Input Paper „Kandi­da­ten­status für die Ukraine“

Foto: Presi­den­tial Office of Ukraine

Im Rahmen unseres Pro­jek­tes „Öst­li­che Part­ner­schaft Plus“ ver­öf­fent­li­chen wir eine Reihe von Input Papers zum Thema: Perspek­tiven und Wege zum EU-Kandi­da­ten­status für die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau.

Für die Ukraine analy­siert Dmytro Shulga die poli­ti­sche Lage und formu­liert seine Hand­lungs­emp­feh­lun­gen an die Ent­schei­dungs­trä­gerInnen in Berlin und Brüssel, warum die EU ein geopo­li­ti­scher Akteur werden sollte und dem Trio im Juni einen EU-Kandi­da­ten­status verleihen sollte.

Wir leben in einer für Europa histo­risch bedeut­samen Zeit, die histo­ri­sche Entschei­dungen erfordert. Die groß­an­ge­legte russische Invasion der Ukraine vom 24. Februar 2022 markiert das defi­ni­tive Ende der euro­päi­schen Ordnung nach dem Kalten Krieg. Wie haben es mit einer histo­ri­schen Zeiten­wende für Deutsch­land und ganz Europa zu tun.

Am 28. Februar 2022, dem fünften Tag der russi­schen Invasion, reichte Präsident Wolodymyr Selenskyj den Antrag auf eine EU-Mitglied­schaft der Ukraine ein und erfüllte damit einen lang gehegten Wunsch der Ukrainer:innen.

Gemäß Artikel 49 des EU-Vertrags kann ein euro­päi­scher Staat, der die euro­päi­schen Werte[1] achtet, eine Mitglied­schaft in der EU bean­tragen. Die Mitglied­staaten der EU müssen hierzu einstimmig Beschlüsse[2] fällen, und zwar nach Anhörung der Euro­päi­schen Kommis­sion und nach Zustim­mung des Euro­päi­schen Parla­ments.

In der Praxis müssen die Mitglied­staaten der EU zunächst den Antrag prüfen und dem Land durch einstim­migen Beschluss den Status eines Beitritts­kan­di­daten verleihen. Dann können sie mit dem Land auch Beitritts­ver­hand­lungen eröffnen, die sich auf 35 Kapitel konzen­trieren, nämlich auf bestimmte Poli­tik­be­reiche mit der Übernahme und einer Umsetzung des Rechts­be­stands (des „Acquis“) der EU. Sind die Verhand­lungen erfolg­reich abge­schlossen, muss einstimmig ein Beitritts­ver­trag abge­schlossen werden.

Nach der Antrags­stel­lung durch die Ukraine gab das Euro­päi­sche Parlament bereits am 1. März eine Stel­lung­nahme ab, in der es sich für einen Status der Ukraine als Mitglieds­kan­didat aussprach. Diese Reso­lu­tion wurde mit einer über­wäl­ti­genden Mehrheit von 637 Ja-Stimmen (bei insgesamt 705 Abge­ord­neten) verab­schiedet. Am 7. März forderten die Mitglied­staaten der EU (der Rat der EU) dann die Euro­päi­sche Kommis­sion zu einer Stel­lung­nahme auf.

In der Erklärung von Versailles beim infor­mellen EU-Gipfel vom 10. und 11. März 2022 hielten die Staats- und Regierungschef:innen der EU-Staaten fest: „Bis zu der Stel­lung­nahme [der Kommis­sion] werden wir unver­züg­lich unsere Bezie­hungen weiter stärken und unsere Part­ner­schaft vertiefen, um die Ukraine auf ihrem euro­päi­schen Weg zu unter­stützen. Die Ukraine ist Teil unserer euro­päi­schen Familie [Hervor­he­bung durch d. Verfasser].“

Anschlie­ßend folgte die Euro­päi­sche Kommis­sion der Stan­dard­me­tho­do­logie zur Ausar­bei­tung ihrer Stel­lung­nahme und bat die ukrai­ni­sche Regierung um die notwen­digen Infor­ma­tionen, die in einem ausge­füllten Frage­bogen vorzu­legen sind. Das erfolgte am 9. Mai.

