„Ich fürchte, es bahnt sich ein weiteres Münchner Abkommen an“
In seinem Buch „Appeasing Hitler“ („Mit Hitler reden“) untersucht der britische Historiker Tim Bouverie den Weg zum Zweiten Weltkrieg und nimmt dabei vor allem die britischen und zum Teil auch die französischen Reaktionen auf Nazi-Deutschland in den Blick. Welche Parallelen er zwischen der Historie und dem Umgang heute mit Putin sieht, verrät er im Interview mit unserem Autor Till Schmidt.
Tim Bouverie, Jahrgang 1987, studierte Geschichte am Christ Church College in Oxford. Er arbeitete als politischer Berichterstatter für die BBC und schreibt unter anderem für The Spectator, The Observer und The Daily Telegraph. Bouverie lebt in London. „Mit Hitler reden“ ist sein erstes Buch und wurde ein Bestseller. 2025 erschien sein zweites Buch „Allies at War: The Politics of Defeating Hitler”.
Sie haben sich mit einer Zeit beschäftigt, von der wir alle wissen, wir sie schließlich ausgegangen ist. Tim Bouverie, wie war es für Sie, vor diesem Hintergrund ein Buch zu schreiben?
Wir alle wissen, dass die Beschwichtigungspolitik mit dem katastrophalsten Krieg der Menschheitsgeschichte endete. Aber die Zeitgenossen wussten es nicht. Die Tagebücher der führenden britischen Politiker, Journalisten und Diplomaten aus dieser Zeit zu lesen, hat sich angefühlt, als ob man einer griechischen Tragödie folgt.
Was macht Ihren Ansatz besonders?
Die Idee hinter dem Buch war es, dem Leser das Gefühl zu geben, die 1930er Jahre aus britischer oder französischer Sicht zu durchleben – inklusive der moralischen und politischen Dilemmata der damaligen Zeit. Mein Buch stützt sich auf eine enorme Menge an zeitgenössischem Material wie privaten Tagebüchern und diplomatischen Korrespondenzen. So lässt sich die Geschichte bis hin zu bestimmten Höhepunkten wie dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 oder dem Münchner Abkommen im selben Jahr minutiös erzählen. Dadurch werden die enormen Unsicherheiten, der Mangel an Informationen, die konkurrierenden Ansichten und die Debatten, die damals geführt wurden, deutlich.
Zudem wollte ich einen Schwerpunkt auf das sehr ungewöhnliche Phänomen der Amateurdiplomaten legen. Sie alle waren Mitglieder der britischen Führungselite und wurden in den 1930er Jahren zu verschiedenen Erkundungs- oder Friedensmissionen nach Deutschland entsandt. Außerdem stelle ich einige der Argumente in Frage, mit denen die Appeasement-Politik auch heute noch verteidigt wird. Eines davon ist die Vorstellung, dass Premierminister Chamberlain über das Münchner Abkommen versuchte, den Krieg hinauszuzögern, um Großbritannien die Möglichkeit zu geben, sich auf den Krieg vorzubereiten. Historisch ist das aber nicht haltbar.
Wie haben die Briten das Münchner Abkommen damals wahrgenommen?
Es gibt die Annahme, dass die Briten aus ihrem Beschwichtigungsschlaf erst erwachten, als Hitler das Münchener Abkommen aufkündigte und im März 1939 in die gesamte Tschechoslowakei einmarschierte. Durch meine Forschung fand ich allerdings heraus, dass der Glanz des Münchner Abkommens schon viel früher verblasste. Nach der anfänglichen Erleichterung darüber, dass Großbritannien und Frankreich im September 1938 nicht in den Krieg ziehen würden, stellte sich für die Menschen, die eine Woche lang Schlange gestanden hatten, um Gasmasken zu sammeln und in den öffentlichen Parks Gräben auszuheben, heraus, dass keine dieser Vorbereitungen notwendig war. Die Menschen erkannten zudem schnell: Es war die Schwäche Großbritanniens und Frankreichs, die das Münchner Abkommen ermöglichte.
