Was in Xinjiang passiert, bleibt nicht in Xinjiang

© Alexander Afeldt

Tief im Westen Chinas entsteht der digitale Überwa­chungs­staat: Die Bevöl­kerung der Provinz Xinjiang wird mit modernster Digital­technik kontrol­liert und verfolgt. Uiguren, Kasachen und Kirgisen werden krimi­na­li­siert und in Umerzie­hungs­lager gesteckt. Hat alles nichts mit uns im Westen zu tun? Ein uiguri­scher Doktorand der Univer­sität Göttingen sieht das anders.

In Tahir Mutällip Qahiris Träumen sieht der Völkermord so aus: Sein Vater, ein renom­mierter Namens­for­scher, sitzt Xi Jinping, dem chine­si­schen Staats- und Parteichef, gegenüber, der droht: „Ich kann euch alle hinrichten!“ Qahiris Vater, ein pensio­nierter Professor der Pädago­gi­schen Hochschule Kaschgar und Mitglied der Kommu­nis­ti­schen Partei Chinas (KPCh), fleht: „Wir sind doch beide Partei­mit­glieder!“ Der Traum beginnt in Peking, der Haupt­stadt Chinas. Doch nach und nach wird aus Peking Kaschgar, eine Stadt in der westchi­ne­si­schen Provinz Xinjiang, wo Qahiris Vater lebt. Dort verhören chine­sische Sicher­heits­kräfte Qahiris Vater neben einer riesigen Statue von Mao Zedong, dem Gründer der Volks­re­publik. Dann schleppen sie ihn zu einem steinigen Platz in der Nähe des Flughafens und erschießen ihn. 

Portrait von Didi Kirsten Tatlow Sonntag

Didi Kirsten Tatlow ist Journa­listin und berichtet für die New York Times.

Musste Qahiris Vater, der seine uigurische Kultur und Sprache erforschte, sterben, weil seine Arbeit das Narrativ der KPCh in Frage stellte? Diese Frage quält Tahir Mutällip Qahiri, 38 Jahre alt, Doktorand der Turko­logie und Zentral­asi­en­kunde an der Univer­sität Göttingen, seit sein Vater im vergan­genen September verschwunden ist. Sie verfolgt ihn bis in seine Träume.

Qahiris Vater, Mutällip Sidiq Qahiri, 68, ist einer von Hundert­tau­senden, vielleicht sogar von mehr als einer Million Uiguren, Kasachen und Kirgisen, die die chine­sische Regierung des islamis­ti­schen Terrors bezichtigt und die seit 2017 in Umerzie­hungs­lagern in Xinjiang inter­niert werden. In Xinjiang, im äußersten Westen Chinas, leben elf Millionen Uiguren, ein zentral­asia­ti­sches Volk, das eine Turksprache spricht und überwiegend musli­misch ist.

Berichte über Folter

Viele Inter­nierte sind arme Bauern, die kaum Chine­sisch können. Aber auch zahlreiche Kultur­schaf­fende, die fließend Chine­sisch sprechen und einst führende Positionen in der Gesell­schaft Xinjiangs einge­nommen haben, sind unter ihnen. Der chine­sische Staat sagt, die Inter­nie­rungen dienten der Extre­mismus- und Armuts­be­kämpfung, weil die Lager­in­sassen ein Gewerbe lernten, Kochen etwa oder Nähen. In den Lagern müssen sie – Berichten von Medien und Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen zufolge – Uniformen tragen, Propa­gan­da­texte auswendig lernen, die KPCh und Xi Jinping loben, folklo­ris­tische Tänze aufführen und dem Extre­mismus abschwören, der ihnen vorge­worfen wird.

Ehemalige Lager­in­sassen berichten sogar von Folter. Bei einer Anhörung vor dem US-Kongress berichtete etwa die Uigurin Mihrigul Tursun davon, dass Frauen gezwungen würden, Medika­mente zu schlucken, die zu Bewusst­seins­verlust und inneren Blutungen führten. Sie sei in ein Lager gesteckt worden, als ihre Drillinge gerade zwei Monate alt gewesen seien – einer sei gestorben. Während ihrer Zeit im Lager seien insgesamt neun Frauen umgekommen.

