„Die deutsche Politik schreckt vor einem robus­teren Vorgehen gegen die iranische Macht­elite zurück“

„Unter dem Motto einer auto­ri­tären Stabi­lität im Iran setzt der Westen auf kurz­fris­tige wirt­schaft­liche und sicher­heits­po­li­ti­sche Profite“ – Der Iran-Experte Ali Fathollah-Nejad im Interview über die vermeint­liche Erpress­bar­keit des Westens, die Zukunft der Protest­be­we­gung und welche Effekte es hätte, die Revo­lu­ti­ons­garden auf die EU-Terror­liste zu setzen.

Hat Sie der Ausbruch der Proteste im September letzten Jahres überrascht?

Nein. Mein Forschungs­schwer­punkt liegt seit Jahren auf den jüngeren Protest­be­we­gungen im Iran. Dabei vertrete ich die These, dass mit den landes­weiten Protesten um die Jahres­wende 2017/​18 ein revo­lu­tio­närer Prozess begonnen hat. Damals gingen zum ersten Mal die unteren Schichten, die bislang als soziale Basis des Regimes galten, massen­weise auf die Straße und haben Slogans gegen das gesamte Regime in allen seinen Kompo­nenten skandiert. Der Auslöser war die soziale Frage, die dann schnell mit poli­ti­schen Forde­rungen verbunden wurde. Im November 2019 führten Iraner:innen diese Proteste fort.

Was ist bei den aktuellen Protesten neu?

Das Schich­ten­über­grei­fende – was sie für das Regime besonders gefähr­lich macht. Nun sind wir im revo­lu­tio­nären Prozess wirklich ange­kommen. Ein weiteres Merkmal ist die ethnische Diver­sität der Protes­tie­renden. Die gab es zwar schon bei den vorigen Protesten. Doch tatsäch­lich sind aktuell zwei Regionen, in den besonders margi­na­li­sierte Ethnien behei­matet sind, Horte des Wider­standes: die Kurd:innen im Westen sowie die Balutsch:innen im Südosten des Landes.

Vor diesen Hinter­grund versucht das Regime, die Proteste als vom kurdi­schen Sepa­ra­tismus ange­trieben zu dele­gi­ti­mieren. Doch in der Realität zeichnet sich die Bewegung gerade durch eine ethnien- und schich­ten­über­grei­fende Soli­da­rität aus. Die Unzu­frie­den­heit der Iraner:innen ist überall zu spüren: bei den ethnisch Margi­na­li­sierten, den Frauen, der jungen Gene­ra­tion bzw. den Studie­renden, den Arbeitern. All diese Gruppen werden sozio­öko­no­misch, politisch und teils auch konfes­sio­nell diskriminiert.

Wo stehen die Proteste heute, nach knapp sieben Monaten?

Für die nächste Phase im revo­lu­tio­nären Prozess müssten mehr Menschen auf die Straße gehen, womöglich Hundert­tau­sende. Proteste einer solchen Größen­ord­nung können selbst durch ein so brutales Regime wie das iranische logis­tisch nur schwer nieder nieder­ge­schlagen werden. Zudem würde ein massiver inter­na­tio­naler Image­schaden bei einem Massaker drohen.
Darüber hinaus müsste die Arbei­ter­schaft in den wichtigen Wirt­schafts­sek­toren auf perma­nen­tere Weise ihre Arbeit nieder­legen – um an der ökono­mi­schen Achil­les­verse des Regimes anzusetzen.

Warum geschieht das bislang nicht?

Das hängt mit der Repres­sion des Regimes und dem kaum vorhan­denen ökono­mi­schen Netz in längeren Streik­zeiten zusammen. Darüber hinaus gibt es von Teilen der Arbei­ter­schaft Bedenken, ob die sozio-ökono­mi­sche Kompo­nente unter dem Protest­motto „Frau, Leben, Freiheit“ ausrei­chend berück­sich­tigt ist. Dennoch gehe ich davon aus, dass Stra­ßen­pro­teste demnächst wieder an Fahrt gewinnen werden. Denn die sozio-ökono­mi­sche Situation ist einfach desolat: Die Infla­ti­ons­rate liegt offiziell bei 50 Prozent, unab­hän­gigen Schät­zungen zufolge beträgt sie sogar das doppelte.

Welche weiteren Entwick­lungen braucht es, damit die Protest­be­we­gung von einem revo­lu­tio­nären Prozess in einen revo­lu­tio­nären Moment kommt?

Risse innerhalb des Macht- und Sicher­heits­ap­pa­rates. Zwar wurde kürzlich ein geleakter Bericht veröf­fent­licht, der deutlich macht, dass sich Komman­deure der Revo­lu­ti­ons­garden über die Loyalität der regulären Streit­kräfte Sorgen machen. Doch lassen sich bislang noch keine veri­ta­blen Risse beob­achten, die auch nach außen eindeutig wären. Dass dies nicht geschieht, hängt auch mit der west­li­chen Iran­po­litik zusammen.

