„Ich fürchte, es bahnt sich ein weiteres Münchner Abkommen an“

In seinem Buch „Appeasing Hitler“ („Mit Hitler reden“) unter­sucht der britische Histo­riker Tim Bouverie den Weg zum Zweiten Weltkrieg und nimmt dabei vor allem die briti­schen und zum Teil auch die franzö­si­schen Reaktionen auf Nazi-Deutschland in den Blick. Welche Paral­lelen er zwischen der Historie und dem Umgang heute mit Putin sieht, verrät er im Interview mit unserem Autor Till Schmidt.

Tim Bouverie, Jahrgang 1987, studierte Geschichte am Christ Church College in Oxford. Er arbeitete als politi­scher Bericht­erstatter für die BBC und schreibt unter anderem für The Spectator, The Observer und The Daily Telegraph. Bouverie lebt in London. „Mit Hitler reden“ ist sein erstes Buch und wurde ein Bestseller. 2025 erschien sein zweites Buch „Allies at War: The Politics of Defeating Hitler”.

Sie haben sich mit einer Zeit beschäftigt, von der wir alle wissen, wir sie schließlich ausge­gangen ist. Tim Bouverie, wie war es für Sie, vor diesem Hinter­grund ein Buch zu schreiben?

Wir alle wissen, dass die Beschwich­ti­gungs­po­litik mit dem katastro­phalsten Krieg der Mensch­heits­ge­schichte endete. Aber die Zeitge­nossen wussten es nicht. Die Tagebücher der führenden briti­schen Politiker, Journa­listen und Diplo­maten aus dieser Zeit zu lesen, hat sich angefühlt, als ob man einer griechi­schen Tragödie folgt.

Was macht Ihren Ansatz besonders?

Die Idee hinter dem Buch war es, dem Leser das Gefühl zu geben, die 1930er Jahre aus briti­scher oder franzö­si­scher Sicht zu durch­leben – inklusive der morali­schen und politi­schen Dilemmata der damaligen Zeit. Mein Buch stützt sich auf eine enorme Menge an zeitge­nös­si­schem Material wie privaten Tagebü­chern und diplo­ma­ti­schen Korre­spon­denzen. So lässt sich die Geschichte bis hin zu bestimmten Höhepunkten wie dem Anschluss Öster­reichs an das Deutsche Reich 1938 oder dem Münchner Abkommen im selben Jahr minutiös erzählen. Dadurch werden die enormen Unsicher­heiten, der Mangel an Infor­ma­tionen, die konkur­rie­renden Ansichten und die Debatten, die damals geführt wurden, deutlich.

Zudem wollte ich einen Schwer­punkt auf das sehr ungewöhn­liche Phänomen der Amateur­di­plo­maten legen. Sie alle waren Mitglieder der briti­schen Führungs­elite und wurden in den 1930er Jahren zu verschie­denen Erkun­dungs- oder Friedens­mis­sionen nach Deutschland entsandt. Außerdem stelle ich einige der Argumente in Frage, mit denen die Appeasement-Politik auch heute noch verteidigt wird. Eines davon ist die Vorstellung, dass Premier­mi­nister Chamberlain über das Münchner Abkommen versuchte, den Krieg hinaus­zu­zögern, um Großbri­tannien die Möglichkeit zu geben, sich auf den Krieg vorzu­be­reiten. Histo­risch ist das aber nicht haltbar.

Wie haben die Briten das Münchner Abkommen damals wahrgenommen?

Es gibt die Annahme, dass die Briten aus ihrem Beschwich­ti­gungs­schlaf erst erwachten, als Hitler das Münchener Abkommen aufkün­digte und im März 1939 in die gesamte Tsche­cho­slo­wakei einmar­schierte. Durch meine Forschung fand ich aller­dings heraus, dass der Glanz des Münchner Abkommens schon viel früher verblasste. Nach der anfäng­lichen Erleich­terung darüber, dass Großbri­tannien und Frank­reich im September 1938 nicht in den Krieg ziehen würden, stellte sich für die Menschen, die eine Woche lang Schlange gestanden hatten, um Gasmasken zu sammeln und in den öffent­lichen Parks Gräben auszu­heben, heraus, dass keine dieser Vorbe­rei­tungen notwendig war. Die Menschen erkannten zudem schnell: Es war die Schwäche Großbri­tan­niens und Frank­reichs, die das Münchner Abkommen ermöglichte.

