Bedroht der Kreml die Unab­hän­gig­keit von Belarus?

Zelyoniy.anton [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ukraine hat der Kreml seinen Anspruch auf den post­so­wje­ti­schen Raum unter­stri­chen. In Belarus wird seitdem heiß disku­tiert, ob ein ähnliches Szenario auch dort denkbar wäre. Entspre­chende Berichte russi­scher Medien werden als Warnungen verstanden. Und dass der russische Regie­rungs­chef nun den totge­glaubten Unions­staat zwischen beiden Ländern wieder ins Spiel bringt, lässt die Nervo­sität in Minsk steigen.

Vergan­genes Wochen­ende feierten tausende Bela­russen bei Festen und Konzerten in Hrodna und in Minsk den Dsjen Voli, den Tag der Freiheit. Der 25. März ist kein offi­zi­eller Feiertag in dem von Präsident Aljaksandr Lukaschenka seit 1994 autoritär regierten Land. An dem Tag erinnerte bisher vor allem die national gesinnte Oppo­si­tion an den Grün­dungstag der Bela­rus­si­schen Volks­re­pu­blik (BNR) nach dem Frie­dens­schluss von Brest-Litwosk im Jahr 1918 zwischen dem Deutschen Reich und den Bolsche­wiken. Das mit kränk­li­cher Brust gegrün­dete Staats­ge­bilde überlebte nur kurz, bevor Belarus Teil der Sowjet­union wurde. Aber der Tag ist mitt­ler­weile vielen Bela­russen ein Symbol für ein souve­ränes Belarus – ein Kultur­raum, der auf eine lange Geschichte zurück­blickt, dem die Staat­lich­keit aber erst mit dem Ende der Sowjet­union zuge­fallen ist.

Seit dem von Russland ange­zet­telten Krieg in der Ostukraine hat der Dsjen Voli an Popu­la­rität gewonnen. Die Staats­macht achtet auch weiterhin darauf, dass die Oppo­si­tion den Tag nicht gegen das Lukaschenka-Regime nutzen kann. Dennoch gesteht sie den Feier­lich­keiten neuer­dings einen gewissen Raum zu, um damit indirekt den eigenen Souve­rä­ni­täts­an­spruch und den der Bela­russen zu betonen – auch gegenüber dem über­mäch­tigen Nachbarn im Osten, der seit der Annexion der Krim für Nervo­sität in der Macht­ver­ti­kale des Regimes, aber auch in der Bevöl­ke­rung sorgt.

Und zwar besonders seitdem der russische Minis­ter­prä­si­dent Dmitrij Medwedjew Ende 2018 den Unions­staat ins Spiel brachte. Lukaschenka hatte sich zuvor gegen eine neue Steu­er­re­ge­lung der russi­schen Regierung gewandt, die am 1. Januar 2019 in Kraft trat. Belarus hat bisher zollfrei billiges Öl aus Russland bezogen, was weiter­ver­ar­beitet und profi­tabel weiter­ver­kauft wurde – eine wichtige Stütze für die bela­rus­si­sche Wirt­schaft und damit für das Lukaschenka-Regime. Ab sofort erhebt Russland eine Förder­steuer auf Rohöl. Damit ist die Weiter­ver­ar­bei­tung nicht mehr lukrativ. Man spricht von rund 260 Millionen Euro, die dem bela­rus­si­schen Haushalt allein in diesem Jahr fehlen würden.

Strei­te­reien um Gas- und Ölpreise gehören zu den schwie­rigen bela­rus­sisch-russi­schen Bezie­hungen seit Mitte der 2000er, wie auch Konflikte um Milch­pro­dukte (2010), um die vorüber­ge­hende Einfüh­rung von Grenz­kon­trollen durch die russische Regierung Anfang 2017. Trotz der engen Zusam­men­ar­beit zwischen den Mili­tär­struk­turen beider Länder verwei­gerte Lukaschenka Russland 2013 eine Luft­waf­fen­basis und auch die Aner­ken­nung der Krim. Die bela­rus­si­sche Regierung führte schritt­weise eine an bestimmten Bedin­gungen gekop­pelte, visafreie Einreise für Ausländer ein – für Lukaschenka-Verhält­nisse ein Zeichen der Öffnung gegenüber der EU. Der russi­schen Regierung dürfte das nicht gefallen haben. Die Liste der gegen­sei­tigen Schmä­hungen, Provo­ka­tionen und Abstra­fungen ist lang. Der russische Präsident Putin schätzt zwar die Stabi­lität, für die Lukaschenka in der Puffer­zone zwischen Russland und der EU sowie NATO-Ländern steht. Dennoch ist der bela­rus­si­sche Präsident alles andere als ein einfacher Partner. Es ist selbst ein ausge­fuchster Machtmensch.