Das erste einer ganzen Reihe wichtiger Ereignisse, die Sie untersuchen, ist die italienische Invasion Äthiopiens 1935. Was macht diesen Krieg – sowie die internationalen Reaktionen darauf – so bedeutsam?
Der Abessinien-Krieg von 1935/36 zerstörte die Glaubwürdigkeit des Völkerbundes. Die glanzlosen Reaktionen Großbritanniens und Frankreichs, die darin bestanden, nur einige wenig strafende Sanktionen gegen Italien zu verhängen, zeigten, dass sich die Demokratien der Gewalt und der Aggression beugen würden. Hätten sich Großbritannien und Frankreich gegen Mussolini gestellt – was ihnen beispielsweise durch die Blockade des Suezkanals sehr leicht möglich gewesen wäre oder indem sie italienische Schiffe daran gehindert hätten, italienische Truppen zu versorgen oder gar nach Abessinien zu transportieren –, dann hätte sich Hitler die Remilitarisierung des Rheinlandes im März 1936 möglicherweise zweimal überlegt. Stattdessen zeigten sie im Zuge des Abessinien-Krieges nur, wie schwach sie waren. Ich denke, das ist eine zeitlose Lektion. Wenn ein Diktator ungestraft einen illegalen Krieg oder eine territoriale Landnahme begehen kann, weil die gesetzestreuen Teile der Welt nichts dagegen unternehmen oder keine ernsthaften Konsequenzen folgen, dann ermutigt dies andere Diktatoren oder Möchtegern-Machthaber nur, Ähnliches zu tun.
Wie reagierte Hitler auf die italienische Aggression?
Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte Hitler oft versucht, Mussolini nachzueifern. Es war Mussolinis erfolgreicher Marsch auf Rom 1922, der Hitler zu seinem Putschversuch 1923 in München inspirierte. Auch die italienische Invasion Abessiniens war etwas, das Hitler bewunderte und dem er ebenfalls nacheifern wollte. Die deutsche Remilitarisierung des Rheinlandes 1936 war ein gewaltiges Wagnis. Die Franzosen hätten die wenigen deutschen Truppen, die in die entmilitarisierte Zone eindrangen, eigentlich leicht zurückdrängen können. Hitler war sich dessen bewusst, aber er hatte beobachtet, wie es den Demokratien nicht gelang, Mussolini an der Einnahme Abessiniens zu hindern. Stattdessen versuchten sie, Mussolini mit einem Abkommen zu beschwichtigen. Für seine Aggression wurde Mussolini mit der Abtretung von zwei Dritteln des besetzten Abessiniens belohnt.
Wie erklären Sie die Reaktionen Großbritanniens und Frankreichs auf dieses Ereignis?
In beiden Ländern herrschte die klare Überzeugung, dass die Öffentlichkeit kein Interesse an einem englisch-französischen Kriegseintritt in Abessinien hatte. In den 1930er Jahren sahen sich die Briten drei potenziellen Feinden gegenüber: Nazi-Deutschland, dem faschistischen Italien und dem kaiserlichen Japan. Die Generalstabschefs warnten das britische Regierungskabinett ständig, es sei für das Empire unmöglich, allen drei Feinden gleichzeitig entgegenzutreten. Man war der Meinung, Mussolini stelle von diesen Feinden die geringste Bedrohung dar. Lediglich Deutschland, das damals als die bedrohlichste Nation für die westeuropäischen Demokratien galt, würde von einem ernsthaften Konflikt oder von einem Krieg zwischen Italien, Großbritannien und Frankreich profitieren. Zudem war die italienische Invasion für Teile der britischen herrschenden Klasse schlichtweg nicht so schockierend. Ein Kolonialkrieg im fernen Afrika schien britische und französische Interessen weniger unmittelbar zu bedrohen als ein Krieg in Europa.
Was Großbritannien und Frankreich jedoch nicht erkannten, war der Zusammenhang dieser Handlungen. Sehen Sie hier auch Analogien zu heute?