Inwiefern?

Durch den Deal mit dem einstigen Erzri­valen Saudi-Arabien ist dem irani­schen Regime kürzlich ein Coup gelungen, mit dem es dem Trend seiner inter­na­tio­nalen Isolation entge­gen­wirken dürfte. Der Iran möchte als produk­tiver Akteur innerhalb der inter­na­tio­nalen Diplo­matie wahr­ge­nommen werden. Und das wiederum passt zur zurück­hal­tenden Reaktion des Westens – siehe etwa die bislang milden Sank­ti­ons­pa­kete der EU. Da ist man mit ange­zo­gener Hand­bremse vorangeschritten.

Wie stehen Sie zur viel disku­tierten Forderung, die Revo­lu­ti­ons­garden auf die EU-Terror­liste zu setzen?

In meinen Augen bleiben in der Debatte zwei Faktoren unter­be­lichtet. Statt einer realis­ti­schen Kosten-Nutzen-Analyse lässt man sich von den Gegen­dro­hungen aus Teheran einschüch­tern. Den Nutzen sehe ich in zwei Aspekten. Zum einen die positive Signal­wir­kung an die Protest­be­we­gung: man nimmt Abstand von der Politik der letzten Jahre, nun weht ein anderer Wind. Zum anderen würde eine Listung den Druck auf das gesamte Regime stark erhöhen, weil die Revo­lu­ti­ons­garden seine Lebens­adern sind. Das wäre ein Signal an das Macht- und Sicher­heits­estab­lish­ment: die Botschaft, dass das Regime hat keine Zukunft mehr hat. So würden Abspal­tungs­ten­denzen gefördert, und es könnten neue Macht­dy­na­miken entstehen.

In der Debatte werden vor allem zwei Gegen­ar­gu­mente genannt. Durch eine Listung der Revo­lu­ti­ons­garden würde auch unschul­dige Wehr­dienst­leis­tende ins Visier geraten. Darüber hinaus sei unklar, ob das Vorhaben juris­tisch wasser­dicht ist. Kritiker:innen befürchten, eine erfolg­reiche Klage würde dem irani­schen Regime einen großen Image­ge­winn verschaffen. Wie beur­teilen Sie diese Einwände?

Von den jährlich 400.000 Wehr­dienst­leis­tenden sind etwa 50.000 bei den Revo­lu­ti­ons­garden. In den meisten Fällen ist kein Zufall, dass sie dort gelandet sind, sondern Ausdruck einer Regi­menähe. Unschul­dige könnte man da heraus­fil­tern. Zudem stehen die Revo­lu­ti­ons­garden schon seit 2019 auf der Terror­liste der USA, begründet unter anderem mit ihren terro­ris­ti­schen Akti­vi­täten auf euro­päi­schem Boden. Insofern ist die recht­liche Grundlage nicht das Problem – sondern schlicht der poli­ti­sche Wille.

Wie erklären Sie sich das?

Man will sich die Tür offen­halten für die Wieder­auf­nahme der Atom­ver­hand­lungen. Es wird befürchtet, mit den Revo­lu­ti­ons­garden den wich­tigsten Akteur im System der Isla­mi­schen Republik Iran zu erzürnen. Mit Verweis auf die Listung durch die USA ist aller­dings fest­zu­halten, dass die iranische Seite in der Folge die Nukle­ar­ver­hand­lungen nicht begraben hat.

Bisher sprachen wir von der west­li­chen Iran­po­litik. Wie bewerten Sie die deutsche?

Trotz des markanten Einschnitts durch die aktuelle Protest­be­we­gung gibt es hier eine starke Konti­nuität. Ansätze eines Umdenkens sind zumindest rheto­risch zu erkennen, aber das wurde noch nicht umgesetzt in substan­ti­elle Politik. Nach wie vor schreckt die deutsche Politik vor einem robus­teren Vorgehen gegen die iranische Macht­elite zurück. Ich sehe da sogar frap­pie­rende Paral­lelen zu den soge­nannten Russlandverstehern.

Welche sind das?

Es gibt ähnliche geopo­li­ti­sche Prämissen. Vor allem die Idee von Wandel durch Handel bzw. Annä­he­rung. Dazu kommen ein Verkennen einer aggres­siven und expan­siven Außen­po­litik als macht­po­li­ti­sches Mittel von Dikta­turen, die oft als legitimes natio­nales Interesse durchgeht – sowie eine gehörige Portion Anti­ame­ri­ka­nismus. Nicht zuletzt sind es handfeste wirt­schaft­liche Inter­essen, die nicht abgewogen werden gegen geostra­te­gi­sche und geopo­li­ti­sche Risiken. Unter dem Motto einer auto­ri­tären Stabi­lität wird auf kurz­fris­tige wirt­schaft­liche und sicher­heits­po­li­ti­sche Profite gesetzt. Zwei Faktoren fallen dabei jedoch unter den Tisch: Menschen­rechte und nach­hal­tige sozio-ökono­mi­sche Entwick­lungen – obwohl beides länger­fristig entschei­dend zu geopo­li­ti­scher Stabi­lität beiträgt.

