Bericht aus Wien: Neue Normalitäten
In Österreich verschieben sich die Grenzen des bisher Sagbaren. Die Liste der „Ausrutscher“ wächst in schwindelerregendem Takt. In seiner monatlichen Kolumne aus Wien fragt Fred Luks, ob die Empörung der Liberalen diesem Trommelfeuer standhalten kann. Es droht ein Normalisierungsprozess, der die Stimmung im Land verändert.
Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Die letzten Wochen waren politisch geprägt von Debatten über deutschnationale Burschenschaften, fragwürdige Polit-Netzwerke und den Umgang mit der Vergangenheit. Und wieder einmal zeigt sich, dass hierzulande anders über derlei Dinge diskutiert wird, als das üblicherweise in Berlin, Hamburg oder München der Fall ist. Im Zentrum stand ein gewisser Udo Landbauer, der nicht nur Spitzenkandidat der rechten FPÖ in Niederösterreich war, sondern auch eine führende Rolle in einer Burschenschaft gespielt hat. In deren Liederbuch, so kam heraus, gab es hier nicht zitierfähiges, eindeutig antisemitisches Material. Erst auf erheblichen Druck hin ist Landbauer von allen Ämtern zurückgetreten. Er ist seine politischen Funktionen los.
Wer will, dass die Moderne liberal bleibt, muss wachsam sein und den Mund aufmachen, wenn es darauf ankommt.
Damit ist Österreich freilich ein wichtiges Problem nicht los. Wie schrieb ein Facebook-Kommentator so schön: Dass man allen Ernstes diskutiert, ob Leute, die in abgrundtief ekelhaften Liedern die „Germanen“ anfeuern, Juden umzubringen, Nazis sind, sagt viel über die hiesige politische Kultur. Die Reaktionen auf den Skandal schwankten zwischen hysterischer Empörung und den üblichen Beschwichtigungsversuchen. Jenseits der abstrus-schrecklichen „Einzelfälle“ ist zu fragen: Was heißt das grundsätzlich?
Nichts Gutes, fürchte ich. Zwar hat der Bundeskanzler durchaus angemessen (wenn auch mit Verzögerung) auf die obige Angelegenheit reagiert, und die FPÖ hat jetzt eine Historikerkommission eingesetzt – deren Vorsitzender freilich eine ehemaliger Politiker der Partei ist… Dennoch kann der Eindruck entstehen, dass sich etwas verändert, etwas verschiebt. Ich meine damit nicht so sehr die Tatsache, dass durch die FPÖ nun zahlreiche Burschenschafter im Regierungsapparat tätig sind und diese Netzwerke massiv an Einfluss gewinnen. Sondern, vielleicht ist das ein zu unschuldiges Wort: die Stimmung.
Das ist natürlich nicht empirische Sozialforschung, sondern eher – ein Gefühl. Freilich eines, das viele Leute zu teilen scheinen. Übelstes antisemitisches Liedgut (müsste man „Liedschlecht“ sagen?), die Verwendung des Begriffs „Untermenschen“ durch eine FPÖ-Politikerin, viele andere „Ausrutscher“, offensive Kommunikation des „Flüchtlingsproblems“, Politik der harten Hand auf den Feldern Migration und Soziales? Man muss kein Fan von Verschwörungstheorien sein, um das zu vermuten. Es hängt zusammen. Natürlich nicht im Sinne einer sinistren Verschwörung, sondern als irritierende Parallelität von Entwicklungen, die das Leben verändern. In Richtung Autoritarismus womöglich, im schlimmsten Fall in Richtung „illiberale Demokratie“.
Nach der Finanzkrise 2008/09 war viel von der New Normalcy die Rede, vor der neuen Normalität. Stimmte zwar nicht, war aber damals ein Slogan, der ein Zeitgefühl auf den Begriff brachte. Passt der Begriff jetzt auch? Ahnen wir, dass die Normalität sich verschiebt, ohne zu wissen und ohne wissen zu können, wohin die Reise geht? Sind wir dabei, uns zu gewöhnen? Das Konzept der Shifting Baselines bringt auf den Begriff, wie (leicht) Menschen sich an neue Situation gewöhnen und wie veränderte Bezugspunkte der Realitätswahrnehmung (die shifting baselines eben) den Blick für Veränderungsprozesse verstellen. Gewöhnungs- und Anpassungsprozesse verschieben die Wahrnehmung dessen, was „normal“ ist.
Viktor Klemperer hat einmal geschrieben: „Worte können sein wie winzige Arsendosen, sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ Passiert das gerade? Wie gesagt: Sicher kann man da nicht sein – im Zweifel ist es aber ohne Zweifel besser, aufmerksam und misstrauisch zu sein statt schweigsam und naiv. Die neue Regierung, das hat man zu akzeptieren, ist demokratisch gewählt – an ihrer Legitimation zweifeln, zeigt weder von demokratischer Gesinnung noch von hohem intellektuellen Anspruch. Gleichzeitig zeigt das, was in der letzten Zeit in diesem Land passiert, ganz deutlich: Wer will, dass die Moderne liberal bleibt, muss wachsam sein und den Mund aufmachen, wenn es darauf ankommt.
Fred Luks privater Blog findet sich unter www.fredluks.com. Sein neues Buch Ausnahmezustand erscheint im April.
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