Alles gelogen, behauptet die chine­sische Regierung.

„Kultu­reller Völkermord“

„Der Staat kämpft gegen Sprache, Religion und Kultur”, sagt Adrian Zenz, Dozent an der European School of Culture and Theology im baden-württem­ber­gi­schen Korntal, dessen Forschungs­er­geb­nisse im vergan­genen Jahr entscheidend dazu beigetragen haben, die Existenz der Lager aufzu­decken: „Es ist ein kultu­reller Völkermord, eine bewusste Strategie.” Zu einem ähnlichen Schluss kommt Samantha Hoffmann, Non-Resident Fellow am Inter­na­tional Cyber Policy Centre des Australian Strategic Policy Institute: „Was in Xinjiang vor sich geht, ist mehr als die Verfolgung von Uiguren oder des Islam“, sagt die Expertin: „Die Uiguren und der Islam werden zum Sündenbock gemacht, aber die Situation in Xinjiang ist Teil der größeren, landes­weiten Sicher­heits­stra­tegie Chinas, die darauf abzielt, die Macht der Partei zu schützen und zu erweitern. Das bedeutet, dass die Partei darum kämpft, die Kontrolle über das Narrativ zu behalten.” Wenn die Partei das Gefühl habe, die Kontrolle zu verlieren, schlage sie um sich.

Von beson­derer Bedeutung ist die Tatsache, dass die Überwa­chungs­me­thoden, die in Xinjiang zur Identi­fi­zierung und Verhaftung von Uiguren genutzt werden, mit Chinas landesweit zum Einsatz kommenden Sozial­kre­dit­system verbunden sind, einem System, das – einfach gesagt – Menschen nach ihrem gesell­schaft­lichen und auch politi­schen Verhalten bewertet und als Grundlage für Kontroll- und Sankti­ons­maß­nahmen genutzt werden soll. Das Sozial­kre­dit­system, das die Partei als Instrument zur Schaffung von gesell­schaft­lichem Vertrauen darstellt, ist in Xinjiang so sichtbar wie sonst nirgends im Land, sagt Zenz. Das System könne für Menschen, die sich mit der Ideologie der KPCh identi­fi­zieren, tatsächlich Sicherheit schaffen; viele Chinesen befür­wor­teten es aus diesem Grund. Doch wie eine Münze zwei Seiten habe, sei der Totali­ta­rismus die Kehrseite dieser Sicherheit. Viele wüssten wegen der Zensur in den Medien gar nicht, wie tief die Überwa­chung in den Alltag reiche.

Der neue von Algorithmen gesteuerte Autoritarismus

Doch die Gefahr ist noch größer. Mit der weltweiten Verbreitung der in Xinjiang einge­setzten Hightech-Überwa­chungs­me­thoden – Gesichts­er­kennung, Handy­durch­su­chungen, biome­trische Daten­banken – werde dieser von Algorithmen getriebene Autori­ta­rismus früher oder später auch den Westen betreffen, so Zenz. In China gibt es zwischen Techno­lo­gie­un­ter­nehmen und dem Staat keine Trennung: IT-Unter­nehmen, einschließlich der Branchen­riesen Alibaba und Tencent, sind per Gesetz verpflichtet, dem Staat beim Erhalt dessen, was als nationale Sicherheit gilt, zu helfen. Wird das irgendwann auch in den liberalen Demokratien des Westens die Norm sein? „Es geht hier nicht nur um Xinjiang. Die Weltan­schauung, die hinter der Überwa­chung und den Lagern steht, geht uns alle an“, sagt Zenz.

In gewisser Weise kann man Xinjiang daher als das Big-Data-Labor des chine­si­schen Sicher­heits­ap­parats verstehen: „Die Erhebung und Sammlung von persön­lichen Daten finden natürlich nicht nur in Xinjiang statt“, sagt Zenz. „Aber in Xinjiang werden die Daten­banken von der Polizei geführt. Im Rest von China gibt es Pilot­pro­jekte, die zum Teil auch von der Polizei geführt werden. In Xinjiang wird das aber mit einer Inten­sität gemacht, wie es im Osten des Landes nicht der Fall ist.“

Sogar die Wirtschaft schlägt neue Töne an

Wie dem digitalen Überwa­chungs­staat zu begegnen ist, darüber gehen die Meinungen ausein­ander. „Deutschland ist gut in stiller Diplo­matie, das Land hat Liu Xiaobos Witwe, Liu Xia, aus China geholt. Aber so kann die Lager­si­tuation nicht behandelt werden“, sagt Peter Irwin, der Sprecher des Weltkon­gresses der Uiguren, der seinen Sitz in München hat. Irwin ist der Meinung, dass Sanktionen im Magnitski-Stil gegen einzelne chine­sische Beamte verhängt werden sollten.