Ich würde sagen, Putins Abessinien oder Putins Rheinland war die Besetzung der Krim und von Teilen des Donbass im Jahr 2014. Putin wartete damals ab, was der Westen tun würde. Und der Westen unternahm nichts. Genau deshalb war Putin einigermaßen zuversichtlich, dass der Westen auch bei der Vollinvasion in die Ukraine 2022 nichts unternehmen würde. Aber ähnlich wie Hitler, der dachte, die Briten und Franzosen würden ihm jederzeit mit Appeasement begegnen, hat sich Putins Vorstellung als falsch erwiesen.
Wer lange Zeit eine Appeasement-Politik vertreten hat, kann Diktatoren und Aggressoren nur schwer davon überzeugen, dass er irgendwann Widerstand leisten wird. Das kann zu schwerwiegenden Fehleinschätzungen auch auf Seiten der Diktatoren führen – so wie die Invasion der Ukraine 2022 eine schwerwiegende Fehleinschätzung Putins war. Auch die Einmärsche Nazi-Deutschlands in Polen und später in Frankreich waren enorme Fehlkalkulationen, weil Hitler davon ausging, dass die Demokratien entweder nicht kämpfen würden oder dass die Briten kapitulieren würden, sobald Frankreich vernichtend geschlagen wäre.
Ihr Buch zeigt deutlich, dass die Ereignisse in Deutschland und die weiteren Entwicklungen unter dem NS-Regime schon früh im Ausland verfolgt wurden. Welche Tendenz zeigt sich in der Korrespondenz von Diplomaten und in den Berichten der Medienreporter, die nach Nazi-Deutschland reisten? Was nahmen sie wahr – und was nicht?
Es gibt zwei Eindrücke, die nahezu diametral entgegengesetzt sind. In Deutschland herrschte eine sehr strenge Zensur. Aber dennoch wurde im Ausland umfassend über den Abbau der deutschen Demokratie und die Errichtung einer autoritären Diktatur, über die Judenverfolgung und zunehmend über Militarismus, berichtet. Dies löste insbesondere unter Zentristen und Linken in Großbritannien große Besorgnis aus. Doch in den Jahren 1934 bis 1936 zeigten sich Besucher sowohl aus der britischen Rechten als auch von Mitte-Links äußerst beeindruckt vom Selbstbewusstsein einer Nation, die im Ersten Weltkrieg besiegt worden war und anschließend unter der Weltwirtschaftskrise schwer gelitten hatte. Bewundert wurde die Art und Weise, wie Straßen gesäubert, Obdachlose vertrieben und die Arbeitslosigkeit bekämpft worden zu sein schien. Was diese Berichte jedoch nicht berücksichtigten, war die Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit vor allem durch Ankurbelung der deutschen Kriegswirtschaft bekämpft wurde.
Welche ideologischen Verzerrungen enthielten diese Berichte?
In den 1930er Jahren war die Angst vor dem Kommunismus weitaus größer als vor dem Faschismus. Die meisten Menschen in Frankreich waren alarmiert, aber vielleicht noch mehr in Großbritannien, wo Privateigentum als Eckpfeiler von Demokratie und Freiheit sowie eines erfolgreichen Kapitalismus gilt. Die meisten Briten empfanden die Behandlung der deutschen Juden als geschmacklos und abscheulich. Nur sehr wenige sympathisierten damit. Die Reichsprogromnacht im November 1938 führte zu einem Aufruhr in allen Teilen der Gesellschaft. Diejenigen Rechten, die den Kommunismus verabscheuten, bewunderten den Nationalsozialismus in vielerlei Hinsicht und waren dem Antisemitismus gegenüber ambivalent oder selbst antisemitisch eingestellt. Doch viele Rechte des britischen Establishments erklärten im Zuge der November-Pogrome von 1938 erstmals öffentlich, Großbritannien könne unmöglich normale Beziehungen zu einem Land erwarten, das sich so barbarisch verhalte. Es ist sehr interessant, dass eine deutsche Gräueltat im eigenen Land vormalige Verteidiger des Nationalsozialismus in Großbritannien davon überzeugte, dass eine Verständigung mit dem Hitler-Regime nicht mehr möglich sei.