Derzeit bereitet die Euro­päi­sche Union ihre Stel­lung­nahme zum Antrag der Ukraine vor und legt die Ergeb­nisse einer Analyse vor, inwieweit das Land die poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und sekto­ralen Mitglied­schafts­kri­te­rien erfüllt (Grad der Annä­he­rung an das EU-Acquis).[3] Es wird erwartet, dass die Stel­lung­nahme der Kommis­sion im Juni vorliegen wird und dass sie positiv ausfallen, also für die Ukraine den Status eines Beitritts­kan­di­daten empfehlen wird.

Anschlie­ßend werden die EU-Staaten bei der Tagung des Euro­päi­schen Rats am 23. und 24. Juni eine poli­ti­sche Entschei­dung treffen müssen. Entweder werden sie der Ukraine den Kandi­da­ten­status zuspre­chen (und die Bedin­gungen für die Eröffnung von Beitritts­ver­hand­lungen formu­lieren), oder sie werden ihn nicht verleihen und statt­dessen etwas Gerin­geres anbieten (den Status eines „poten­zi­ellen Kandi­daten“ mit einigen Vorbe­din­gungen zur Erlangung eines tatsäch­li­chen Kandi­da­ten­status’ oder nur die Formu­lie­rung einer „Aussicht auf Mitglied­schaft“). Oder die Entschei­dung wird vertagt, wenn kein Konsens erreicht wird.

 

Acht Gründe, warum Deutsch­land die Entschei­dung unter­stützen muss, der Ukraine den Kandi­da­ten­status zu verleihen

1. Weil es von einer absoluten Mehrheit der EU-Bürger:innen unter­stützt wird, auch in Deutschland.

Nach Beginn der groß­an­ge­legten russi­schen Invasion hat sich in der EU die öffent­liche Meinung zur Ukraine drama­tisch gewandelt. Eine Meinungs­um­frage der Jean-Jaures-Stiftung vom März 2022 ergab eine Unter­stüt­zung für einen EU-Beitritt der Ukraine von 69 % in Deutsch­land, 62 % in Frank­reich, 71 % in Italien und 91 % in Polen. Der Unter­su­chung zufolge liegt die Unter­stüt­zung für eine ukrai­ni­sche EU-Mitglied­schaft in Deutsch­land bei CDU-Anhängern bei 71 % und bei SPD-Anhängern sogar noch höher, nämlich bei 79 %. Sogar in Ostdeutsch­land, wo der Wider­stand gegen eine EU-Erwei­te­rung tradi­tio­nell groß ist, waren 56 % für einen Beitritt. Nur bei den AfD-Anhängern war eine Mehrheit dagegen (59 %).[4]

Das offi­zi­elle Meinungs­for­schungs­in­stru­ment der EU, das Euro­ba­ro­meter, zeigte in einer Umfrage im Auftrag der Euro­päi­schen Kommis­sion vom April 2022 ähnliche Ergeb­nisse auf. Diesen offi­zi­ellen EU-Daten zufolge unter­stützen 66 % der EU-Bürger eine EU-Mitglied­schaft der Ukraine, in Deutsch­land waren es 61 %.5


2. Weil es nur um einen Kandi­da­ten­status geht und nicht um eine Mitglied­schaft, die erst in einigen Jahren erfolgen könnte.

Die Ukraine als Beitritts­kan­didat anzu­er­kennen ist nicht gleich­be­deu­tend mit einem EU-Beitritt, es eröffnet lediglich die Möglich­keit von (lang­wie­rigen) Beitritts­ver­hand­lungen, deren Ausgang nicht feststeht.