Das erste einer ganzen Reihe wichtiger Ereig­nisse, die Sie unter­suchen, ist die italie­nische Invasion Äthio­piens 1935. Was macht diesen Krieg – sowie die inter­na­tio­nalen Reaktionen darauf – so bedeutsam?

Der Abessinien-Krieg von 1935/​36 zerstörte die Glaub­wür­digkeit des Völker­bundes. Die glanz­losen Reaktionen Großbri­tan­niens und Frank­reichs, die darin bestanden, nur einige wenig strafende Sanktionen gegen Italien zu verhängen, zeigten, dass sich die Demokratien der Gewalt und der Aggression beugen würden. Hätten sich Großbri­tannien und Frank­reich gegen Mussolini gestellt – was ihnen beispiels­weise durch die Blockade des Suezkanals sehr leicht möglich gewesen wäre oder indem sie italie­nische Schiffe daran gehindert hätten, italie­nische Truppen zu versorgen oder gar nach Abessinien zu trans­por­tieren –, dann hätte sich Hitler die Remili­ta­ri­sierung des Rhein­landes im März 1936 mögli­cher­weise zweimal überlegt. Statt­dessen zeigten sie im Zuge des Abessinien-Krieges nur, wie schwach sie waren. Ich denke, das ist eine zeitlose Lektion. Wenn ein Diktator ungestraft einen illegalen Krieg oder eine terri­to­riale Landnahme begehen kann, weil die geset­zes­treuen Teile der Welt nichts dagegen unter­nehmen oder keine ernst­haften Konse­quenzen folgen, dann ermutigt dies andere Dikta­toren oder Möchtegern-Macht­haber nur, Ähnliches zu tun.

Wie reagierte Hitler auf die italie­nische Aggression?

Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte Hitler oft versucht, Mussolini nachzu­eifern. Es war Musso­linis erfolg­reicher Marsch auf Rom 1922, der Hitler zu seinem Putsch­versuch 1923 in München inspi­rierte. Auch die italie­nische Invasion Abessi­niens war etwas, das Hitler bewun­derte und dem er ebenfalls nacheifern wollte. Die deutsche Remili­ta­ri­sierung des Rhein­landes 1936 war ein gewal­tiges Wagnis. Die Franzosen hätten die wenigen deutschen Truppen, die in die entmi­li­ta­ri­sierte Zone eindrangen, eigentlich leicht zurück­drängen können. Hitler war sich dessen bewusst, aber er hatte beobachtet, wie es den Demokratien nicht gelang, Mussolini an der Einnahme Abessi­niens zu hindern. Statt­dessen versuchten sie, Mussolini mit einem Abkommen zu beschwich­tigen. Für seine Aggression wurde Mussolini mit der Abtretung von zwei Dritteln des besetzten Abessi­niens belohnt.

Wie erklären Sie die Reaktionen Großbri­tan­niens und Frank­reichs auf dieses Ereignis?

In beiden Ländern herrschte die klare Überzeugung, dass die Öffent­lichkeit kein Interesse an einem englisch-franzö­si­schen Kriegs­ein­tritt in Abessinien hatte. In den 1930er Jahren sahen sich die Briten drei poten­zi­ellen Feinden gegenüber: Nazi-Deutschland, dem faschis­ti­schen Italien und dem kaiser­lichen Japan. Die General­stabs­chefs warnten das britische Regie­rungs­ka­binett ständig, es sei für das Empire unmöglich, allen drei Feinden gleich­zeitig entge­gen­zu­treten. Man war der Meinung, Mussolini stelle von diesen Feinden die geringste Bedrohung dar. Lediglich Deutschland, das damals als die bedroh­lichste Nation für die westeu­ro­päi­schen Demokratien galt, würde von einem ernst­haften Konflikt oder von einem Krieg zwischen Italien, Großbri­tannien und Frank­reich profi­tieren. Zudem war die italie­nische Invasion für Teile der briti­schen herrschenden Klasse schlichtweg nicht so schockierend. Ein Koloni­al­krieg im fernen Afrika schien britische und franzö­sische Inter­essen weniger unmit­telbar zu bedrohen als ein Krieg in Europa.

Was Großbri­tannien und Frank­reich jedoch nicht erkannten, war der Zusam­menhang dieser Handlungen. Sehen Sie hier auch Analogien zu heute?