Medwedjew meinte also, Belarus könne eine weitere Unter­stüt­zung nur erhalten, wenn es sich zu einer Vertie­fung des Unions­staates bereit erklären würde. Seitdem wird in west­li­chen und bela­rus­si­schen Medien, mitunter aufgeregt, disku­tiert, ob der Kreml eine Annexion des Nach­bar­landes im Sinn habe, um Putin als Präsident dieses Unions­staates über 2024 hinaus an der Macht zu halten. Die Idee eines gemein­samen Staates zwischen den beiden ehema­ligen Sowjet­re­pu­bliken tauchte Mitte der Neunziger Jahre auf. Dem russi­schen Präsi­denten Boris Jelzin und dem neoso­wje­tisch geprägten Lukaschenka schien eine Reinte­gra­tion nach dem betrau­erten Ende der Sowjet­union eine sinnvolle und populäre Idee. Lukaschenka, der auch in Russland als durch­grei­fender Ordnungs­mann großes Ansehen genoss, sah so auch die Möglich­keit, als Unions­prä­si­dent in Russland mitre­gieren zu können. Ende 1999 wurde tatsäch­lich der „Vertrag über die Bildung eines Unions­staates“ geschlossen. Es sollte ein eigenes Staats­wesen entstehen, mit Flagge und Hymne, mit Haushalt, Parlament und Präsident – Russland und Belarus sollten ihre Souve­rä­nität bewahren, aber Fragen der Außen­po­litik, Vertei­di­gung, der Ener­gie­ver­sor­gung, des Zolls oder des Haushalts sollten an den Unions­staat über­tragen werden.

Als Putin Präsident wurde und fortan die natio­nalen Inter­essen Russlands in den Vorder­grund stellte, begann das Zerren um den Unions­staat. Schon 2001 eska­lierte dieses Ringen, als Putin Belarus vorschlug, der Russi­schen Föde­ra­tion beizu­treten. Lukaschenka reagierte brüskiert, da er unbedingt an der im Vertrag vorge­se­henen „pari­tä­ti­schen Part­ner­schaft“ fest­halten wollte. Damals analy­sierte der leider viel zu früh verstor­bene Poli­to­loge Heinz Timmer­mann: „Im Hinblick auf die Dispro­por­tionen der Partner in Größe und Potential kann das Projekt eines Unions­staates Russland-Belarus Moskau zufolge nur zu russi­schen Bedin­gungen verwirk­licht werden. Völlig ausge­schlossen wird eine Lösung in Form der Union zweier gleich­be­rech­tigter Staaten mit pari­tä­tisch besetzten supra­na­tio­nalen Organen...“ Die Folge: Über Fragen des gemein­samen Wirt­schafts­le­bens, des Zoll­we­sens oder der Formie­rung der Organe des Unions­staates kam es nie zu einer Einigung. Die Verhand­lungen stockten, wurden wieder aufge­nommen, stockten. Eine Währungs­union wurde häufig ange­kün­digt, aber nie umgesetzt. Im Bereich der Vertei­di­gung gibt es eine ausge­prägte Zusam­men­ar­beit. Bela­russen und Russen können ihre jewei­ligen Grenzen passieren und auch im jeweils anderen Land arbeiten. Eine Zollunion wurde erst mit dem Aufkommen der Eura­si­schen Wirt­schafts­union zwischen Belarus, Russland und Kasach­stan geschaffen. Seit 2011 galt das Projekt des Unions­staates eigent­lich als tot.

Lukaschenka hat immer wieder betont, dass eine Aufgabe der eigenen Souve­rä­nität ausge­schlossen sei, wofür er selbst von der natio­nalen Oppo­si­tion im eigenen Land gefeiert wurde. 2008 sagte er: „Souve­rä­nität und Unab­hän­gig­keit werden nicht für Erdgas oder Öl verkauft… sie sind zu kostbar, um damit zu handeln.“ Mitte Februar 2019, bei einem Treffen mit Putin in Sotschi, betonte er: „Die Souve­rä­nität ist wie eine Ikone, sie ist heilig.“ Die zahl­rei­chen Treffen zwischen dem russi­schen und bela­rus­si­schen Präsi­denten seit der zweiten Hälfte 2018 haben Ängste geschürt, Russland könnte mit Hilfe des Unions­staates nun mit der Einver­lei­bung des Nachbarn ernst machen.