Es gibt kein „Schnell­ver­fahren“ oder eine „Abkürzung“ zu einer EU-Mitglied­schaft; es gibt ein Stan­dard­ver­fahren. Die Erwar­tungen der Ukraine gehen jetzt lediglich dahin, dass es einen „schnellen Gang durch das Stan­dard­ver­fahren“ geben wird. In erster Linie demons­triert die ukrai­ni­sche Regierung ihre Bereit­schaft und Fähigkeit, sämtliche, notwen­dige tech­ni­sche Schritte so schnell wie möglich zu unter­nehmen, und sie erwartet das Gleiche von der EU. So benötigte die ukrai­ni­sche Regierung in Zeiten des Krieges nur einen Monat, um den Frage­bogen der Euro­päi­schen Kommis­sion auszu­füllen. Dazu hatten frühere Anwärter viele Monate (mitunter über ein Jahr) gebraucht.

Dennoch ist klar, dass ein EU-Beitritt Jahre brauchen wird, selbst im besten Fall. In der jüngsten Geschichte einer erfolg­rei­chen EU-Erwei­te­rung der vergan­genen 20 Jahre hatte die Verhand­lungs­phase von der Eröffnung bis zum Abschluss drei bis sechs Jahre gedauert.[6] Hinzu kommen ein bis zwei Jahre für die offi­zi­ellen Unter­schriften, die Rati­fi­zie­rungen und das Inkraft­treten. Somit könnte die Ukraine selbst beim güns­tigsten Szenario, bei dem sie im Juni 2022 den Kandi­da­ten­status erhält und die Verhand­lungen bald eröffnet und erfolg­reich abge­schlossen werden, frühes­tens in fünf bis sieben Jahren der EU beitreten.

3.Weil die Ukraine diesen Status durch die Erfüllung der Kriterien objektiv verdient.

Es gibt einen umfas­senden Konsens in der ukrai­ni­schen Regierung wie auch in der Zivil­ge­sell­schaft, dass die Ukraine den Status als EU-Beitritts­kan­didat nicht wegen einer Vorzugs­be­hand­lung verdient, sondern aus objek­tiven Gründen, da sie erheb­liche Fort­schritte bei der Annä­he­rung an die EU macht und so die erfor­der­li­chen Kriterien erfüllt.

Die Ukraine hat ihre Annä­he­rung an das EU-Acquis vor über zwei Jahr­zehnten begonnen. Vor der Einrei­chung des Beitritts­an­trags hat die Ukraine das Asso­zi­ie­rungs­ab­kommen mit der EU nach dessen Unter­zeich­nung 2014 acht Jahre lang erfüllt. Das ist ein sehr weit­ge­hendes Abkommen, da es bereits den größten Teil des EU-Acquis abdeckt. Bis 2017 hat die Ukraine erfolg­reich die Visa­li­be­ra­li­sie­rungs­kri­te­rien umgesetzt, was dabei half, den gesamten insti­tu­tio­nellen Rahmen zur Korrup­ti­ons­be­kämp­fung aufzu­bauen und in Gang zu setzen. Die Bestim­mungen des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens zu einer vertieften und umfas­senden Frei­han­dels­zone (DCFTA), die seit 2016 gelten, sehen eine tief­grei­fende sektorale Inte­gra­tion in den Binnen­markt der EU vor.[7] Praktisch ist es so, dass die Ukraine bereits sämtliche Kapitel für eine Eröffnung von Beitrags­ver­hand­lungen aufge­schlagen hat.[8]

Die Fort­schritte bei der Umsetzung des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens unter­liegen einer jähr­li­chen Prüfung durch die Euro­päi­sche Kommis­sion. In einer Reihe von Sektoren werden durch Experten zusätz­lich Evalu­ie­rungen vorge­nommen. 2021 unter­nahmen die ukrai­ni­sche Regierung und die Euro­päi­sche Kommis­sion eine umfas­sende Prüfung, inwieweit sämtliche Ziele des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens erreicht wurden. Laut Einschät­zung der ukrai­ni­schen Regierung sind bis Ende 2019 bereits 63 % der notwen­digen Haus­auf­gaben im Rahmen des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens erledigt worden.[9]

