Die Frauen der belaru­si­schen Revolution: Lebens­ge­schichten voller Leid und Mut

Die Frauen der belaru­si­schen Revolution: Lebens­ge­schichten voller Leid und Mut

In ihrem aufwüh­lenden Buch „Der weiße Gesang. Die mutigen Frauen der belarus­si­schen Revolution“ gibt die in Berlin lebende Autorin Dorota Danie­lewicz den Protago­nis­tinnen des Wider­standes eine Stimme.

Was bringt Menschen dazu, gegen offen­kun­diges Unrecht aufzu­stehen? Aus welchen Quellen speist sich ihre Energie, selbst im Gefängnis nicht aufzu­geben – und danach, falls sie ihre Freiheit wieder­erlangen, gegen Depres­sionen und Traumata anzukämpfen? Erklä­rungs­mo­delle gibt es zuhauf: Politische, sozio­lo­gische, famili­en­psy­cho­lo­gische. Und doch vermögen selbst die ausge­feil­testen Analysen kaum vollständig ergründen, weshalb sich jemand für just dieses und nicht für das andere, das Entge­gen­ge­setzte entscheidet.

Woher kommen Kraft, Mut und innerer Kompass?

Weshalb, um konkret zu werden, protes­tiert die 1974 geborene belaru­sische Lehrerin und Thera­peutin Inna Trusava sogar noch im Herbst 2020 auf den Straßen von Minsk gegen die Wahlfäl­schungen vom 9. August jenes Jahres? Weshalb gibt sie auch in der Arrest­zelle nicht auf und findet danach bei einem Massen­verhör in einem ehema­ligen Veran­stal­tungssaal die Kraft, genau das zu beobachten: „Ich habe Männer gesehen, die so schlimm verprügelt wurden, dass sie kaum noch ihre Beine bewegen konnten. Sie wurden herein­ge­tragen. Einer war sogar bewusstlos, weil ihm auf den Kopf geschlagen wurde... Als ich aufstand, war mein Stuhl rot von der Monats­blutung.“? Und keine Theorie wird die folgende Begegnung erklären können: Wie Inna Trusava aufge­rufen wird, und inmitten der apoka­lyp­ti­schen Szenerie hinter dem Regis­trier­tisch ihre ehema­ligen Schülerin Alexandra wieder­erkennt, die, inzwi­schen in Uniform, gänzlich ungerührt fragt: „Inna Nikola­jewna, Sie waren als Lehrerin doch so recht­schaffen. Was machen Sie hier?“

Die unprä­ten­tiöse Kraft zum Guten – und die Banalität des Bösen

Unter Recht­schaf­fenheit verstanden beide Frauen offenbar etwas gänzlich anderes; die ehemalige Lehrerin wird weiterhin wie eine Verbre­cherin behandelt, erhält keine Binden, wohl aber den Befehl, selbst noch die Schnür­senkel ihrer Schuhe abzugeben. Inna Trusavas Vater war Fahrer, desin­ter­es­siert an Kunst und politi­schen Refle­xionen und stimmte stets für Lukaschenko. Seine Tochter hingegen sagt im Herbst 2021 – nunmehr im Exil im litaui­schen Vilnius – diesen Satz: „Familien wie unsere gibt es in Belarus häufiger: Die Frauen sind oft gebil­deter als ihre Ehemänner.“ Und bricht schließlich doch in Tränen aus, weil auch dies nichts wirklich erklären kann – weder den Mut noch die Nieder­tracht, weder die unprä­ten­tiöse Kraft zum Guten noch die schreck­liche Banalität des Bösen.

Gespräche mit 10 mutigen Frauen

Zehn solcher Gespräche mit belaru­si­schen Frauen hat die in Polen geborene und 1981 nach Westberlin überge­sie­delte Autorin Dorota Danie­lewicz in den letzten Monaten geführt – in Deutschland, Litauen und in Polen. Ihr Buch „Der weiße Gesang. Die mutigen Frauen der belarus­si­schen Revolution“ ist, intel­lek­tuell ebenso wie emotional, unver­zichtbar zum Verständnis jener Massen­pro­teste vom Sommer 2020 und der nachfol­genden Repres­sionen, die inzwi­schen hierzu­lande aufgrund des russi­schen Angriffs­krieges gegen die Ukraine fast schon ein wenig vergessen zu sein scheinen. Der Titel spielt an auf jene tradi­tio­nelle Gesangs­technik der damals demons­trie­renden Frauen, die selbst in den „Zufüh­rungs­bussen“ und den Arrest­zellen des Regimes weiter ihre Stimme erhoben.