Warum eine solche Annexion aller­dings mit zahl­rei­chen unkal­ku­lier­baren Risiken für den Kreml verbunden wäre oder ein bela­rus­si­sches Krim-Szenario eher unwahr­schein­lich ist, hat bereits der bela­rus­si­sche Jour­na­list Artjom Schraibman dargelegt. Zwar sei Belarus ein russ­land­freund­li­ches Land. Aber es fehle an starken prorus­si­schen Orga­ni­sa­tionen, die der Kreml mobi­li­sieren könnte, sowie auch an einem glaub­wür­digen Bedro­hungs­sze­nario gegen „eine russ­land­nahe Identität“ durch bela­rus­si­sche Natio­na­listen. Die bela­rus­si­sche Bevöl­ke­rung würde eher einen neutralen Kurs gegenüber Russland unter­stützen. Für Sowjet-Nost­al­giker sei Russland aufgrund des Olig­ar­chen­tums, der Ungleich­heit und Korrup­tion kaum ein Sehn­suchtsort. Die politisch sehr hete­ro­gene Führungs­riege von Belarus würde bei einer Anbindung an Russland alle ihre Privi­le­gien verlieren. Russ­land­nahe Abweichler habe man durch das ausge­prägte Sicher­heits­system gut im Griff. Zudem würde die russische Bevöl­ke­rung die Kosten neuer­li­cher Sank­tionen und der Anglie­de­rung kaum mittragen. Schra­jb­mans Schluss­fol­ge­rung: „Die Frage von 2024 durch die Verei­ni­gung mit Belarus zu lösen, käme der Provo­ka­tion eines scharfen Konflikts mit einem bislang verbün­deten Land gleich. Es wäre ein Szenario voller unkal­ku­lier­barer Risiken und Ausgaben, die nicht einmal steigende Umfra­ge­werte garan­tieren. Wenn Putin an der Macht bleiben möchte, könnte er dieses Problem wesent­lich leichter lösen: durch eine Verfassungsänderung.“

Eine ausge­prägte Angst ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. Russland hat sich in den vergan­genen Jahren schließ­lich nicht unbedingt mit vertrau­ens­bil­denden Maßnahmen hervor­getan. Zurzeit beraten bela­rus­si­sche und russische Ausschüsse unab­hängig vonein­ander daran, wie die von Russland gefor­derte Vertie­fung des Unions­staates aussehen könnte. Erst dann könnten gemein­same Gespräche beginnen. Wann dies soweit sein wird und was bei den jetzigen Gesprä­chen heraus­kommt, ist schwer vorher­zu­sagen. Viel­leicht wird es eine engere Zusam­men­ar­beit in unver­fäng­li­chen Bereichen geben. Der Unions­staat an sich ist bis dato an den teils funda­mental unter­schied­li­chen Inter­essen beider Länder geschei­tert. Das wird auch künftig so sein. Und in einem Refe­rendum würden Bela­russen einen Anschluss mit Russland mehr­heit­lich ablehnen, wenn auch viel­leicht nicht mit 98 Prozent, wie Lukaschenka behauptete.

Aller­dings hängt sein Regime zwei­fels­ohne aufgrund der bis dato billigen Kredite und günstiger Gas- und Öllie­fe­rungen am Tropf des Kreml. Bei besagtem Treffen im Dezember meldete sich auch der russische Finanz­mi­nister Anton Siluanow zu Wort. Er bezif­ferte die jähr­li­chen Unter­stüt­zungen der bela­rus­si­schen Regierung laut NZZ auf zwei Milli­arden Euro. Darin enthalten seien Kredite, Verbil­li­gungen für Rohstoffe und Zölle. Lukaschenko sitzt also in einer Art Abhän­gig­keits-Falle. Dennoch hat er sich in seinem poli­ti­schen Raum eine starke Unab­hän­gig­keit bewahrt, auf die selbst der Kreml kaum nennens­werten Einfluss hat. Auch in der Vergan­gen­heit hat Lukaschenka immer wieder Optionen hervor gezaubert, wenn er unter Druck gesetzt wurde und ohne sicht­baren Hand­lungs­spiel­raum war. Der Druck ist diesmal groß – und er könnte Lukaschenka beispiels­weise dazu drängen, eine rentabel arbei­tende Wirt­schaft in Gang zu setzen, natürlich ohne demo­kra­ti­sche Verbes­se­rungen zu ermöglichen.

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