Die Euro­päi­sche Kommis­sion hat zwar keine eigenen Prozent­zahlen zum Vergleich vorgelegt, doch bestand der wich­tigste Indikator darin, dass die Euro­päi­sche Kommis­sion im Laufe der Jahre 2020 und 2021 damit begann, eine Reihe von Entschei­dungen zur weiteren sekto­ralen Inte­gra­tion der Ukraine in den EU-Markt vorzu­be­reiten – und zwar in Aner­ken­nung der erle­digten Haus­auf­gaben aus den entspre­chenden Kapiteln des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens (zum Zollwesen, zu tech­ni­schen Vorschriften, zu elek­tro­ni­schen Kommu­ni­ka­ti­ons­wegen, zur öffent­li­chen Auftrags­ver­gabe usw.).[10]

Im Bereich der Recht­staat­lich­keit ist ein solider insti­tu­tio­neller Rahmen zur Korrup­ti­ons­be­kämp­fung aufgebaut worden, der funk­tio­niert hat und in Zeiten des Krieges weiter funk­tio­niert. Am proble­ma­tischsten erschien das Gerichts­system, also wurden 2021 eine neue Strategie und neue gesetz­liche Bestim­mungen verab­schiedet, mit denen eine Verwal­tungs­re­form des Justiz­sys­tems ermög­licht werden sollte. Die Umsetzung wurde mit Unter­stüt­zung der EU begonnen und wird während des Krieges fort­ge­führt. Daher ruft die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft die EU auf, die Reform­fort­schritte anzu­er­kennen (Die Fort­schritte wurden in der Tat gemeinsam erreicht – mit der Unter­stüt­zung und dem Enga­ge­ment der EU) und der Ukraine den Status eines Beitritts­kan­di­daten zu verleihen. Das wäre der effek­tivste Rahmen, um die Reformen weiter voran­zu­treiben.[11]

Foto: privat

Da das Moni­to­ring zur Umsetzung des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens und dessen Evalu­ie­rung erfolgt sind, verfügte die Euro­päi­sche Kommis­sion tatsäch­lich über ausrei­chend Kennt­nisse über die Ukraine, bevor sie sich an die Prüfung des Beitritts­an­trags machte. Gleich­wohl bat sie die ukrai­ni­sche Regierung um Antwort mit Hilfe eines Frage­bo­gens, der einen ähnlichen Umfang hatte wie im Falle früherer Anwärter.[12] In Zeiten des Krieges schaffte es die ukrai­ni­sche Regierung, den gesamten Fragen­ka­talog in nur einem Monat zu beant­worten (während es bei anderen Anwärtern bis zu einem Jahr oder mehr dauerte, bis ein solcher Frage­bogen ausge­füllt wurde), und das mit hoher Qualität (da die Euro­päi­sche Kommis­sion keine Nach­fragen übermittelte).

Insgesamt haben die ukrai­ni­schen Insti­tu­tionen während des Krieges eine über­ra­schend hohe Stabi­lität und Funk­tio­na­lität gezeigt. Die frühere Annä­he­rung an das EU-Acquis und die Politik der EU haben zu dieser Wider­stands­fä­hig­keit beigetragen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die erfolg­reiche Testung des Elek­tri­zi­täts­sys­tems der Ukraine und dessen letzt­liche voll­stän­dige Synchro­ni­sie­rung mit dem euro­päi­schen ENTSO-E-Netzwerk inmitten eines echten Krieges.

Zum Vergleich lassen sich die Stel­lung­nahmen der Euro­päi­schen Kommis­sion und die Entschei­dungen des Rates zum Kandi­da­ten­status früherer Anwärter zu Rate ziehen. 1999 hatte die Türkei den Kandi­da­ten­status erhalten, während dort noch die Todes­strafe galt. Im West­balkan wurde Nord­ma­ze­do­nien 2005 Beitritts­kan­didat, Monte­negro 2010, Serbien 2012 und Albanien 2014. Nur Bosnien-Herze­go­wina und Kosovo bleiben „poten­zi­elle Beitritts­kan­di­daten“ – also de facto Länder, die nicht einmal grund­le­gende Kriterien erfüllen. Der Kosovo wird nicht von allen EU-Staaten anerkannt. Die verfas­sungs­recht­liche Ordnung von Bosnien-Herze­go­wina entspricht laut der Stel­lung­nahme der Euro­päi­schen Kommis­sion von 2019 nicht den euro­päi­schen Standards. Die Regierung dort benötigte für die Beant­wor­tung des Frage­bo­gens 14 Monate und war zudem nicht in der Lage, dies im vollen Umfang zu tun.