Ich würde sagen, Putins Abessinien oder Putins Rheinland war die Besetzung der Krim und von Teilen des Donbass im Jahr 2014. Putin wartete damals ab, was der Westen tun würde. Und der Westen unternahm nichts. Genau deshalb war Putin einiger­maßen zuver­sichtlich, dass der Westen auch bei der Vollin­vasion in die Ukraine 2022 nichts unter­nehmen würde. Aber ähnlich wie Hitler, der dachte, die Briten und Franzosen würden ihm jederzeit mit Appeasement begegnen, hat sich Putins Vorstellung als falsch erwiesen.

Wer lange Zeit eine Appeasement-Politik vertreten hat, kann Dikta­toren und Aggres­soren nur schwer davon überzeugen, dass er irgendwann Wider­stand leisten wird. Das kann zu schwer­wie­genden Fehlein­schät­zungen auch auf Seiten der Dikta­toren führen – so wie die Invasion der Ukraine 2022 eine schwer­wie­gende Fehlein­schätzung Putins war. Auch die Einmärsche Nazi-Deutsch­lands in Polen und später in Frank­reich waren enorme Fehlkal­ku­la­tionen, weil Hitler davon ausging, dass die Demokratien entweder nicht kämpfen würden oder dass die Briten kapitu­lieren würden, sobald Frank­reich vernichtend geschlagen wäre.

Ihr Buch zeigt deutlich, dass die Ereig­nisse in Deutschland und die weiteren Entwick­lungen unter dem NS-Regime schon früh im Ausland verfolgt wurden. Welche Tendenz zeigt sich in der Korre­spondenz von Diplo­maten und in den Berichten der Medien­re­porter, die nach Nazi-Deutschland reisten? Was nahmen sie wahr – und was nicht?

Es gibt zwei Eindrücke, die nahezu diametral entge­gen­ge­setzt sind. In Deutschland herrschte eine sehr strenge Zensur. Aber dennoch wurde im Ausland umfassend über den Abbau der deutschen Demokratie und die Errichtung einer autori­tären Diktatur, über die Juden­ver­folgung und zunehmend über Milita­rismus, berichtet. Dies löste insbe­sondere unter Zentristen und Linken in Großbri­tannien große Besorgnis aus. Doch in den Jahren 1934 bis 1936 zeigten sich Besucher sowohl aus der briti­schen Rechten als auch von Mitte-Links äußerst beein­druckt vom Selbst­be­wusstsein einer Nation, die im Ersten Weltkrieg besiegt worden war und anschließend unter der Weltwirt­schafts­krise schwer gelitten hatte. Bewundert wurde die Art und Weise, wie Straßen gesäubert, Obdachlose vertrieben und die Arbeits­lo­sigkeit bekämpft worden zu sein schien. Was diese Berichte jedoch nicht berück­sich­tigten, war die Tatsache, dass die Arbeits­lo­sigkeit vor allem durch Ankur­belung der deutschen Kriegs­wirt­schaft bekämpft wurde.

Welche ideolo­gi­schen Verzer­rungen enthielten diese Berichte?

In den 1930er Jahren war die Angst vor dem Kommu­nismus weitaus größer als vor dem Faschismus. Die meisten Menschen in Frank­reich waren alarmiert, aber vielleicht noch mehr in Großbri­tannien, wo Privat­ei­gentum als Eckpfeiler von Demokratie und Freiheit sowie eines erfolg­reichen Kapita­lismus gilt. Die meisten Briten empfanden die Behandlung der deutschen Juden als geschmacklos und abscheulich. Nur sehr wenige sympa­thi­sierten damit. Die Reichs­pro­grom­nacht im November 1938 führte zu einem Aufruhr in allen Teilen der Gesell­schaft. Dieje­nigen Rechten, die den Kommu­nismus verab­scheuten, bewun­derten den Natio­nal­so­zia­lismus in vielerlei Hinsicht und waren dem Antise­mi­tismus gegenüber ambivalent oder selbst antise­mi­tisch einge­stellt. Doch viele Rechte des briti­schen Estab­lish­ments erklärten im Zuge der November-Pogrome von 1938 erstmals öffentlich, Großbri­tannien könne unmöglich normale Bezie­hungen zu einem Land erwarten, das sich so barba­risch verhalte. Es ist sehr inter­essant, dass eine deutsche Gräueltat im eigenen Land vormalige Vertei­diger des Natio­nal­so­zia­lismus in Großbri­tannien davon überzeugte, dass eine Verstän­digung mit dem Hitler-Regime nicht mehr möglich sei.

