Als die Macht auf der Straße lag

© Brück & Sohn Kunst­verlag Meißen

Das 20. Jahrhundert gilt als kurz: Es begann verspätet und endete verfrüht – jeweils mit einer Revolution. In ihrem Buch „Dresden 1919“ schildert die Autorin und DDR-Bürger­recht­lerin Freya Klier den Verlauf der Novem­ber­re­vo­lution in ihrer Heimatstadt.

Geschichte ereignet sich und setzt sich aus Ereig­nissen zusammen. In ihrem Verlauf gibt es Gelegen­heits­struk­turen, in denen selbst stabil wirkende politische Ordnungen plötzlich zusam­men­brechen. Meist geht dem ein Erlahmen ihrer tragenden Kräfte voraus. Die Macht liegt dann auf der Straße und kann von zielbe­wussten Akteuren und Bewegungen aufge­hoben werden. Erst in der Rückschau wirken solche Ereig­nisse folge­richtig. Das 20. Jahrhundert ist reich an histo­ri­schen Zäsuren und wenn von einem kurzen Jahrhundert gesprochen wird, dann meint man eine Epoche, die von 1918/​19 bis 1989/​90 reicht. Sie wird von zwei Revolu­tionen gerahmt, die Demokratie und Freiheit brachten. 

Portrait von Henry Krause

Henry Krause ist Politik­wis­sen­schaftler und arbeitet als Referent in der Sächsi­schen Staatskanzlei.

Die Erinnerung an die Dikta­turen des 20. Jahrhun­derts hat sich die Autorin, Regis­seurin und DDR-Bürger­recht­lerin Freya Klier zur Lebens­aufgabe gemacht. Unermüdlich reist sie durch das Land, referiert, disku­tiert und führt Projekttage an Schulen durch. In ihren Büchern und Filmen zeigt und dokumen­tiert sie die Auswir­kungen histo­ri­scher Ereig­nisse auf einzelne Menschen. Nun hat sie sich der Revolution von 1918/​19 zugewandt und schildert deren Verlauf in ihrer Heimat­stadt Dresden. Das Buch beginnt mit dem Kriegs­aus­bruch 1914, der in Deutschland für „erlösenden Jubel“ sorgte. Das erste Kapitel heißt „Krieger“; als Quellen nutzt die Autorin vor allem Tagebuch­auf­zeich­nungen und Brief­auszüge von Dresdner Künstlern wie Oskar Kokoschka, Otto Dix oder Otto Griebel. Diese Maler haben überlebt, wenn auch oft mit schweren Verlet­zungen; andere, wie Franz Marc und August Macke, nicht. Die an der Front entstan­denen Texte der Künstler ziehen den Leser in ihren Bann und führen das Massen­sterben auf den europäi­schen Schlacht­feldern vor Augen.

„Die Zeit hat Sieben­mei­len­stiefel an“

Das folgende Kapitel widmet Freya Klier den Frauen. Bereits im 19. Jahrhundert hatten sie begonnen, sich zu organisieren.Die Revolution war nun eine Gelegenheit, ihre Gleich­stellung wesentlich voran­zu­bringen. Bereits 1917 deutete sich eine Wahlrechts­reform an, bei der auch das Frauen­wahl­recht einge­führt werden sollte. Nur drei Tage nach der Macht­über­nahme der Arbeiter- und Solda­tenräte am 9. November 1918 in Berlin erklärte die provi­so­rische Regierung: „Alle Wahlen zu öffent­lichen Körper­schaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten und allge­meinen Wahlrecht aufgrund des propor­tio­nalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“ „Betäubend rasch“, nannte das die Dresdner Frauen­recht­lerin Marie Stritt, deren Leben und Wirken Klier mit ihrem Buch bekannt machen möchte.