Also ist in der Ukraine die Ansicht Konsens, dass das Land bereits weiter fort­ge­schritten ist als „poten­zi­elle Beitritts­kan­di­daten“ und somit objektiv den Status eines EU-Beitritts­kan­di­daten verdient.[13] Es wird erwartet, dass die Stel­lung­nahme der Euro­päi­schen Kommis­sion dies bestä­tigen wird.

4. Weil die ukrai­ni­sche Gesell­schaft diese Aner­ken­nung ihres Kampfes für euro­päi­sche Werte erwartet.

Die öffent­liche Meinung in der Ukraine hat stets eine Mitglied­schaft in der EU unter­stützt. 2019 wurde das Ziel eines EU-Beitritts sogar in der ukrai­ni­schen Verfas­sung fest­ge­schrieben. Seit der groß­an­ge­legten russi­schen Invasion ist die gesell­schaft­liche Unter­stüt­zung für einen EU-Beitritt der Ukraine sprung­haft auf 91 % gestiegen.[14]

Es gibt dies­be­züg­lich einen allge­meinen Konsens unter den poli­ti­schen Eliten in der Regierung und der Oppo­si­tion sowie in der Zivil­ge­sell­schaft, einschließ­lich der Watch Dog-Gruppen, die die recht­staat­li­chen Reformen über­wa­chen und voran­treiben, und einschließ­lich der Sozi­al­partner.[15] Ein Beitritt zur EU ist zu einem Teil der ukrai­ni­schen natio­nalen Idee geworden, wie auch die Abwehr der russi­schen Invasion.

Es herrscht auch breite Über­ein­stim­mung, dass die Ukraine die gemein­samen grund­le­genden euro­päi­schen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit und der Demo­kratie buch­stäb­lich verteidigt.

Im Grunde werden die Mitglied­staaten der EU nun entscheiden, ob sie die Ukraine als euro­päi­schen Staat aner­kennen, der die euro­päi­schen Werte teilt und die grund­le­genden demo­kra­ti­schen und markt­wirt­schaft­li­chen Kriterien erfüllt. Die ukrai­ni­sche Gesell­schaft erwartet von der EU ein klares „Ja“.

Jedes Szenario, das als Antwort auf den Antrag der Ukraine keinen (vollen) Kandi­da­ten­status beinhaltet, würde von der ukrai­ni­schen Gesell­schaft sehr negativ aufge­nommen.

5. Weil es das stärkste poli­ti­sche Signal an Wladimir Putin senden würde, dass sein Krieg zwecklos ist.

Putin hat die Ukraine ange­griffen, weil sie in einer „Grauzone“ außerhalb von EU und NATO verblieb. Er wollte die Ukraine daran hindern, sich weiter nach Westen zu bewegen, und Kyjiw zurück in Moskaus „Einfluss­sphäre“ bzw. in die „russische Welt“ zwingen. Schritte Richtung NATO sind zu Kriegs­zeiten tatsäch­lich nicht machbar und es ist nicht klar, ob sich das nach dem Krieg verwirk­li­chen lässt.

Gleich­zeitig würde ein Kandi­da­ten­status eine Aner­ken­nung der Ukraine als poten­zi­elles EU-Mitglied darstellen. Das bedeutet für die EU die Chance, zu einem geopo­li­ti­schen Akteur zu werden und ihre Verant­wor­tung für Frieden und Stabi­lität auf dem Kontinent wahr­zu­nehmen. Putin müsste die neue Realität einer zukünf­tigen EU-Mitglied­schaft der Ukraine aner­kennen, wie er auch Schwedens und Finnlands Antrag auf eine NATO-Mitglied­schaft akzep­tieren musste. Das würde den Kreml dazu bringen, den verhee­renden Krieg zu beenden, da dessen poli­ti­sche Ziele ohnehin nicht erreicht werden können

6. Weil eine ange­strebte EU-Mitglied­schaft und der Beitritts­pro­zess den besten Rahmen für den Wieder­aufbau nach dem Krieg bieten.