Hitlers „Mein Kampf“ wurde in seiner deutschen Origi­nal­fassung 1923 veröf­fent­licht und wurde nach der Macht­über­nahme der Nazis zehn Jahre später für die Deutschen zur Pflicht­lektüre. Wie wurde „Mein Kampf“ von briti­schen Diplo­maten und Journa­listen wahrge­nommen und diskutiert?

Es ist erstaunlich, wie wenig „Mein Kampf“ von briti­schen und franzö­si­schen Politikern und Diplo­maten gelesen wurde. Einige haben das Buch aber sorgfältig studiert. Großbri­tan­niens erster Botschafter in Berlin während der Nazizeit, Sir Horace Rumbold, verfasste auf Grundlage seiner Lektüre von „Mein Kampf“ eine meister­hafte Depesche, in der er die Entwicklung und die Ambitionen des Hitler-Regimes sehr treffend vorhersagt. In seinem Buch schreibt Hitler ja nicht nur über den bekannten Wunsch, Lebensraum in Osteuropa und Russland zu erwerben, sondern auch darüber, dass Deutschland eine endgültige Abrechnung mit seinen alten Antago­nisten Großbri­tannien und Frank­reich vornehmen müsse. Hitler besaß das Urheber­recht an „Mein Kampf“, weshalb er die Veröf­fent­li­chung kontrol­lieren konnte. Die übersetzte Version war um ein Drittel kürzer als das Original und enthielt weniger aufrüh­re­ri­sches Material.

Gelegentlich fragten britische Diplo­maten oder Besucher Nazi-Deutsch­lands nach „Mein Kampf“ und sagten: „Nun, Ihr Führer sagt aber, er wünsche sich einen Rache­krieg, die Nation müsse sich im perma­nenten Kriegs­zu­stand befinden, er verherr­licht den Krieg.“ Stets erhielten sie die gleiche Antwort: „Oh, dem dürfen Sie keine Beachtung schenken. Das hat er geschrieben, als er noch sehr jung war und im Gefängnis saß.“ Dieses Konzept ist uns heute von anderen Staats­ober­häuptern bekannt. Oft heißt es, sie würden nicht mehr so ​​radikal sein, wenn sie erst einmal an der Macht sind, da das System sie vor ihren abwegi­geren Aussagen aus der Opposition schützen würde. Es ist schon irritierend, dass briti­schen Diplo­maten und Besuchern gesagt wurde, sie sollten „Mein Kampf“ als Jugendwerk abtun, während es in Nazi-Deutschland absolute Pflicht­lektüre war.

Welche Rolle spielte diese Naivität und Leicht­gläu­bigkeit im diplo­ma­ti­schen Umgang mit Hitler?

Die briti­schen Botschafter in Deutschland wurden immer schlechter. Sir Horace Rumbold war sehr scharf­sichtig, musste aber im Juli 1933 in den Ruhestand gehen. Er wurde durch Sir Eric Phipps ersetzt, der einige sehr gute Depeschen verfasste, aber eher zur Appeasement-Politik neigte. Sein Nachfolger Sir Neville Henderson war als Diplomat eine völlige Katastrophe. Viele Diplo­maten glaubten Hitler tatsächlich, wenn er sagte, er wolle keinen Krieg. In Wirklichkeit aber versuchte Hitler so lange wie möglich, seine Ambitionen vor dem Westen zu verbergen, um ihn in falscher Sicherheit zu wiegen. Und tatsächlich wünschte sich Hitler keinen Krieg gegen das Britische Empire. Aber der Preis dafür war: Großbri­tannien müsse eine deutsche Hegemonie in Europa zulassen.

Einer der wichtigsten – und zugleich tragischsten – Protago­nisten Ihres Buches ist der britische Premier­mi­nister Neville Chamberlain. Wer war dieser Mann? Was ist sein Vermächtnis?

