Stalin, der „effektive Manager“

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Wenn nach einem Geschichts­wett­bewerb der FSB klingelt: Der russische Staat will die Deutungs­hoheit über die eigene Vergan­genheit nicht seinen Bürgern überlassen.

Albina Kadra­lijewa wunderte sich. Warum nur nennen so viele ihrer Nachbarn das Dorf, in dem sie wohnt, Schambaj? Eigentlich heißt es doch Wolschski, auf allen Papieren steht das. Die Schülerin geht dem geheim­nis­vollen Namen nach, findet heraus, dass in dem Ort direkt an der Wolga im Süden Russlands, in dem sie groß geworden ist, einst Kalmücken wohnten, ein westmon­go­li­sches Volk, das unter Diktator Josef Stalin in Massen depor­tiert worden war, wie so viele Völker der Sowjet­union in den 1940er Jahren. Kadra­lijewa bohrt nach, nahezu niemand in Wolschski will die Geschichte der Kalmücken kennen. Sie hört in Ruhe den Alten zu, forscht in Archiven und schreibt schließlich eine Erzählung: über ihr Dorf, letztlich auch über sich selbst. Wie auch Iwan Krylow, der auf dem Dachboden der Famili­en­datscha im Moskauer Umland scheinbar unnütze Papier­schnipsel aus einer verschlos­senen Schreib­tisch­schublade holt und feststellt, dass darauf einst sein Ururgroß­vater schrieb, noch zu Zeiten von Zarin Katharina der Großen. 

Portrait von Inna Hartwich

Inna Hartwich ist freie Journa­listin und lebt in Moskau.

Wer sind wir? Wo kommen wir her? Was hat uns geprägt? Jedes Jahr betei­ligen sich an die 2000 Schüler quer durch Russland am Geschichts­wett­bewerb von Memorial, der Menschen­rechts­or­ga­ni­sation, die Stalins Verbrechen dokumen­tiert und aktuelle Menschen­rechts­ver­let­zungen aufzeigt. Und die seit Jahren mit Russlands Macht­struk­turen in Konflikt gerät. Auch durch den Geschichts­wett­bewerb. Der stetige Vorwurf an die Menschen­rechtler: Antipatriotismus.

Der Wettbewerb mit dem Namen „Der Mensch in der Geschichte: 20. Jahrhundert“ richtet sich an 14- bis 18-jährige Schüler, die meisten gehen der Geschichte ihrer eigenen Familie nach. Die Aufsätze, die die Jugend­lichen schreiben, haben die kleinen Leute im Fokus, nicht die großen Helden. Russlands Geschichts­bücher aber sind voller Helden, voller Siege, die dunklen Geschichts­ka­pitel verschwimmen in Formeln wie: Stalin sei ein „effek­tiver Manager“, „großrus­si­scher Patriot“ und „bedeu­tender Moder­ni­sierer“ gewesen. Fängt einer das Hinter­fragen an, gilt er schnell als Nestbe­schmutzer, als Umschreiber der Geschichte, als vom Westen gelei­teter Antipa­triot. Die offizielle Politik pflegt einen zwiespäl­tigen Umgang mit den Opfern des Stali­nismus und nutzt das stali­nis­tische Erbe zur Stärkung einer „natio­nalen Identität“. Eines Konstruktes, an dem die Schüler, die bei „Der Mensch in der Geschichte“ mitmachen, zu rütteln wagen. Nach staat­licher Auffassung ist das kein gutes Unterfangen.

„Rossija 24“ wirft einer deutschen Stiftung vor, Schüler zum Umschreiben der Geschichte zu animieren

Der Staat will die Oberhand über die Auslegung der Geschichte genauso behalten wie die der Moral. Dazu gehört die unhin­ter­fragte Akzeptanz dessen, was die Mehrheit für die Norm hält. Die Taten Stalins und seiner menschen­ver­ach­tenden Indus­tria­li­sie­rungs­po­litik sollen nicht in Frage gestellt werden, ebenso wenig wie das Regie­rungs­handeln oder der sowje­tische Einsatz in Afgha­nistan 1989.