Hitlers „Mein Kampf“ wurde in seiner deutschen Originalfassung 1923 veröffentlicht und wurde nach der Machtübernahme der Nazis zehn Jahre später für die Deutschen zur Pflichtlektüre. Wie wurde „Mein Kampf“ von britischen Diplomaten und Journalisten wahrgenommen und diskutiert?
Es ist erstaunlich, wie wenig „Mein Kampf“ von britischen und französischen Politikern und Diplomaten gelesen wurde. Einige haben das Buch aber sorgfältig studiert. Großbritanniens erster Botschafter in Berlin während der Nazizeit, Sir Horace Rumbold, verfasste auf Grundlage seiner Lektüre von „Mein Kampf“ eine meisterhafte Depesche, in der er die Entwicklung und die Ambitionen des Hitler-Regimes sehr treffend vorhersagt. In seinem Buch schreibt Hitler ja nicht nur über den bekannten Wunsch, Lebensraum in Osteuropa und Russland zu erwerben, sondern auch darüber, dass Deutschland eine endgültige Abrechnung mit seinen alten Antagonisten Großbritannien und Frankreich vornehmen müsse. Hitler besaß das Urheberrecht an „Mein Kampf“, weshalb er die Veröffentlichung kontrollieren konnte. Die übersetzte Version war um ein Drittel kürzer als das Original und enthielt weniger aufrührerisches Material.
Gelegentlich fragten britische Diplomaten oder Besucher Nazi-Deutschlands nach „Mein Kampf“ und sagten: „Nun, Ihr Führer sagt aber, er wünsche sich einen Rachekrieg, die Nation müsse sich im permanenten Kriegszustand befinden, er verherrlicht den Krieg.“ Stets erhielten sie die gleiche Antwort: „Oh, dem dürfen Sie keine Beachtung schenken. Das hat er geschrieben, als er noch sehr jung war und im Gefängnis saß.“ Dieses Konzept ist uns heute von anderen Staatsoberhäuptern bekannt. Oft heißt es, sie würden nicht mehr so radikal sein, wenn sie erst einmal an der Macht sind, da das System sie vor ihren abwegigeren Aussagen aus der Opposition schützen würde. Es ist schon irritierend, dass britischen Diplomaten und Besuchern gesagt wurde, sie sollten „Mein Kampf“ als Jugendwerk abtun, während es in Nazi-Deutschland absolute Pflichtlektüre war.
Welche Rolle spielte diese Naivität und Leichtgläubigkeit im diplomatischen Umgang mit Hitler?
Die britischen Botschafter in Deutschland wurden immer schlechter. Sir Horace Rumbold war sehr scharfsichtig, musste aber im Juli 1933 in den Ruhestand gehen. Er wurde durch Sir Eric Phipps ersetzt, der einige sehr gute Depeschen verfasste, aber eher zur Appeasement-Politik neigte. Sein Nachfolger Sir Neville Henderson war als Diplomat eine völlige Katastrophe. Viele Diplomaten glaubten Hitler tatsächlich, wenn er sagte, er wolle keinen Krieg. In Wirklichkeit aber versuchte Hitler so lange wie möglich, seine Ambitionen vor dem Westen zu verbergen, um ihn in falscher Sicherheit zu wiegen. Und tatsächlich wünschte sich Hitler keinen Krieg gegen das Britische Empire. Aber der Preis dafür war: Großbritannien müsse eine deutsche Hegemonie in Europa zulassen.
Einer der wichtigsten – und zugleich tragischsten – Protagonisten Ihres Buches ist der britische Premierminister Neville Chamberlain. Wer war dieser Mann? Was ist sein Vermächtnis?