Das gängige Bild von Neville Chamberlain ist das des schwachen Premier­mi­nisters, der Hitler beschwich­tigte und dabei ineffektiv war. Als Person aber war er ein sehr starker und entschlos­sener Premier­mi­nister, der eine breite parla­men­ta­rische Mehrheit hinter sich hatte und der absolut davon überzeugt war, Recht zu haben und zu wissen, was er tut. Chamberlain war zielstrebig und entschlossen. Zudem handelte er äußerst schonungslos. So instru­men­ta­li­sierte er als Premier­mi­nister die Geheim­dienste, um seine politi­schen Gegner auszu­spio­nieren und setzte schmutzige Tricks ein, um Leute wie Winston Churchill, die seiner Appeasement-Politik kritisch gegen­über­standen, innerhalb der konser­va­tiven Partei zu diskreditieren.

Neville Chamberlain war ein Mann des Friedens. Er hatte nicht im Ersten Weltkrieg gekämpft so wie etwa Churchill. Chamberlain empfand Krieg als völlig abscheulich und unver­ständlich. Chamberlain konnte Hitler einfach nicht verstehen. Er konnte einfach niemanden verstehen, der Krieg wollte. Er konnte nicht begreifen, wie ein Mann, der im Ersten Weltkrieg ebenfalls in den Schüt­zen­gräben gewesen war, wirklich Krieg wollen konnte. Vor seinem Amt als Premier war Chamberlain Oberbür­ger­meister von Birmingham gewesen und hatte ein eher provin­zi­elles Leben geführt. Einer seiner Gegner innerhalb der Konser­va­tiven Partei witzelte nach seinem Tod: „Das Problem mit Neville Chamberlain ist, dass er in Birmingham nie jemanden getroffen hat, der wie Adolf Hitler war.“

Eine weitere histo­risch wichtige Person in Ihrem Buch ist jemand, der immer noch etwas im Hinter­grund bleibt: Winston Churchill. Im heutigen Großbri­tannien ist sein Erbe angesichts seiner Betei­ligung an der briti­schen Koloni­al­herr­schaft als Politiker, Soldat und ehema­liger Kriegs­re­porter umstritten. Was ist sein Vermächtnis?

Winston Churchill steht in zahlreichen Fragen im Wider­spruch zu unserem heutigen, oft frömm­le­ri­schen Moral­emp­finden. Wie die meisten seiner politi­schen Zeitge­nossen hatte Churchill vikto­ria­nische Rassen­vor­stel­lungen und war Imperialist. Das ist also die eine Seite seiner Person, durchaus zu Recht kriti­siert werden kann. Ein rassis­ti­sches Vorurteil, das er im Gegensatz zu vielen Zeitge­nossen jedoch nicht hegte, war der Antise­mi­tismus. Und einer der Gründe, warum Churchill den Natio­nal­so­zia­lismus schon früh als so große Bedrohung und düstere Ideologie erkennen konnte, war der antise­mi­tische Charakter dieses Regimes.

Churchill konnte, unter anderem aufgrund seiner histo­ri­schen Vorstel­lungs­kraft und seiner Kriegs­men­ta­lität, jemanden wie Hitler verstehen. Churchill glaubte schon vor Hitlers Macht­er­greifung, dass Deutschland einen Krieg beginnen könnte, um die Demütigung von Versailles zu rächen. Mit dieser Ansicht war er unter den briti­schen Konser­va­tiven fast der Einzige.

Großbri­tannien hat den Zweiten Weltkrieg nicht gewonnen. Um Deutschland zu besiegen waren die Unter­stützung der Verei­nigten Staaten und die Helden­taten der Roten Armee nötig. Doch meiner Meinung nach haben Churchill und das britische Volk Hitler den Sieg verwehrt: Hitler kam einem Sieg am nächsten, als das Kriegs­ka­binett in London angesichts des Zusam­men­bruchs Frank­reichs über Verhand­lungen mit Hitler debat­tierte. Churchill lehnte das ab. Denn ein Frieden zu diesem Zeitpunkt hätte es nahezu unmöglich gemacht, das Nazi-Regime zu stürzen. Hitler hätte anschießend das Britische Empire unter­graben und dann auch Gebiete der Welt bedroht, in denen die Verei­nigten Staaten aktiv waren. Mit einer Kapitu­lation von Großbri­tannien 1940 hätte die Welt nur schwer vor dem Natio­nal­so­zia­lismus gerettet werden können.

Wie kann ein Vergleich der briti­schen Appeaser und der Anti-Appeaser jener Zeit helfen, die aktuellen geopo­li­ti­schen Verän­de­rungen und Heraus­for­de­rungen besser zu verstehen?