Nach dem Krieg wird die Ukraine „verbes­sert aufbauen“ müssen, also nicht einfach das ersetzen, was zerstört wurde, sondern in jedwedem Sinne ein besseres Land wieder aufbauen. Eine Kandi­datur und ein Beitritts­pro­zess können dazu beitragen, dass die Reformen in der Ukraine tiefer verankert und für die schwie­rige Zeit nach dem Krieg nach­hal­tiger gestaltet werden.

Es wird zudem dabei helfen, beim Wieder­aufbau der Ukraine die Förder­gelder der EU effizient einzu­setzen und den Rahmen für einen stra­te­gi­schen Ansatz zu bieten, mit dem die Infra­struktur, die Wirt­schaft und die Gesell­schaft der Ukraine in die Netzwerke der EU inte­griert werden können. Eine EU-Kandi­datur und der Beitritts­pro­zess können dazu beitragen, dass euro­päi­sche Unter­nehmen die Möglich­keiten wahr­nehmen, die sich bei den enormen Anstren­gungen zum Wieder­aufbau des Landes ergeben. Und ein Kandi­da­ten­status würde private Inves­ti­tionen anziehen, sodass weniger öffent­liche Gelder aus den Haus­halten der EU-Staaten benötigt würden.

7. Weil es um eine faire Behand­lung der eigenen Leis­tungen geht.

Die Inte­gra­tion der Ukraine und des West­balkan in die EU schließen sich nicht gegen­seitig aus oder stehen in Konkur­renz zuein­ander, sondern sind absolut mitein­ander vereinbar. Bei der EU-Erwei­te­rung sollte das Prinzip einer fairen Behand­lung gelten, bei der kein Land wegen der Probleme oder Fehler anderer blockiert wird.

Entschei­dungen zur Ukraine sollten nicht aufgrund von Fehlern anderer aufge­schoben werden, etwa wegen des Unver­mö­gens von Bosnien-Herze­go­wina, seine verfas­sungs­recht­liche Ordnung zu ändern, wegen der Nicht­an­er­ken­nung des Kosovo durch einige EU-Staaten, wegen Serbiens prorus­si­scher Regierung oder wegen Bulga­riens Blockade der Verhand­lungen zwischen der EU und Nordmazedonien.

Das Gleiche gilt für das osteu­ro­päi­sche Trio. Einer­seits gibt es das allge­meine Interesse, die EU-Hoff­nungen von Moldau, Georgien und der Ukraine zu verwirk­li­chen. Ande­rer­seits sollte jeder Anwärter aufgrund der eigenen Leis­tungen bei der Erfüllung der Kriterien begut­achtet werden. Das ist nur gerecht.

8. Weil Deutsch­land eine Führungs­rolle über­nehmen sollte, um einen Konsens in der EU zu erreichen.

Deutsch­land hat zwar nach der Invasion umgehend ein Ende seiner tradi­tio­nellen Ostpo­litik verkündet (die in der Ukraine weit­ge­hend als Beschwich­ti­gung Russlands betrachtet wurde), doch ist es bei wichtigen Fragen wie den Waffen­lie­fe­rungen und Sank­tionen langsam vorge­gangen und hängt anderen hinterher. Para­do­xer­weise ist es bisher Groß­bri­tan­niens Brexit-Premier Boris Johnson gewesen, der an der Spitze der euro­päi­schen Antwort auf die russische Invasion in die Ukraine steht.

