Ein freiheitlicher Staat ohne Boden
Gehören zur Freiheit die Krisen der Freiheit? Sicher ist: Die liberalen Demokratien befinden sich nicht erst seit dem erneuten Sieg Donald Trumps und dem Erstarken rechts-nationalistischer Kräfte in Europa im Krisenmodus. Die Ursachen dafür sind vielfältig und stammen aus verschiedenen politischen Lagern, wie Nikolai Ott herausarbeitet.
Das Bonmot, dass der “freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne” ist ein bekanntes Zitat des deutschen Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, das über die Staatsrechtslehre hinaus einen Widerhall in der Öffentlichkeit gefunden hat. Kaum ein Demokratie-Seminar kommt ohne es aus – was nicht zuletzt Christoph Möllers dazu bewegte, hierin einen regelrechten “Böckenförde-Midcult” zu entdecken. Und dennoch verbirgt sich in diesem schönen Aphorismus eine Interpretation, die es nicht erst mit Blick auf die Wahlen in Ostdeutschland neuzuentdecken gilt: das zerrissene Verhältnis von Liberalismus und Demokratie.
Demokratie ohne Liberalismus
Es ist sicherlich provokativ, wenn ich eingangs feststelle, dass die Rekord-Wahlbeteiligungen in Thüringen, Sachsen oder Brandenburg regelrechte Feste der Demokratie waren. Klar ist das zu banal und vielleicht auch zynisch. Aber doch zeigt sich, dass der Widerspruch zwischen dem Präfix liberal und dem dazugehörigen Wortstamm Demokratie wächst. Die Antwort auf die Frage, wie man Nicht-Wähler mobilisiert, haben nicht linksliberale Professoren der Politikwissenschaft gefunden, sondern AfD und BSW – so ehrlich muss man wohl sein. Die Demokratie lebt in Frankreich, in den USA und in Ostdeutschland – scheinbar auch ganz ohne Liberalismus. Der Ausruf der “Krise der Demokratie” wird durch einen zweiten, ehrlichen Blick zu einer “Krise des Liberalismus”.
Im 21. Jahrhundert tritt der Konflikt des 19. Jahrhunderts – zwischen Liberalen und Demokraten – unter umgekehrten Vorzeichen wieder hervor. Mussten im 19. Jahrhundert Liberale von der Stärke der Demokratie überzeugt werden, zweifelt die Demokratie heute am Liberalismus.
Die katastrophalen Wahlergebnisse der FDP als Ausdruck dieser diagnostizierten Krise zu sehen, wäre auch nicht ganz richtig. Um es mit Ralf Dahrendorf zu sagen, gibt es immer eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Olymp des Liberalismus und den Niederungen der FDP. Und doch scheinen die Ex-Ampel-Liberalen das größte Opfer eines panischen Zeitgeistes zu sein, in der sich der rhetorische Ausnahmezustand als gefühlter Alltag des Bürgers einrichtet. In einem Wahlkampf, in dem primär über illegale Flüchtlinge, Wirtschaftskrisen und einzufrierende Kriege gestritten wurde, gab es für die zunehmend ratlosen Liberalen keinen Blumentopf zu gewinnen. Gleiches gilt für die Grünen. Und auch die Siegerpartei CDU und der brandenburgische Ministerpräsident hätten ohne ihren rigorosen Oppositionskurs zur Ampel und die pflichtbewussten Leih-Wähler der Mitte trotz formell-schwacher Alternativen Wähler verloren.
Ein zunehmend verzagtes, verstörtes Bürgertum
Die Krise des Liberalismus zeitigt sich hier als Krise eines zunehmend ängstlichen, schüchternen, ja fast verstörten Bürgertums. Das Wagnis des freiheitlichen Staates, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist – hier sind wir wieder bei Böckenförde – war auch immer ein Wagnis der integrativen Funktion des Bürgertums. Eine bürgerliche Mitte, die die oberen Schichten zu einer Einschränkung ihrer Macht überredete und die unteren Schichten davon überzeugte, der Revolution ein (klein)bürgerliches Leben vorzuziehen. Eine Integration von oben und unten, die sich sukzessive durch das Herausbilden einer selbstbewussten Mittelschicht mitsamt eines staatstragenden Ethos stabilisierte. Das 19. “Jahrhundert des Liberalismus” (Dahrendorf) hatte aus sozialistischen Gewerkschaftsführern und konservativen Grundbesitzern zwar keine Liberalen im strengen Sinne gemacht, aber eine Koalition der Liberalität geschaffen, die unser modernes Verständnis der Demokratie prägte. An vielen Stellen bröckelt diese hier implizierte Grundierung der modernen Gesellschaft:
Herausforderungen des Liberalismus von links
Von links bleibt die Suche nach Antworten auf die “Erschöpfung utopischer Energien” (Habermas) aktuell und hat mithin zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen geführt, die den freiheitlichen Staat herausfordern. Von manch grüner Seite wurde mit der Idee des Degrowths der romantische Wunsch laut, viele Erfolge der Moderne rückgängig zu machen, um so Emissionen zu sparen. Was ein ausbleibendes Wachstum und eine geschwächte Wirtschaft für den elektoralen Erfolg von Extremisten bedeutet, lässt sich zielgenau in den USA oder Deutschland studieren. Auch materialistischere Grüne, die mit ihrem New Deal elektoral erfolgreicher waren, stoßen mittlerweile auf die Grenzen des Klein-Klein-Regierens, das an staatlichen Budgets, bürokratischen Limits und – ganz banal – an Wählerstimmen scheitert.
