Fücks in der FAZ: Die vertrackte Russland-Mischung

Ralf Fücks kommen­tierte für die Frank­furter Allge­meine Zeitung die Deutsch-Russi­schen Bezie­hungen und das proble­ma­ti­sche Pipe­line­pro­jekt Nord Stream 2. Wir doku­men­tieren den Beitrag.

Die Ausein­an­der­set­zung um das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 ist ein Lehrstück deutscher Russ­land­po­litik. Ener­gie­wirt­schaft­lich ist die zweite Ostsee-Röhre über­flüssig – die vorhan­denen Pipe­line­ka­pa­zi­täten reichen für den abseh­baren Bedarf allemal aus. Klima­po­li­tisch ist das Projekt ohnehin aus der Zeit gefallen. Die neuen, ambi­tio­nierten Klima­ziele der EU erfordern eine Senkung des Gasver­brauchs noch in diesem Jahrzehnt. Euro­pa­po­li­tisch wirkt das Projekt als Spaltpilz. Ein Teil unserer Partner und die Mehrheit des Euro­pa­par­la­ments lehnen es ab.

Die Pipeline war von Anfang an ein geopo­li­ti­sches Projekt. Ihr primäres Ziel ist es, die Ukraine aus dem Gastransit zu drängen. Dass die Verträge für Nord Stream 2 nach der Annexion der Krim und der russi­schen Mili­tär­in­ter­ven­tion in der Ostukraine unter­zeichnet wurden, war schon ein Kardi­nal­fehler. Weshalb hält die Bundes­re­gie­rung trotz alledem eisern an diesem Projekt fest?

Eine vertrackte Mischung aus Ökonomie, Politik und Sentiment.

Die letzten Tage haben das Schein­ar­gu­ment abgeräumt, es handle sich um eine rein privat­wirt­schaft­liche Inves­ti­tion. Bundes­prä­si­dent Stein­meier rückte Nord Stream 2 in den Rang eines staats­po­li­ti­schen Projekts, als er an die deutsche Schuld gegenüber Russland erinnerte. Das ist maßlos überhöht und offenbart doch eine tiefere Wahrheit: Nord Stream 2 ist das Symbol für die deutsch-russi­schen Sonder­be­zie­hungen, eine vertrackte Mischung aus Ökonomie, Politik und Sentiment.

Laut einer Umfrage vom November 2019 wünschen sich zwei Drittel der Deutschen eine engere Zusam­men­ar­beit mit Russland. Dass Wladimir Putin an der Spitze eines auto­ri­tären, bis auf die Knochen korrupten Regimes steht, irritiert ebenso wenig wie der uner­klärte Krieg gegen die Ukraine und die russische Waffen­brü­der­schaft mit dem Schlächter Assad. Auch der Hacker­an­griff gegen den Deutschen Bundestag, die Mord­an­schläge gegen Putin-Gegner in Groß­bri­tan­nien und die Exekution eines ehema­ligen tsche­tsche­ni­schen Kämpfers im Berliner Tier­garten änderten nichts an dieser Haltung. Erst die Vergif­tung Alexej Nawalnys, seine spek­ta­ku­läre Verhaf­tung und die massive Poli­zei­ge­walt gegen die landes­weiten Proteste in Russland schienen ein Umdenken zu bewirken. Inzwi­schen ist die Empörung weit­ge­hend verpufft und die Reihen hinter Nord Stream 2 wieder fest geschlossen.

Dass die Rote Armee ein buntes Völker­ge­misch war, kommt in der deutschen Erin­ne­rungs­po­litik kaum vor

Wenn man nach Erklä­rungen für die deutsche Russland-Drift sucht, stößt man auf mehrere, sich über­la­gernde Schichten. Nach den Schrecken des zweiten Welt­kriegs ist Konflikt­ver­mei­dung gegenüber Russland das oberste Gebot deutscher Außen­po­litik. Weil der Kreml das weiß, hat er keine Hemmung, mili­tä­ri­sche Gewalt einzu­setzen. Ein anderer gewich­tiger Faktor wurde jetzt vom Bundes­prä­si­denten ins Spiel gebracht: Das Gefühl einer histo­ri­schen Schuld. Dabei werden die Opfer des deutschen Vernich­tungs­kriegs gegen die Sowjet­union allein Russland zuge­rechnet. Dass Weiß­russ­land und die Ukraine gemessen an ihrer Bevöl­ke­rung die meisten Toten zu beklagen hatten und die Rote Armee ein buntes Völker­ge­misch war, kommt in der deutschen Erin­ne­rungs­po­litik kaum vor. Die Schuld-Empathie richtet sich allein auf Russland.

Eine weitere Tiefen­schicht bildet der Mythos der Seelen­ver­wandt­schaft. Er beschwört das gemein­same Empfinden für Seelen­tiefe statt Kommerz, Gefühl statt kalter Ratio­na­lität, Tragik statt Hedo­nismus. Der Affekt gegen die westliche Moderne ist bis heute eine Unter­strö­mung in beiden Ländern. Auch die Idee einer Achse Berlin-Moskau lebt nicht nur in eura­si­schen Zirkeln fort. Dass euro­päi­sche Stabi­lität auf einem Arran­ge­ment mit Russland aufbauen muss, ist ein immer wieder­keh­rendes Mantra der deutschen Politik. In Polen, den balti­schen Ländern und der Ukrainer erinnert Nord Stream 2 an den unseligen Pakt der beiden Groß­mächte über ihre Köpfe hinweg.

Bis hierher und nicht weiter

Nicht zuletzt folgt die deutsche Russland-Politik starken wirt­schaft­li­chen Inter­essen. Seit jeher träumen führende Vertreter des deutschen Groß­ka­pi­tals von einem gemein­samen deutsch-russi­schen Wirt­schafts­raum. Deutsch­land liefert Maschinen und hoch­wer­tige Güter, Russland sichert die Rohstoff­basis der deutschen Industrie. Nord Stream 2 steht in dieser Tradition. Größer gedacht geht es um die Idee eines eura­si­schen Wirt­schafts­raums „von Lissabon bis Wladi­wostok“ als Gegen­pro­jekt zur trans­at­lan­ti­schen Orien­tie­rung Europas. Ursprüng­lich hieß dieses Projekt „Eine Frei­han­dels­zone von Vancouver bis Wladi­wostok.“ Es zielte auf die Inte­gra­tion Russlands in die euro-atlan­ti­sche Sphäre. Das macht einen Unter­schied ums Ganze.

Damit wir uns recht verstehen: Eine stra­te­gi­sche Part­ner­schaft mit Russland ist aus vielen Gründen wünschens­wert. Sie kann aber nur auf gemein­samen Werten und Regeln aufbauen, wie sie in der Pariser Charta für ein neues Europa verein­bart wurden:  Demo­kratie und Menschen­rechte, Gewalt­ver­zicht und gleiche Souve­rä­nität aller euro­päi­schen Staaten. Solange die russische Führung den entge­gen­ge­setzten Weg einschlägt, braucht es eine Politik, die den Konflikt nicht scheut, wo es um die Vertei­di­gung euro­päi­scher Werte und Inter­essen geht. Nord Stream 2 auf Eis zu legen wäre ein über­fäl­liges Signal an den Kreml: Bis hierher und nicht weiter. Der kraft­strot­zende Auftritt des Putin-Regimes täuscht – seine vermeint­liche Stärke beruht auf der Inkon­se­quenz des Westens.