Wie sieht der protes­tie­rende Teil der irani­schen Bevöl­ke­rung auf die westliche Iranpolitik?

Es herrscht Unmut gegenüber der Haltung euro­päi­scher Staaten, die zumindest seit dem Atomdeal eine unkri­ti­sche Annä­he­rung an das Regime betrieben haben – und geschwiegen haben trotz massiver Menschen­rechts­ver­let­zungen (als Iran weltweit die höchste Exeku­ti­ons­rate vorzu­weisen hatte) sowie einer expan­si­veren Regio­nal­po­litik Teherans. Zu Recht wird nunmehr befürchtet, dass im Zuge einer Wieder­be­le­bung des Atomdeals die meisten ökono­mi­schen Pfründe ans Regime gehen würden. Nach der Imple­men­tie­rung des Abkommens im Jahr 2016 gab es eben keinen allent­halben in Aussicht gestellten wirt­schaft­li­chen Trickle-Down-Effekt oder eine Auswei­tung zivil­ge­sell­schaft­li­cher Räume vor Ort.

Der Atom­kon­flikt gilt als wich­tigster Spaltpilz in den Bezie­hungen zwischen der Isla­mi­schen Republik und dem Westen. Doch mit dem allei­nigen Fokus auf die Atomfrage hat sich der Westen selbst ins Abseits manö­vriert, seine reaktive Politik im Angesicht der nukleare Eska­la­tion Teherans wird von den irani­schen Macht­ha­bern als Schwäche wahr­ge­nommen. Das Regime instru­men­ta­li­siert den Atomdeal dafür, sich in anderen Bereichen vor west­li­cher Kritik zu immu­ni­sieren. So dient das gesamte Atom­pro­gramm allein der Stabi­li­sie­rung des Regimes. Es wird zwar verklärt als Verkör­pe­rung des natio­nalen und tech­no­lo­gi­schen Aufstiegs, doch dieses Narrativ hat in der irani­schen Gesell­schaft massiv an Glaub­wür­dig­keit verloren.

All das wird von der protes­tie­renden Bevöl­ke­rung verstanden und führt zur Einschät­zung, dass aktuell nicht der richtige Zeitpunkt ist, sich mit den Macht­ha­bern zur Wieder­be­le­bung des Deals und Redu­zie­rung der Sank­tionen an einen Tisch zu setzen. Alles in allem kann die Isla­mi­sche Republik nur in eine Entwick­lung gedrängt werden, falls es ein Zusam­men­spiel von Druck aus der irani­schen Gesell­schaft und dem Ausland gibt – und der Westen sich trans­at­lan­tisch zu einer einheit­li­cheren, robus­teren und umfas­sen­deren Iran-Strategie durch­ringt. Nur solch ein Szenario würde die iranische Staats­füh­rung ernst­nehmen und sie womöglich zu Kurs­kor­rek­turen bewegen können.

 

Das Interview führte Till Schmidt am 04.04.2023.

Dr. Ali Fathollah-Nejad ist Gründer und Direktor des Center for Middle East and Global Order (CMEG), welches zu Trans­for­ma­tionen und einer Inter­essen und Werte versöh­nenden Außen­po­litik forscht. Der deutsch-irani­scher Poli­to­loge arbeitet zum Nahen/​Mittleren Osten (insb. Iran), west­li­cher Außen­po­litik und post-unipo­larer Welt­ord­nung. Er ist außerdem McCloy Fellow on Global Trends des American Council on Germany (ACG) sowie Iran-Experte am Issam Fares Institute for Public Policy and Inter­na­tional Affairs der American Univer­sity of Beirut (IFI-AUB), wo er auch einen regel­mä­ßigen Iran-Report verfasst. Fathollah-Nejad ist Autor des Buches Iran in an Emerging New World Order: From Ahma­di­nejad to Rouhani (2021) sowie der Studie The Islamic Republic of Iran Four Decades On: The 2017/​18 Protests Amid a Triple Crisis (Brookings, 2020), wo er bereits vom Beginn eines lang­fris­tigen revo­lu­tio­nären Prozesses in Iran sprach. Nach der Promotion in Inter­na­tio­nalen Bezie­hungen und Entwick­lungs­stu­dien an der SOAS (School of Oriental and African Studies, Univer­sity of London), war er Post­dok­to­rand an der Harvard Kennedy School.

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