Mit dem Postkolonialismus breitete sich seit den 90er Jahren ein weiteres Feld in den Sozialwissenschaften aus, das eine Distanz zum Projekt des Westens einnimmt. Hier folgt aus der wichtigen Analyse des westlichen Kolonialismus oft der Trugschluss eines Ninisme. Eine Haltung des Weder-Noch, die der französische Philosoph Roland Barthes einst der bürgerlichen Gesellschaft vorwarf, und die in diesem Fall zu einem erstaunlichen Relativismus in den Internationalen Beziehungen führte, der sich in Relativierungen der Hamas, einer indifferenten Haltung zu Russland oder einer Ablehnung der NATO übersetzte. Dass trotz den Ungerechtigkeiten der geopolitischen Großwetterlage, das westliche System das System der größtmöglichen Freiheit bleibt, wurde hier zu lange durch akademische Phrasendrescherei vernebelt.
Aus ähnlicher Richtung kamen identitätspolitische Argumente, die es sich zum Auftrag gemacht hatten, bestehende Diskriminierungen in westlichen Gesellschaften zu beseitigen. Dass diese amerikanischen Importprodukte regelmäßig an der Realitäten europäischer Gesellschaften scheiterten, sollte nicht überraschen. Die Diskriminierungserfahrungen eines Polen in Brandenburg erfasst man mit Critical-Whiteness-Studien wohl nicht. Aber auch in Großbritannien oder den USA, scheitert der Minderheiten-Diskurs nicht zuletzt an der ablehnenden Haltung derer, die er eigentlich erreichen soll. Trotz dessen waren identitätspolitische Motive in den vergangen Jahren oft eine treibende Kraft, um Partikularismus vor Universalismus walten zu lassen. In dem gleichen Eifer, wie man noch so verstecke Diskriminierungen suchte, wurden komplizierte Methoden entwickelt, um diese zu beheben. Beauftragte für alles Mögliche in jeder Stadt, Quotenregelungen, Förderprogramme – das eigentliche Ziel hatte man da schon lange aus den Augen verloren, und – als Kollateralschaden – wichtige Werte wie Pluralismus und Individualismus obendrauf.
Rechts-konservative Antiliberale
Noch dramatischer sieht es auf der rechts-konservativen Seite aus. Hier scheinen die Redaktionsstuben in Zürich oder Berlin – aus Angst vor der linken Unterwanderung – ihre Bücherregale mit Oswald-Spengler-Gesamtausgaben zu füllen. Da droht überall der Untergang des Abendlandes oder Huntingtons Kampf der Kulturen, da gibt es nur noch den Ausnahmezustand und eine grassierende schlechte Laune. Man hat fast den Eindruck, dass sich konservativ-gewordene Journalisten nach ihrer linken Studenten-Vergangenheit sehnen. Einmal wieder in der kulturpessimistischen Avantgarde sein. Einmal wieder mit einer Wortgewalt sondergleichen die Wahrheit im Sinne des “Sagen, was Sache ist” ausrufen. Genau jene Journalisten und Politiker, die jahrelang linken Journalisten nicht ganz ohne Grund eine Zeitgeist-Konformität vorwarfen, gefallen sich jetzt in der Rolle derer, die das Overtone-Fenster immer weiter nach rechts öffnen. Immer schriller, immer radikaler und Hauptsache, gegen etwas. Nur aus dieser Logik lässt sich verstehen, warum da auch russophile Politiker als “Verteidiger des Abendlandes” porträtiert werden oder ganz offen Donald Trumps „unbürgerlicher Stil“ gepriesen wird.
Der marxistische Turn des Formell-Bürgerlichen vollzieht sich aber nicht nur am Schreibstil eines AStA-Senators, sondern auch an einem bizarr anmutenden Arbeiter-Fetisch. Hier hat man plötzlich wieder einen romantischen Archetyp des unentstellten Menschen gefunden. Einer, der anders ist und sich nicht dafür schämt. Einer, der noch mit den Händen arbeitet – Homo Faber und so – und nicht in Großstadt-Büros die Zeit totschlägt. Hier vermutet man das Gegengift auf Nietzsches Letzten Menschen. Ähnlich wie der Kleinbürger damals dem Habitus des Bourgeois nacheiferte, ziehen sich plötzlich Hauptstadt-Bürgerliche rhetorisch den Blaumann an. Das ist zwar in etwa so glaubwürdig, wie wenn Lehramt-Kinder von der Arbeiter-Revolution träumen, aber was solls. Neu ist all das nicht: Wer Ernst Jüngers “Der Arbeiter” liest, ist den intellektuellen Hintergründen schnell auf der Spur.