Auch einige Jahre später, als Frauen in die kommu­nalen Parla­mente einzogen, staunte Stritt über die Geschwin­digkeit der Änderungen: „Irgend­welcher Wider­stand, wie er sich etwa vorher gegen die Mitarbeit der Frauen gezeigt hatte – und es hat daran natürlich nicht gefehlt! – machte sich, wenigstens nach außen, kaum noch bemerkbar. Auch im Publikum und in der Presse fand man sich überra­schend schnell mit der neuen Einrichtung ab, an die man noch vor kurzem die schlimmsten Befürch­tungen und Prophe­zei­ungen geknüpft hatte – so, als ob es nie anders gewesen wäre. Die Zeit hat Sieben­mei­len­stiefel an.“

Die junge Republik wird von rechts und links in die Zange genommen

Das Voran­schreiten mit Sieben­mei­len­stiefeln im Raum des Politi­schen hinter­lässt meist auch Opfer. Nicht immer lösen die Revolu­tionäre eine Bahnsteig­karte, wenn sie einen Bahnhof besetzen. Freya Klier schildert die Morde an den kommu­nis­ti­schen Führern Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin ebenso wie die Ermordung des Ministers für Militär­wesen, Gustav Neuring, am 12. April 1919 in Dresden. Der Sozial­de­mokrat wurde von einem Mob überwiegend Kriegs­ge­schä­digter aus seinem Minis­terium gezerrt und von der nahege­le­genen Brücke gestoßen, worauf ein Zielschießen auf seinen Kopf begann. Am nächsten Tag verhängte die Landes­re­gierung den Ausnah­me­zu­stand. Erst am 8. Mai wurde die Leiche des Ministers einige Kilometer elbab­wärts angeschwemmt.

Die Autorin versucht anhand der Quellen, den Umständen des Mordes, der in der DDR rechten Kräften in die Schuhe geschoben wurde, auf den Grund zu gehen. Offen­sichtlich war die Aktion gesteuert. Einige Tage vor der Ermordung hatte Neuring anonyme Morddro­hungen erhalten. In der Ankla­ge­schrift der Staats­an­walt­schaft werden die wirtschaft­lichen Hinter­gründe des Protestes beschrieben, der aber dann „das Opfer kommu­nis­ti­scher Agitation geworden“ sei. „Die gewaltsame Besei­tigung Neurings sollte das Zeichen zum Sturze der Regierung und zur Ausrufung der Rätere­publik geben.“ Ende Juli kam es zum Prozess. „Die Urteile fallen erschüt­ternd niedrig aus“, meint die Autorin. Es gab Freisprüche und Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren für die elf Angeklagten.

Freya Klier beschreibt an vielen Beispielen, wie die neu gegründete Republik von Anbeginn von rechts und links in die Zange genommen wird. Die eigene Dikta­tur­er­fahrung schärft den Blick für die Gefähr­dungen der jungen Demokratie. Etwas anders gewichtete das der in England lehrende Histo­riker Claus-Christian W. Szejnmann in seinem im Jahr 2000 von der Sächsi­schen Landes­zen­trale für politische Bildung heraus­ge­ge­benen Buch „Sachsen in der Weimarer Republik“: Die Landes­re­gierung habe den Vorfall benutzt, „um mit Hilfe des Reiches ein für allemal mit links­re­vo­lu­tio­nären Kräften (...) aufzu­räumen“. Sein Bedauern über das Scheitern des „links­re­pu­bli­ka­ni­schen Projektes“ erstaunt – angesichts der von Freya Klier beschrie­benen Aktivi­täten der radikalen Linken.

Auch zum Alltags­leben der Dresdner in dieser Zeit werden zahlreiche Quellen­funde präsen­tiert. Etwa aus der Pirnaer Zeitung vom Juni 1919, die berichtete, dass das Strand­leben an der Elbe „selbst in den größten Seebädern nicht anders zu beobachten ist“ und sich Tausende im frischem Wasser des Elbstromes tummelten. Aller­dings beleuchtet die Autorin auch die Entwicklung in ganz Sachsen und in Berlin. Das Buch endet mit einem „Ausblick ins Düstere“. Den Goldenen Zwanzigern bereitete die Weltwirt­schafts­krise 1929 ein Ende. Die Natio­nal­so­zia­listen profi­tierten sowohl vom wirtschaft­lichen Niedergang als auch von den politi­schen Spaltungen. Was das für den einzelnen Menschen bedeutete, schildert die Autorin anhand der Schicksale der Politi­ke­rinnen und Künstler, die den Leser durch das gesamte Buch begleiten. Einige haben den Natio­nal­so­zia­lismus nicht überlebt, manche nur mit Mühe. In ihren Lebens­läufen spiegelt sich das kurze Jahrhundert.

Freya Klier: Dresden 1919 – Die Geburt einer neuen Epoche, Herder, 2018

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