Die briti­schen Appeaser behaup­teten, Ost- und Mittel­europa sei nie ein Anliegen Großbri­tan­niens gewesen. Als See- und Weltmacht sollten sich die Briten viel mehr um die Gescheh­nisse in Ceylon kümmern als um die Gescheh­nisse in der Slowakei. Polen sei, so hieß es, strate­gisch nicht einmal die Knochen eines einzigen briti­schen Grena­diers wert.

Die Anti-Appeaser hingegen hatten ein sehr starkes Bewusstsein für die Geschichte Großbri­tan­niens – nicht nur als Imperium, sondern auch als Teil Europas. Für sie war die britische Politik seit mehreren hundert Jahren von einem einzigen Prinzip geleitet worden: um nämlich zu verhindern, dass eine einzelne Macht den Kontinent beherrscht. Aus diesem Grund kämpfte Großbri­tannien gegen die franzö­si­schen Revolu­ti­ons­armeen und Napoleon; aus diesem Grund kämpfte Großbri­tannien im Ersten Weltkrieg gegen den deutschen Kaiser; und um Nazi-Deutschland an der Vorherr­schaft über den Kontinent zu hindern, zogen Großbri­tannien und Frank­reich 1939 schließlich in den Krieg.

Dikta­toren müssen irgendwann gestoppt werden. Wenn Chamber­lains Einschätzung Hitlers richtig gewesen wäre, dann hätte das Münchner Abkommen von 1938 Sinn ergeben, auch wenn es unmora­lisch und unehrenhaft gewesen sein mag. Chamberlain kam von seinen drei Treffen mit Hitler zurück und glaubte dessen Versprechen, nicht die gesamte Tsche­cho­slo­wakei zu wollen und lediglich daran inter­es­siert zu sein, die Deutsch­spra­chigen in sein Reich zu holen. Die Aufteilung der Tsche­cho­slo­wakei war für Chamberlain besser als ein weiterer europäi­scher Krieg.

Heutzutage muss man sich bei Putin fragen, ob er angesichts der von Trump vorge­schla­genen Abkommen wirklich bereit ist, seine Expansion zu stoppen. Wenn man garan­tieren könnte, dass die Einnahme der Krim und des Donbass das Ende ist, dann spricht vielleicht etwas für ein Abkommen, so unmora­lisch es auch sein mag. Aber ich habe große Zweifel, dass Putin aufhört. Ich denke, ein Abkommen wäre nur eine Atempause.

Welche grund­sätz­lichen Lehren lassen sich aus der Zeit des Appease­ments ziehen?

Analy­sieren Sie Ihre Gegner, poten­zi­ellen Gegner oder Aggres­soren klar, realis­tisch und gründlich. Was sind ihre wahren Ziele? Was versuchen sie zu erreichen und was ist ihr langfris­tiges Ziel? Entspricht das dem, was sie gerade behaupten? Kann man Putin also bei einem möglichen Friedens­ab­kommen in der Ukraine vertrauen? Wird dieses Abkommen ein weiteres Münchener Abkommen sein oder ist es eine tatsäch­liche Einstellung der Feind­se­lig­keiten? Ich fürchte, es wird sich ein weiteres München anbahnen.

Zweitens: Vernach­läs­sigen Sie nicht Ihre eigene Vertei­digung. So falsch Donald Trump in den meisten Dingen liegt, so hat er doch Recht, wenn er sagt, dass Europa seine Vertei­digung viel zu lange vernach­lässigt hat. Jetzt ist es also an der Zeit, sie wieder aufzubauen.

Und drittens: Betrachten Sie Ihre Verbün­deten nicht als selbst­ver­ständlich. Die Welt ist seit dem Zweiten Weltkrieg viel kleiner geworden. Viele der Bedro­hungen, denen wir als Planet und als Spezies ausge­setzt sind – vom Klima­wandel über Pandemien bis hin zum Cyber­krieg – können nur auf multi­la­te­raler Ebene bewältigt werden. Verbündete sind sehr wichtig, auch wenn sie manchmal ärgerlich sein können. Wie Winston Churchill sagte: „Es gibt nur eines, was schlimmer ist, als mit Verbün­deten zu kämpfen, und das ist der Kampf ohne sie.“ Das könnten selbst die Verei­nigten Staaten bald erkennen.

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