Dabei wird nichts überhöht oder gar mytho­lo­gi­siert, und die Autorin, in ihren voran­ge­gan­genen Büchern erkennbar als versierte Stilistin, verzichtet (dies im Unter­schied zu manch männlichen Reporter-Kollegen) auch aufs effektvoll drama­tur­gisch gebaute „Schön­schreiben“ – nicht sie und ihre Beschrei­bungs-Brillanz stehen im Mittel­punkt, sondern die Geschichten jener Frauen, die inzwi­schen aus Belarus geflohen sind und oftmals nichts mehr haben als die Kraft ihrer eindring­lichen Worte.

Verschleppung und Exil

Da ist etwa die 1984 geborene Wolha Kawalkowa, die sich schon seit früher Jugend für Politik inter­es­siert, im Koordi­na­ti­onsrat der tatsäch­lichen Wahlge­win­nerin Swjatlana Zichanouskaja mitge­ar­beitet hatte und im August 2020 in das berüch­tigte Minsker Akrestina-Gefängnis verschleppt wurde. Ihr hat auch der christ­liche Glaube Mut gemacht, trotz schwerer gesund­heit­licher Probleme die Verhöre und den anschlie­ßenden Schein­prozess durch­zu­stehen, dazu die schlaf­losen Nächte in einer taghell erleuch­teten Zelle. Das Lesen der Bücher von Czeslaw Milosz und Hannah Arendt kam später im polni­schen Exil, wo sie mit Hilfe von EU-Abgeord­neten sich weiter für ihre Heimat engagiert. „Es kommt der Tag, an dem wir viele unter­schied­liche Politi­ke­rinnen und Politiker brauchen werden, und wir müssen dafür in Form bleiben. Es kann aber auch sein, dass die jetzigen Anführer und Anfüh­re­rinnen von bestimmten Prozessen überholt werden...“

Selbst­be­wusste Eleganz

Kein falscher, womöglich allzu hoher Welterklä­rungston ist in diesen Gesprächen, sondern immer wieder der Rekurs aufs Konkrete. Und noch etwas fällt auf: Die von Dorota Danie­lewicz auch fotogra­fierten Frauen verweigern sich dem härenen Gewand von Märty­re­rinnen und zeigen ganz selbst­be­wusst ihre Eleganz, ihre Schönheit – auch das eine Gegenwehr zur tristen Macho-Männerwelt des schnurr­bärtig-schmer­bäu­chigen Wahlfäl­scher-Poten­taten Lukaschenka und seiner zahlreichen Helfershelfer.

„Die Wahl ist es – der Mensch bleibt Mensch, solange er die Wahl hat“ – Iryna Novik

Als Kind hatte die 1970 geborene Iryna Novik zum Schul-Weihnachtsfest noch auf Wunsch der Mutter „als Revolution mit Hammer und Sichel auf dem Kopf“ posieren müssen, jetzt trägt sie im Exil osten­tativ ein berückend rotes Kleid – und verbirgt auch nicht ihr kurzes, doch bereits wieder gekonnt selbst­ge­styltes Haar; wie auch ihr Mann musste sie mit Chemo-Therapien gegen den Krebs ankämpfen. Und hat sich im Gefängnis an Buchstaben innerlich festge­halten, die an die Wände gekritzelt waren, oder an Wasser­flecken, die für sie zu Seeland­schaften wurden, da sie trotz ihrer immensen Erschöpfung ununter­brochen hin und her gehen musste und sich nicht hinsetzen durfte. „Die Wahl ist es – der Mensch bleibt Mensch, solange er die Wahl hat.“

Als Journa­listin für das inzwi­schen geschlossene Inter­net­portal „Grodno Live“ hatte Iryna Novik zuvor in der Stadt Grodno zu den Wahlfäl­schungen recher­chiert, die ein ebensolcher Offen­ba­rungseid waren wie die Antwort eines Polizei­be­amten, weshalb er fried­liche Bürge­rinnen in einem Gefäng­nis­trans­porter wegfahre, nur mürrisch nuschelte: „Ich bin wie ein Kassierer im Super­markt. Egal, ob du jemanden magst oder nicht, du musst alle nachein­ander bedienen.“

