Was in Xinjiang passiert, bleibt nicht in Xinjiang
Tief im Westen Chinas entsteht der digitale Überwachungsstaat: Die Bevölkerung der Provinz Xinjiang wird mit modernster Digitaltechnik kontrolliert und verfolgt. Uiguren, Kasachen und Kirgisen werden kriminalisiert und in Umerziehungslager gesteckt. Hat alles nichts mit uns im Westen zu tun? Ein uigurischer Doktorand der Universität Göttingen sieht das anders.
In Tahir Mutällip Qahiris Träumen sieht der Völkermord so aus: Sein Vater, ein renommierter Namensforscher, sitzt Xi Jinping, dem chinesischen Staats- und Parteichef, gegenüber, der droht: „Ich kann euch alle hinrichten!“ Qahiris Vater, ein pensionierter Professor der Pädagogischen Hochschule Kaschgar und Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), fleht: „Wir sind doch beide Parteimitglieder!“ Der Traum beginnt in Peking, der Hauptstadt Chinas. Doch nach und nach wird aus Peking Kaschgar, eine Stadt in der westchinesischen Provinz Xinjiang, wo Qahiris Vater lebt. Dort verhören chinesische Sicherheitskräfte Qahiris Vater neben einer riesigen Statue von Mao Zedong, dem Gründer der Volksrepublik. Dann schleppen sie ihn zu einem steinigen Platz in der Nähe des Flughafens und erschießen ihn.
Musste Qahiris Vater, der seine uigurische Kultur und Sprache erforschte, sterben, weil seine Arbeit das Narrativ der KPCh in Frage stellte? Diese Frage quält Tahir Mutällip Qahiri, 38 Jahre alt, Doktorand der Turkologie und Zentralasienkunde an der Universität Göttingen, seit sein Vater im vergangenen September verschwunden ist. Sie verfolgt ihn bis in seine Träume.
Qahiris Vater, Mutällip Sidiq Qahiri, 68, ist einer von Hunderttausenden, vielleicht sogar von mehr als einer Million Uiguren, Kasachen und Kirgisen, die die chinesische Regierung des islamistischen Terrors bezichtigt und die seit 2017 in Umerziehungslagern in Xinjiang interniert werden. In Xinjiang, im äußersten Westen Chinas, leben elf Millionen Uiguren, ein zentralasiatisches Volk, das eine Turksprache spricht und überwiegend muslimisch ist.
Berichte über Folter
Viele Internierte sind arme Bauern, die kaum Chinesisch können. Aber auch zahlreiche Kulturschaffende, die fließend Chinesisch sprechen und einst führende Positionen in der Gesellschaft Xinjiangs eingenommen haben, sind unter ihnen. Der chinesische Staat sagt, die Internierungen dienten der Extremismus- und Armutsbekämpfung, weil die Lagerinsassen ein Gewerbe lernten, Kochen etwa oder Nähen. In den Lagern müssen sie – Berichten von Medien und Menschenrechtsorganisationen zufolge – Uniformen tragen, Propagandatexte auswendig lernen, die KPCh und Xi Jinping loben, folkloristische Tänze aufführen und dem Extremismus abschwören, der ihnen vorgeworfen wird.
Ehemalige Lagerinsassen berichten sogar von Folter. Bei einer Anhörung vor dem US-Kongress berichtete etwa die Uigurin Mihrigul Tursun davon, dass Frauen gezwungen würden, Medikamente zu schlucken, die zu Bewusstseinsverlust und inneren Blutungen führten. Sie sei in ein Lager gesteckt worden, als ihre Drillinge gerade zwei Monate alt gewesen seien – einer sei gestorben. Während ihrer Zeit im Lager seien insgesamt neun Frauen umgekommen.
Alles gelogen, behauptet die chinesische Regierung.
„Kultureller Völkermord“
„Der Staat kämpft gegen Sprache, Religion und Kultur”, sagt Adrian Zenz, Dozent an der European School of Culture and Theology im baden-württembergischen Korntal, dessen Forschungsergebnisse im vergangenen Jahr entscheidend dazu beigetragen haben, die Existenz der Lager aufzudecken: „Es ist ein kultureller Völkermord, eine bewusste Strategie.” Zu einem ähnlichen Schluss kommt Samantha Hoffmann, Non-Resident Fellow am International Cyber Policy Centre des Australian Strategic Policy Institute: „Was in Xinjiang vor sich geht, ist mehr als die Verfolgung von Uiguren oder des Islam“, sagt die Expertin: „Die Uiguren und der Islam werden zum Sündenbock gemacht, aber die Situation in Xinjiang ist Teil der größeren, landesweiten Sicherheitsstrategie Chinas, die darauf abzielt, die Macht der Partei zu schützen und zu erweitern. Das bedeutet, dass die Partei darum kämpft, die Kontrolle über das Narrativ zu behalten.” Wenn die Partei das Gefühl habe, die Kontrolle zu verlieren, schlage sie um sich.
Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass die Überwachungsmethoden, die in Xinjiang zur Identifizierung und Verhaftung von Uiguren genutzt werden, mit Chinas landesweit zum Einsatz kommenden Sozialkreditsystem verbunden sind, einem System, das – einfach gesagt – Menschen nach ihrem gesellschaftlichen und auch politischen Verhalten bewertet und als Grundlage für Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen genutzt werden soll. Das Sozialkreditsystem, das die Partei als Instrument zur Schaffung von gesellschaftlichem Vertrauen darstellt, ist in Xinjiang so sichtbar wie sonst nirgends im Land, sagt Zenz. Das System könne für Menschen, die sich mit der Ideologie der KPCh identifizieren, tatsächlich Sicherheit schaffen; viele Chinesen befürworteten es aus diesem Grund. Doch wie eine Münze zwei Seiten habe, sei der Totalitarismus die Kehrseite dieser Sicherheit. Viele wüssten wegen der Zensur in den Medien gar nicht, wie tief die Überwachung in den Alltag reiche.