Das gängige Bild von Neville Chamberlain ist das des schwachen Premierministers, der Hitler beschwichtigte und dabei ineffektiv war. Als Person aber war er ein sehr starker und entschlossener Premierminister, der eine breite parlamentarische Mehrheit hinter sich hatte und der absolut davon überzeugt war, Recht zu haben und zu wissen, was er tut. Chamberlain war zielstrebig und entschlossen. Zudem handelte er äußerst schonungslos. So instrumentalisierte er als Premierminister die Geheimdienste, um seine politischen Gegner auszuspionieren und setzte schmutzige Tricks ein, um Leute wie Winston Churchill, die seiner Appeasement-Politik kritisch gegenüberstanden, innerhalb der konservativen Partei zu diskreditieren.
Neville Chamberlain war ein Mann des Friedens. Er hatte nicht im Ersten Weltkrieg gekämpft so wie etwa Churchill. Chamberlain empfand Krieg als völlig abscheulich und unverständlich. Chamberlain konnte Hitler einfach nicht verstehen. Er konnte einfach niemanden verstehen, der Krieg wollte. Er konnte nicht begreifen, wie ein Mann, der im Ersten Weltkrieg ebenfalls in den Schützengräben gewesen war, wirklich Krieg wollen konnte. Vor seinem Amt als Premier war Chamberlain Oberbürgermeister von Birmingham gewesen und hatte ein eher provinzielles Leben geführt. Einer seiner Gegner innerhalb der Konservativen Partei witzelte nach seinem Tod: „Das Problem mit Neville Chamberlain ist, dass er in Birmingham nie jemanden getroffen hat, der wie Adolf Hitler war.“
Eine weitere historisch wichtige Person in Ihrem Buch ist jemand, der immer noch etwas im Hintergrund bleibt: Winston Churchill. Im heutigen Großbritannien ist sein Erbe angesichts seiner Beteiligung an der britischen Kolonialherrschaft als Politiker, Soldat und ehemaliger Kriegsreporter umstritten. Was ist sein Vermächtnis?
Winston Churchill steht in zahlreichen Fragen im Widerspruch zu unserem heutigen, oft frömmlerischen Moralempfinden. Wie die meisten seiner politischen Zeitgenossen hatte Churchill viktorianische Rassenvorstellungen und war Imperialist. Das ist also die eine Seite seiner Person, durchaus zu Recht kritisiert werden kann. Ein rassistisches Vorurteil, das er im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen jedoch nicht hegte, war der Antisemitismus. Und einer der Gründe, warum Churchill den Nationalsozialismus schon früh als so große Bedrohung und düstere Ideologie erkennen konnte, war der antisemitische Charakter dieses Regimes.
Churchill konnte, unter anderem aufgrund seiner historischen Vorstellungskraft und seiner Kriegsmentalität, jemanden wie Hitler verstehen. Churchill glaubte schon vor Hitlers Machtergreifung, dass Deutschland einen Krieg beginnen könnte, um die Demütigung von Versailles zu rächen. Mit dieser Ansicht war er unter den britischen Konservativen fast der Einzige.
Großbritannien hat den Zweiten Weltkrieg nicht gewonnen. Um Deutschland zu besiegen waren die Unterstützung der Vereinigten Staaten und die Heldentaten der Roten Armee nötig. Doch meiner Meinung nach haben Churchill und das britische Volk Hitler den Sieg verwehrt: Hitler kam einem Sieg am nächsten, als das Kriegskabinett in London angesichts des Zusammenbruchs Frankreichs über Verhandlungen mit Hitler debattierte. Churchill lehnte das ab. Denn ein Frieden zu diesem Zeitpunkt hätte es nahezu unmöglich gemacht, das Nazi-Regime zu stürzen. Hitler hätte anschießend das Britische Empire untergraben und dann auch Gebiete der Welt bedroht, in denen die Vereinigten Staaten aktiv waren. Mit einer Kapitulation von Großbritannien 1940 hätte die Welt nur schwer vor dem Nationalsozialismus gerettet werden können.
Wie kann ein Vergleich der britischen Appeaser und der Anti-Appeaser jener Zeit helfen, die aktuellen geopolitischen Veränderungen und Herausforderungen besser zu verstehen?