Nach jahrzehn­te­langer inten­siver Zusam­men­arbeit mit China ist jüngst wohl auch die Industrie unruhig geworden. In Wirtschafts­kreisen ist China lange in erster Linie als Markt und Teilnehmer der kapita­lis­ti­schen Weltordnung wahrge­nommen worden, und nicht als politi­scher Akteur. Das scheint sich zu ändern. Europa und China befänden sich heute in einem System­wett­bewerb, der ein starkes, refor­miertes Europa als Gegen­ge­wicht brauche, erklärte der Bundes­verband der Deutschen Industrie (BDI) vor Kurzem in einem Grund­satz­papier: „Den wirtschaft­lichen und politi­schen Heraus­for­de­rungen durch China ist kein EU-Mitglied­staat allein gewachsen.”

Ein Verbrechen, das mafiös anmutet

Für Tahir Mutäl­lip Qahiri sind solche Diskus­sionen existen­ziell. Er will wissen, ob sein Vater noch lebt, wo er ist und was ihm vorge­worfen wird. Kürzlich rief er die Sicher­heits­ab­teilung der Univer­sität Kaschgar an. „Komm her, dann sagen wir es dir“, wurde ihm mitge­teilt – eine Falle. „Der Staat verweigert mir Infor­ma­tionen über meinen Vater“, sagt er. Die Verhaftung mute an wie das Verbrechen der Mafia: „Das ist nicht die Vorge­hens­weise eines Staates“, findet er.

Das bekann­teste Buch seines Vaters ist ein 900 Seiten starkes Kompendium, „Lexikon der uiguri­schen Perso­nen­namen“, das die Tradition der uiguri­schen Namens­gebung erforscht. Als “von weitrei­chender Bedeutung“ bezeichnet es Michael Knüppel, Mitar­beiter am Seminar für Turko­logie und Zentral­asi­en­kunde der Univer­sität Göttingen, und fügt hinzu: „Dem Verfasser wird der Dank vieler Genera­tionen von Namens­for­schern gewiss sein.“ Hinter Qahiris Interesse an uiguri­schen Namen steckt auch eine persön­liche Geschichte: Als sein Vater in die dritte Klasse ging, wurde sein Vorname, Qahir, von dem Rektor der Schule in Mutällip geändert. Die Begründung: Qahir sei zu arabisch und passe nicht ins sozia­lis­tische Zeitalter.

Was aber ist dran an dem Vorwurf der chine­si­schen Regierung, die uiguri­schen Häftlinge in Xinjiang würden inter­niert, weil sie islamis­tische Terro­risten seien? Ja, es habe Terror­an­schläge von Uiguren gegeben, sagt Qahiri. Aber der General­ver­dacht gegenüber Muslimen sei grundfalsch.

Das Handy von Qahiris Mutter ist inzwi­schen ausge­schaltet. Die seiner vier Geschwister klingeln zwar, aber niemand geht ran. Die staat­liche Rente seines Vaters wurde im vergan­genen Oktober einge­stellt. Qahiri weiß nicht einmal, ob er in Deutschland in Sicherheit ist. Unmit­telbar nach der Veröf­fent­li­chung eines Medien­be­richtes über die Verhaftung seines Vaters Ende November näherte sich ihm am Göttinger Rathaus ein Mann im Anzug, erzählt er. Der Mann habe ihn auf Chine­sisch als „Dieb“ bezeichnet. “Er hat mich beschimpft und ist geflohen, als ich ihn fragte, was er gegen mich hat“, sagt Qahiri: „Ich weiß nicht, ob das ein Zufall war oder ein geplanter verbaler Angriff.“

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