Aber dutzende Geschichts­lehrer quer durchs Land ermutigen ihre Schüler Jahr für Jahr zur Teilnahme am Memorial-Wettbewerb. Oder die Jugend­lichen strömen zu Konzerten von Teenager-Bands, die Lieder vom offenen Hosen­stall singen oder sich für ihre Video­clips mit einem brennenden Streichholz in der Hand vor dem Weißen Haus, dem Regie­rungssitz in Moskau, aufnehmen lassen. Sofort greifen die Sicher­heits­organe durch – um die Deutungs­hoheit darüber, was „richtig“ ist, nicht aus der Hand zu verlieren. 

Wurden die Konzerte der Teenie-Gruppen wegen angeb­licher feuer­wehr­tech­ni­scher Überprü­fungen vor einigen Monaten immer wieder abgesagt, gerieten jüngst Lehrer wie Schüler, die beim Geschichts­wett­bewerb von Memorial teilnahmen und gewannen, in ähnlicher Weise in die Fänge der Sicher­heits­organe. Nach der Preis­ver­leihung für die 43 besten Arbeiten des Jahres wurden die Preis­träger sowohl in Schul­di­rek­tionen als auch in Stadt­ver­wal­tungen zitiert. Auch der Innen­ge­heim­dienst FSB inter­es­sierte sich für die Gewinner. Sie sollten ihre Arbeiten aushän­digen und zusichern, sich an derar­tigen Wettbe­werben nicht mehr zu betei­ligen, berichtete Memorial und sieht in der konzer­tierten Aktion ein Zeichen der Einschüch­terung. Auch Deutschland wurde an den Pranger gestellt. In einem diffa­mie­renden Fernseh­beitrag zum Geschichts­wett­bewerb warf der Moderator des staat­lichen Nachrich­ten­senders „Rossija 24“ vor allem der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verant­wortung und Zukunft“ vor, die Schüler zum Umschreiben russisch-sowje­ti­scher Geschichte zu animieren. Die Organi­sation unter­stützt Memorial finanziell.

Das Interesse an authen­ti­scher Vergan­genheit ist nicht gestillt

Der Druck, der damit erzeugt wird, sät vor allem bei jungen Menschen Angst. Angst, die den Menschen auf dem Gebiet der ehema­ligen Sowjet­union seit Genera­tionen zu eigen ist – wegen der Vergan­genheit des Landes, die Jugend­liche bei einem Wettbewerb wie „Mensch in der Geschichte“ auf eine ganz persön­liche Art entdecken. Angst, die dazu führt, dass die meisten Schüler in Russland von den Verbrechen unter Stalin kaum etwas wissen. Dieser Angst gehen nicht nur so manche Achtklässler mit ihren Geschichts­lehrern nach. Ihr war auch einer der bekann­testen YouTuber Russlands gefolgt: mit seinem mehr als zwei Stunden langen Dokumen­tarfilm „Kolyma – Heimat der Angst“. Juri Dud, ein Moskauer Hipster, der mit seinem Interview-Kanal und vielen frechen Fragen an Politiker wie Showgrößen viel Geld verdient, fuhr mitten im Winter 2000 Kilometer auf der sogenannten „Straße der Knochen“ von Magadan nach Jakutsk. Mit seinem Porträt einer abgehängten Region samt einer flott daher­kom­menden Geschichts­stunde gelang ihm ein regel­rechter Inter­nethit, gerade unter Jugend­lichen. Die offizielle Geschichts­schreibung mag vielfach nur die Helden besingen, unter der Oberfläche aber ist das Interesse nach authen­ti­scher Vergan­genheit, so schwierig und schwer erträglich sie zuweilen sein mag, längst nicht gestillt.

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