In Bezug auf einen Kandi­da­ten­status der Ukraine ist Deutsch­land wieder einmal ein großes Hindernis für diese histo­ri­sche Entschei­dung Europas. Die meisten EU-Staaten sind für einen Kandi­da­ten­status der Ukraine, unter anderem elf mittel- und osteu­ro­päi­sche Mitglied­staaten, die formal zu einer Beschleu­ni­gung der euro­päi­schen Inte­gra­tion der Ukraine aufge­rufen haben.[16] Eine Reihe euro­päi­scher Staaten ist aber noch unent­schlossen und schaut, wie die Haltung Deutsch­lands aussehen wird.

Geschichts­träch­tige Zeiten erfordern histo­ri­sche Entschei­dungen, und diese histo­ri­schen Entschei­dungen müssen schnell getroffen werden. Unter­nimmt man zu wenig und tut dies zu spät, landet man auf dem Weg zum Schutt­haufen der Geschichte. Die Glaub­wür­dig­keit und Hand­lungs­fä­hig­keit der EU werden jetzt stark von Deutsch­land abhängen. Ein Zögern Deutsch­lands würde nur erneut das Image deutscher Politiker beschä­digen. Ande­rer­seits lässt sich der Gang der Geschichte nicht aufhalten: Es ist klar, dass die Ukraine früher oder später ein Beitritts­kan­didat und dann ein Mitglied der EU werden wird.

Also stehen deutsche Politiker jetzt vor der Wahl, ob sie von anderen getrieben werden oder eine Führungs­rolle über­nehmen, um dem Willen und den Erwar­tungen der eigenen Bürger:innen zu entspre­chen, die Bezie­hungen zu den mittel- und osteu­ro­päi­schen EU-Staaten zu verbes­sern und in der EU einen Konsens herzu­stellen. Die drängende stra­te­gi­sche Entschei­dung für einen Kandi­da­ten­status der Ukraine könnte die Folgen der Fehler der deutschen Außen­po­litik aus den letzten Jahr­zehnten beheben. Darüber hinaus könnte dies ohne Über­trei­bung zu einem zentralen Element einer fried­li­chen, sicheren, stabilen und prospe­rie­renden Zukunft Europas werden.

Fazit und Ausblick

Der Ukraine im Juni 2022 den Kandi­da­ten­status zu verleihen, wäre eine logische Entschei­dung, die alle zufrie­den­stellen wird: die Ukrainer, die osteu­ro­päi­schen Mitglied­staaten, das Euro­päi­sche Parlament, die Bürger:innen Deutsch­lands und auch die der EU. Sogar der West­balkan wäre zufrieden, da dadurch ein Momentum geschaffen würde, um die sonst fest­ge­fah­rene Erwei­te­rungs­po­litik der EU wieder in Gang zu bringen. Nur Putin wäre wütend, müsste es aber akzep­tieren und dürfte sich zweimal überlegen, ob es für ihn noch Sinn macht, den Krieg fortzusetzen.

Ein Kandi­da­ten­status wird nicht in unmit­tel­barer oder kürzerer Zukunft in eine Mitglied­schaft münden, da klar ist, dass es kein Schnell­ver­fahren oder eine Abkürzung geben wird, sondern ein Stan­dard­ver­fahren zum Beitritt, das selbst bei zügigem Ablauf Jahre dauern wird. Ein Kandi­da­ten­status würde aber einen nütz­li­chen Rahmen für das Enga­ge­ment der EU beim Wieder­aufbau der Ukraine nach dem Krieg bieten.

Die Ukraine verdient jetzt den vollen und bedin­gungs­losen Kandi­da­ten­status, weil sie objektiv die Stan­dard­kri­te­rien erfüllt und die euro­päi­schen Werte gegen die brutalste Aggres­sion vertei­digt, die es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat. Die ukrai­ni­sche Gesell­schaft erwartet im Juni diese Entschei­dung des Euro­päi­schen Rates und wird alles, was keinen vollen Kandi­da­ten­status bedeutet, als nicht objektiv oder unver­nünftig betrachten.

Ein Teil der Entschei­dung sollte in der Formu­lie­rung von Zeit­rahmen und Bedin­gungen für den nächsten Schritt bestehen, nämlich für die Eröffnung von Beitritts­ver­hand­lungen. Hier könnten als Teil der Kondi­tio­na­lität ausste­hende Reform­fragen iden­ti­fi­ziert werden, aller­dings nach, und nicht vor der Verlei­hung des Kandidatenstatus.