Die britischen Appeaser behaupteten, Ost- und Mitteleuropa sei nie ein Anliegen Großbritanniens gewesen. Als See- und Weltmacht sollten sich die Briten viel mehr um die Geschehnisse in Ceylon kümmern als um die Geschehnisse in der Slowakei. Polen sei, so hieß es, strategisch nicht einmal die Knochen eines einzigen britischen Grenadiers wert.
Die Anti-Appeaser hingegen hatten ein sehr starkes Bewusstsein für die Geschichte Großbritanniens – nicht nur als Imperium, sondern auch als Teil Europas. Für sie war die britische Politik seit mehreren hundert Jahren von einem einzigen Prinzip geleitet worden: um nämlich zu verhindern, dass eine einzelne Macht den Kontinent beherrscht. Aus diesem Grund kämpfte Großbritannien gegen die französischen Revolutionsarmeen und Napoleon; aus diesem Grund kämpfte Großbritannien im Ersten Weltkrieg gegen den deutschen Kaiser; und um Nazi-Deutschland an der Vorherrschaft über den Kontinent zu hindern, zogen Großbritannien und Frankreich 1939 schließlich in den Krieg.
Diktatoren müssen irgendwann gestoppt werden. Wenn Chamberlains Einschätzung Hitlers richtig gewesen wäre, dann hätte das Münchner Abkommen von 1938 Sinn ergeben, auch wenn es unmoralisch und unehrenhaft gewesen sein mag. Chamberlain kam von seinen drei Treffen mit Hitler zurück und glaubte dessen Versprechen, nicht die gesamte Tschechoslowakei zu wollen und lediglich daran interessiert zu sein, die Deutschsprachigen in sein Reich zu holen. Die Aufteilung der Tschechoslowakei war für Chamberlain besser als ein weiterer europäischer Krieg.
Heutzutage muss man sich bei Putin fragen, ob er angesichts der von Trump vorgeschlagenen Abkommen wirklich bereit ist, seine Expansion zu stoppen. Wenn man garantieren könnte, dass die Einnahme der Krim und des Donbass das Ende ist, dann spricht vielleicht etwas für ein Abkommen, so unmoralisch es auch sein mag. Aber ich habe große Zweifel, dass Putin aufhört. Ich denke, ein Abkommen wäre nur eine Atempause.
Welche grundsätzlichen Lehren lassen sich aus der Zeit des Appeasements ziehen?
Analysieren Sie Ihre Gegner, potenziellen Gegner oder Aggressoren klar, realistisch und gründlich. Was sind ihre wahren Ziele? Was versuchen sie zu erreichen und was ist ihr langfristiges Ziel? Entspricht das dem, was sie gerade behaupten? Kann man Putin also bei einem möglichen Friedensabkommen in der Ukraine vertrauen? Wird dieses Abkommen ein weiteres Münchener Abkommen sein oder ist es eine tatsächliche Einstellung der Feindseligkeiten? Ich fürchte, es wird sich ein weiteres München anbahnen.
Zweitens: Vernachlässigen Sie nicht Ihre eigene Verteidigung. So falsch Donald Trump in den meisten Dingen liegt, so hat er doch Recht, wenn er sagt, dass Europa seine Verteidigung viel zu lange vernachlässigt hat. Jetzt ist es also an der Zeit, sie wieder aufzubauen.
Und drittens: Betrachten Sie Ihre Verbündeten nicht als selbstverständlich. Die Welt ist seit dem Zweiten Weltkrieg viel kleiner geworden. Viele der Bedrohungen, denen wir als Planet und als Spezies ausgesetzt sind – vom Klimawandel über Pandemien bis hin zum Cyberkrieg – können nur auf multilateraler Ebene bewältigt werden. Verbündete sind sehr wichtig, auch wenn sie manchmal ärgerlich sein können. Wie Winston Churchill sagte: „Es gibt nur eines, was schlimmer ist, als mit Verbündeten zu kämpfen, und das ist der Kampf ohne sie.“ Das könnten selbst die Vereinigten Staaten bald erkennen.
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