Hochbe­zahlte Repressionskräfte

Wobei einige dieser „Kassierer“, die Prügel-Einsatz­kräfte der höchst brutalen OMON nämlich, auch richtig Kasse machten: Bis zu 2000 Euro (eine geradezu märchen­hafte Summe in Lukaschenkas herun­ter­ge­wirt­schaf­tetem Belarus) erhielten sie zusätzlich zu ihrem Lohn – samt der Drohung, dieses Geld sofort zurück­zahlen zu müssen, falls sie etwa kündigten. Wer dagegen als Häftling die horrenden Straf­gelder nicht zu zahlen vermochte, dem wurden Auto und Hausstand beschlag­nahmt. Eine Erfahrung, die auch Nadieja Stepantzova machen musste, die zusammen mit ihrer Schwester Joanna seit 2021 im polni­schen Exil lebt. „Bei mir wurden die Möbel beschlag­nahmt. Bei uns heißt das offiziell ‚in Haft nehmen´. Als vorhin mein Handy klingelte, war das mein Mann. Er hat mir mitge­teilt, dass unsere Mikro­welle und der Staub­sauger gerade ´verhaftet´ wurden.“

„Wir sind Mütter und haben aus mütter­licher Sorge gehandelt“ – Nadieja und Joanna Stepantzova

Absurd, doch keineswegs komisch. Das Leben der beiden Schwestern hat eine radikale Wendung genommen, nachdem sie OMON-Polizisten (eine für ihre Bruta­lität gegen Demons­trie­rende bekannte Spezi­al­einheit der Polizei, Anm.d.Red.) im September 2000 an den Uniform-Ärmeln gezogen hatten, um zu verhindern, dass diese einen bereits am Boden liegenden jungen Mann zu Tode prügelten. „Wir sind Mütter und haben aus mütter­licher Sorge gehandelt.“ Das Urteil für die beiden Akade­mi­ke­rinnen: Dreieinhalb Jahre Arbeits­lager. Sie entscheiden sich für die Flucht und lassen aus Sicher­heits­gründen ihre Ehemänner zurück. Beinahe symbo­lisch und doch real, wie sie – 50 Jahre die eine, 48 die andere alt – im belaru­sisch-litaui­schen Grenz­gebiet zu überleben versuchen: „Überall war Sumpf, mit einem langen Stock haben wir geprüft, wohin wir den nächsten Schritt setzen können, ohne im Morast zu versinken.“ Solche Geschichten, solche Schicksale und solcher Mut.

„Jedes totalitäre System muss irgendwann zusam­men­brechen“ – Volha Vialicka

 Optimis­tisch ließe sich sagen, dass seit 1989 die Demokra­tiezone immerhin ausge­weitet worden ist: Litauen und das gesamte Baltikum sind längst ebenso ein sicherer Zufluchtsort wie auch Polen – trotz dortiger autori­tärer Tendenzen wie jenem Abtrei­bungs­verbot, gegen das dann auch aus Belarus geflüchtete Frauen auf den Straßen Warschaus demonstrieren.

Und doch: Es sind zu viele Geschichten von Leid und von Flucht, von jungen Studen­tinnen, deren Augusttag 2000 in Minsk oder Grodno als Wahlbe­ob­ach­terin begonnen hatte und die sich abends in einer Gefäng­nis­zelle wieder­fanden oder während der nächsten Monate in einem Arrest­verließ bei stechender Winterkälte.

Hören wir ihnen zu. Und nehmen als Warnung und Auffor­derung zu tätiger Solida­rität, was die inzwi­schen in Vilnius lebende Volha Vialicka sagt, die – ehe sie wegen ihrer Teilnahme an den Demons­tra­tionen quasi zum Freiwild erklärt wurde – in Grodno ein Hospiz geleitet hatte: „Es ist schwer zu reali­sieren, dass einem weder Recht noch Gerech­tigkeit je wider­fahren wird. Vielleicht werden selbst meine Kinder und ihre Kinder es nie erfahren... Doch der Totali­ta­rismus frisst sich letztlich selbst auf, jedes totalitäre System muss irgendwann zusammenbrechen.“

 

Dorota Danie­lewicz: „Der weiße Gesang. Die mutigen Frauen der belarus­si­schen Revolution.“ EUROPAVERLAG, München 2022. tte geb., 102 S., Euro 20,-

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