Studie „Die andere deutsche Teilung“: überraschende Erkenntnisse
Sind Ost- und Westdeutsche so verschieden, wie es scheint? Entspricht die Unterscheidung in Links und Rechts noch den Tatsachen? Nein, meinen die AutorInnen einer neue Studie. Die repräsentative Umfrage der NGO „More in Common“ untersucht die deutsche Gesellschaft anhand von Grundüberzeugungen und ihren Meinungen über das Zusammenleben. Das Ergebnis überrascht.
Was spaltet Gesellschaften? Über die Frage grübeln wir, seit der Rechtspopulismus westlichen Gesellschaften einen tiefen Riss zugefügt hat. Fehlende Anerkennung sei neben ökonomischen Faktoren entscheidend, heißt es in neueren Studien (Koppetsch 2019, Wilde et al. 2019). Oben und unten, West und Ost, links oder rechts – das sind die bestimmenden Variablen dieser Ansätze. Doch so verkennen wir das ganze Bild.
Die AutorInnen der Studie „Die andere deutsche Teilung: Zustand und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft“ der NGO „More in Common“ schlagen einen anderen Blickwinkel vor: Sie suchen nach den Grundüberzeugungen und Wertefundamenten von Menschen. In einer repräsentativen Umfrage und vielen Fokusgruppen kristallisierten sich sechs Typen heraus: Die Etablierten, die Involvierten, die Wütenden, die Offenen, die Pragmatischen und die Enttäuschten.
Ost und West sind ähnlicher als angenommen
Während die Enttäuschten das Fehlen von Zusammenhalt und Gemeinschaft beklagen, setzen sich die Involvierten für eben dieses Miteinander ein. Interessanterweise sind diese Typen in Ost- und Westdeutschland etwa gleich verteilt. Die Studie zeigt, dass sich Ost und West ähnlicher sind, als bisherige Forschungen nahelegten. Die stärkeren Wahlerfolge der AfD im Osten müssen andere Gründe haben.
Die Studie führt eine zweite Ordnungsebene ein. Sie teilt die Typen anhand ihrer Stellung im Gemeinwesen in drei gesellschaftliche Segmente ein: Die Involvierten und die Etablierten bilden gesellschaftliche Stabilisatoren, die Offenen und die Wütenden die gesellschaftlichen Pole, und die Pragmatischen und die Enttäuschten das unsichtbare Drittel. Gerade das letzte Segment gerät in politischen Debatten aus dem Blick. Hier liegt ein großes, politisches Potential; es handelt sich immerhin um ein Drittel der Gesellschaft, das sich politisch weitgehend abgekoppelt fühlt. Interessanterweise zählen 45 Prozent der unter 29-jährigen zu diesem Segment, während die Stabilisatoren überdurchschnittlich alt sind. Das alarmiert. Was passiert mit einer Gesellschaft, wenn die Pole wachsen oder politisch Uninteressierte die Mehrheit bilden?
Mehr als Dreiviertel aller Menschen trauen PolitikerInnen
Aufhorchen lässt auch die Politikerferne fast aller Typen: Nur 18 Prozent glauben, dass PolitikerInnen sich für sie interessieren. Selbst bei den Stabilisatoren meinen dies nur gut ein Fünftel. Politik wird als abgehoben angesehen; die AutorInnen sprechen gar von einem „übergreifenden Repräsentationsdefizit“ (S. 112). Die Distanz zwischen Volk und Politik ist groß, selbst in dem Teil der Bevölkerung, der die Gesellschaft eigentlich stabilisiert. Mehr noch: Etwa zwei Drittel der Befragten glauben, das Land bewege sich in eine falsche Richtung. Themen, bei denen sich die Befragten Veränderungen wünschen, sind Digitales, Wohnraum, gerechte Löhne, Klimaschutz und Alterssicherung.
Im Gegensatz zu anderen Studien (z.B. Koppetsch 2019, die den Neoliberalismus und die auf ihn folgende Entpolitisierung von Verteilungsfragen und Politisierung von Identitäten als Ursache sieht) fragt „More in Common“ nicht nach den Ursachen von Spaltungen. Der Blick ist in die Zukunft gerichtet. Wie kann man die verschiedenen Typen ansprechen? Die AutorInnen betonen, dass die Menschen sich konkrete politische Lösungen für die angesprochenen Themen wünschen, insbesondere bei Wohnen und Altersvorsorge. Über zwei Drittel aller Befragten wünschen sich einen starken Staat, der für sie sorgt. Das klingt anders als in politischen Debatten, in denen schnell „Sozialismus“ gerufen wird, wenn es um staatliche Eingriffe geht.
Politik nicht nur für die Sichtbaren
Was sind die zentralen Erkenntnisse aus der Studie? Drei Punkte:
- Das Vertrauen in die Berufspolitik ist erschreckend gering. Es fehlen Resonanzräume, in denen BürgerInnen sich regelmäßig begegnen. Zugleich ist die politische Beteiligung noch immer eine Klassenfrage. Auch mangelt es an Vertrauen in Medien als Informationsquelle. Sozialen Medien und dem persönlichen Umfeld werden ein höheres Vertrauen entgegengebracht. Wenn der Gesellschaft eine gemeinsame Wirklichkeit fehlt, wird es schwierig mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt.
- Es lohnt sich, nicht nur auf die lauten und gut sichtbaren Gruppen (die gesellschaftlichen Pole) zu schauen. Erfolgversprechender wäre, auf einen anderen gesellschaftlichen Bereich zu setzen: das unsichtbare Drittel. Diese Gruppe beteiligt sich an kollektiven Entscheidungsfindungen kaum noch – doch hier schlummert politisches Potenzial, das die Demokratie stabilisieren könnte, wenn man es denn weckt.
- Gerechtigkeit ist ein wichtiges Anliegen aller Gruppen, besonders in den Bereichen Wohnen und Alterssicherung. Sich verändernde Gesellschaften benötigen ein gewisses Maß an Sicherheit im Wandel, damit die Zustimmung zur Demokratie erhalten bleibt.
Mehr Informationen und die Studie gibt es unter www.dieandereteilung.de
Literatur
De Wilde, Pieter; Koopmans, Ruud; Merkel, Wolfgang; Strijbis, Oliver; Zürn, Michael (2019): The Struggle over Borders. Cosmopolitanism and Communitarism. Cambridge: Cambridge University Press
Koppetsch, Cornelia (2019): Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter. Bielefeld: Transcript
More in Common Deutschland (2019): Die andere deutsche Teilung. Zustand und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Berlin: More in Common Deutschland
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