellow am Center for European Policy Analysis. Er war Korrespondent in Berlin und leitender Redakteur des Economist.
Der Artikel ist eine Übersetzung aus dem Englischen. Der Text erschien im Original hier.
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