Liberalismus in der Defensive
Es sollte nicht verwundern, dass der Liberalismus in einem solchen Klima in die Defensive gerät. Wo nur noch der Ausnahmezustand regiert, überall die Krise grassiert, da ist zaghafter Optimismus eine Sünde. Wo mit einem Pathos à la “es muss sich morgen alles verändern, Basta!” gepoltert wird, da ist ein popperianisches Piecemeal-Engineering, eine Verbesserung des Schritt für Schritt, ein Skandal. Wo es kurzfristige Lösungen braucht, gilt Max Webers “langsames Bohren von harten Brettern” als Ausrede, um nichts zu verändern. Und wo Politik nur noch als Gegenspiel von privilegierten Städtern und unterdrückten Dörflern begriffen wird, ist Isaiah Berlins Pluralismus reinste Makulatur. Kulturkampf verhält sich zur Freiheit als disjunkte Menge und hat einen freiheitlichen Staat ohne Boden hinterlassen.
Ganz so einfach, wie hier angedeutet, sollten es sich aber auch die Liberalen nicht machen. Die Krise des Liberalismus zum Fremdprodukt zu erklären, mag sympathisch sein, aber bleibt in der Diagnose unterkomplex. Man denke zum Beispiel an die Warnungen eines Ralf Dahrendorf, der schon 1997 vor einem autoritären Jahrhundert gewarnt hatte, in der nicht ganz unbedeutenden Vorahnung, dass der moderne Staat an den Herausforderungen durch die Globalisierung zerbrechen könnte. Mit dem Freihandel und der Migration als Begleitphänomene der Globalisierung werden im Westen heute gleich zwei liberale Kernthemen zunehmend kritisch gesehen.
Demokratie fehlt Begegnung
Nicht zuletzt ist auch der von Dahrendorf genannte Begriff der Ligaturen zu nennen, der durch das thatchersche Dogma “there is no such thing as a society” leider auch von Liberalen ab den 90er Jahren übersehen wurde. Das Begleitsymptom des Übergangs von einer high-trust society in eine low-trust society unterwandert die Voraussetzungen des freiheitlichen Staates. An vielen Stellen sollte man Liberalismus wieder auf einer kleineren Ebene denken. In den Sportvereinen, den Dorfkneipen, den privaten Chören oder den regelmäßigen Klassentreffen – der deutsche Soziologe Rainald Manthe hat mit seinem jüngst erschienenen Buch “Demokratie fehlt Begegnung” hierzu einen wichtigen Text vorgelegt.
Auf einer höheren Ebene bedenke man auch die Mahnung von Friedrich August von Hayek, dass der Liberalismus nicht nur als politisches Programm, sondern auch als intellektuelle Idee reüssieren müsse. Abseits weniger Namen wie Stefan Kolev, Karen Horn oder Sabine Döring, befindet sich der deutsche Liberalismus (egal welcher Ausrichtung) auch intellektuell in einer Sackgasse. Gute Vorbilder gäbe es eigentlich genug. Das ständige Beschweren, dass es zunehmend wenige liberale Journalisten und liberale Professoren gibt, ist erstens nur halbrichtig und zweitens konsequenterweise ein hausgemachtes Problem.
Lebensphilosophische Verankerung des Liberalismus
Gleichermaßen gilt es die von Isaiah Berlin aufgebrachte Idee zu bedenken, dass abseits theoretischer Konzepte der Liberalismus auch eine lebensphilosophische Verankerung brauche. Die Voraussetzungen hierfür wären, wie zuletzt Alexander Lefebvre in seinem Werk “Liberalism as a Way of Life” anmerkte, eigentlich gegeben. Auf privater Ebene bleibt der Liberalismus, vermutlich selbst bei den Intellektuellen des sogenannten Postliberalismus, das dominierende Phänomen unserer Zeit. Politisch wird es darum gehen müssen, dieses Potenzial zu mobilisieren. An vorderster Front sind es die mutigen Ukrainer, die zeigen, dass der Kampf für dieses freiheitliche Leben irgendwann existentiell werden kann.
Wie hier zaghaft angedeutet, lassen sich multiple Schlussfolgerungen aus und für die Krise der liberalen Demokratie ziehen. Die Deutungskämpfe nach dem Sieg Donald Trumps haben zumindest schon begonnen. Von dem hier viel erwähnten Ralf Dahrendorf hörte man einst, dass zur Freiheit die Krisen der Freiheit gehören. Wie lange diese Krise nun andauert, wird man sehen müssen. Der sonst so rigorose Optimist Francis Fukuyama erklärt in der Financial Times unlängst, dass die Dinge vielleicht erst einmal viel schlechter werden müssen, bevor sie wieder besser werden. Das mag stimmen, wäre in der Konsequenz aber wohl die zweite falsche metaphysische Verabsolutierung seiner Karriere. Ausgemacht ist all das nicht, aber ohne Veränderungen wird es nicht gehen.
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