Der neue von Algorithmen gesteuerte Autoritarismus
Doch die Gefahr ist noch größer. Mit der weltweiten Verbreitung der in Xinjiang eingesetzten Hightech-Überwachungsmethoden – Gesichtserkennung, Handydurchsuchungen, biometrische Datenbanken – werde dieser von Algorithmen getriebene Autoritarismus früher oder später auch den Westen betreffen, so Zenz. In China gibt es zwischen Technologieunternehmen und dem Staat keine Trennung: IT-Unternehmen, einschließlich der Branchenriesen Alibaba und Tencent, sind per Gesetz verpflichtet, dem Staat beim Erhalt dessen, was als nationale Sicherheit gilt, zu helfen. Wird das irgendwann auch in den liberalen Demokratien des Westens die Norm sein? „Es geht hier nicht nur um Xinjiang. Die Weltanschauung, die hinter der Überwachung und den Lagern steht, geht uns alle an“, sagt Zenz.
In gewisser Weise kann man Xinjiang daher als das Big-Data-Labor des chinesischen Sicherheitsapparats verstehen: „Die Erhebung und Sammlung von persönlichen Daten finden natürlich nicht nur in Xinjiang statt“, sagt Zenz. „Aber in Xinjiang werden die Datenbanken von der Polizei geführt. Im Rest von China gibt es Pilotprojekte, die zum Teil auch von der Polizei geführt werden. In Xinjiang wird das aber mit einer Intensität gemacht, wie es im Osten des Landes nicht der Fall ist.“
Sogar die Wirtschaft schlägt neue Töne an
Wie dem digitalen Überwachungsstaat zu begegnen ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. „Deutschland ist gut in stiller Diplomatie, das Land hat Liu Xiaobos Witwe, Liu Xia, aus China geholt. Aber so kann die Lagersituation nicht behandelt werden“, sagt Peter Irwin, der Sprecher des Weltkongresses der Uiguren, der seinen Sitz in München hat. Irwin ist der Meinung, dass Sanktionen im Magnitski-Stil gegen einzelne chinesische Beamte verhängt werden sollten.
Nach jahrzehntelanger intensiver Zusammenarbeit mit China ist jüngst wohl auch die Industrie unruhig geworden. In Wirtschaftskreisen ist China lange in erster Linie als Markt und Teilnehmer der kapitalistischen Weltordnung wahrgenommen worden, und nicht als politischer Akteur. Das scheint sich zu ändern. Europa und China befänden sich heute in einem Systemwettbewerb, der ein starkes, reformiertes Europa als Gegengewicht brauche, erklärte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) vor Kurzem in einem Grundsatzpapier: „Den wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen durch China ist kein EU-Mitgliedstaat allein gewachsen.”
Ein Verbrechen, das mafiös anmutet
Für Tahir Mutällip Qahiri sind solche Diskussionen existenziell. Er will wissen, ob sein Vater noch lebt, wo er ist und was ihm vorgeworfen wird. Kürzlich rief er die Sicherheitsabteilung der Universität Kaschgar an. „Komm her, dann sagen wir es dir“, wurde ihm mitgeteilt – eine Falle. „Der Staat verweigert mir Informationen über meinen Vater“, sagt er. Die Verhaftung mute an wie das Verbrechen der Mafia: „Das ist nicht die Vorgehensweise eines Staates“, findet er.
Das bekannteste Buch seines Vaters ist ein 900 Seiten starkes Kompendium, „Lexikon der uigurischen Personennamen“, das die Tradition der uigurischen Namensgebung erforscht. Als “von weitreichender Bedeutung“ bezeichnet es Michael Knüppel, Mitarbeiter am Seminar für Turkologie und Zentralasienkunde der Universität Göttingen, und fügt hinzu: „Dem Verfasser wird der Dank vieler Generationen von Namensforschern gewiss sein.“ Hinter Qahiris Interesse an uigurischen Namen steckt auch eine persönliche Geschichte: Als sein Vater in die dritte Klasse ging, wurde sein Vorname, Qahir, von dem Rektor der Schule in Mutällip geändert. Die Begründung: Qahir sei zu arabisch und passe nicht ins sozialistische Zeitalter.
Was aber ist dran an dem Vorwurf der chinesischen Regierung, die uigurischen Häftlinge in Xinjiang würden interniert, weil sie islamistische Terroristen seien? Ja, es habe Terroranschläge von Uiguren gegeben, sagt Qahiri. Aber der Generalverdacht gegenüber Muslimen sei grundfalsch.
Das Handy von Qahiris Mutter ist inzwischen ausgeschaltet. Die seiner vier Geschwister klingeln zwar, aber niemand geht ran. Die staatliche Rente seines Vaters wurde im vergangenen Oktober eingestellt. Qahiri weiß nicht einmal, ob er in Deutschland in Sicherheit ist. Unmittelbar nach der Veröffentlichung eines Medienberichtes über die Verhaftung seines Vaters Ende November näherte sich ihm am Göttinger Rathaus ein Mann im Anzug, erzählt er. Der Mann habe ihn auf Chinesisch als „Dieb“ bezeichnet. “Er hat mich beschimpft und ist geflohen, als ich ihn fragte, was er gegen mich hat“, sagt Qahiri: „Ich weiß nicht, ob das ein Zufall war oder ein geplanter verbaler Angriff.“
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