Die Eröffnung und Durch­füh­rung von Beitritts­ver­hand­lungen wird Zeit erfordern. Also sollte die EU konkrete, greifbare kurz­fris­tige Schritte anbieten, um die Ukraine näher an die EU zu bringen und durch eine zuneh­mende Inte­gra­tion in den EU-Binnen­markt gemäß den Bestim­mungen des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens der Bevöl­ke­rung einen unmit­tel­baren Nutzen zu vermitteln.

Ande­rer­seits könnte die EU dieses Momentum nutzen, um ihre Erwei­te­rungs­me­tho­do­logie zu über­denken: das „Regatta“-Prinzip zur fairen Behand­lung; die Umkehr­bar­keit im Fall von Rück­schritten bei der Erfüllung der Kriterien; Ergänzung von Kriterien für die Abstim­mung der Außen­po­litik; Über­ein­kommen, dass neue EU-Mitglieder im Rat nicht ihr Vetorecht einzu­setzen und eine Reform der Entschei­dungs­me­cha­nismen der EU auf Grundlage einer quali­fi­zierten Mehrheit.

Bei diesen Bemü­hungen auf dem Weg in die EU braucht die Ukraine die Unter­stüt­zung Deutsch­lands. Ebenso braucht Deutsch­land die Unter­stüt­zung der Ukraine, um die Fehler der ferneren und jüngeren Vergan­gen­heit zu beheben, und um in der Lage zu sein, sich um Europas Zukunft zu kümmern.

Anmer­kungen

¹ Gemäß Artikel 2 des EU-Vertrags sind dies: Achtung der Menschen­würde, Freiheit, Demo­kratie, Gleich­heit, Rechts­staat­lich­keit und die Wahrung der Menschen­rechte einschließ­lich der Rechte der Personen, die Minder­heiten angehören.
² In den Formaten des Euro­päi­schen Rates und des Rates der EU.
³ So called Copen­hagen criteria.
⁴ The poll was commis­sioned by the Jean Jaures foun­da­tion and Yalta European Strategy (YES) and conducted by a leading French polling firm IFOP.
⁵ See details here: Euro­ba­ro­meter.
⁶ Nego­tia­tions with Poland, Czech Republic, Hungary, Slovenia, Estonia, Cyprus conducted over 1998–2003; Slovakia, Latvia, Lithuania, Malta – 2000–2003; Romania, Bulgaria – 2000–2005; Croatia – 2005–2011.
⁷ For a detailed expl­ana­tion of the EU-Ukraine AA/​DCFTA content and imple­men­ta­tion progress in sectoral inte­gra­tion to the Single market see.
⁸ As explained by the Brussels-based Centre for European Policy Studies (CEPS) in its Opinion on Ukraine’s EU appli­ca­tion.
⁹ See Ukrainian government’s report on imple­men­ta­tion of Asso­cia­tion Agreement as of end of 2021.
¹⁰ For more details see: Report on Inte­gra­tion.
¹¹Joint call of Ukrainian CSOs to EU member states to grant Ukraine EU candidate status promptly, as reco­gni­tion of joint reform achie­ve­ments (in German).
¹² Ques­ti­on­n­aire: Infor­ma­tion requested by the European Commis­sion to the Govern­ment of Ukraine for the prepa­ra­tion of the Opinion on the appli­ca­tion of Ukraine for member­ship of the European Union, Part I and Part II.
¹³ This opinion is also shared e.g. by the Brussels-based Centre for European Policy Studies (CEPS), which compared Ukraine with candidate countries of the Western Balkans.
¹⁴ Ukrinform: Support for EU accession hits record high at 91% in Ukraine.
¹⁵ Latest joint decla­ra­tion of the EU-Ukraine Civil Society Platform under the Asso­cia­tion Agreement, which unites NGOs, employers and trade unionists on both sides.
¹⁶ Open letter by Presi­dents in support of Ukraine’s swift candidacy to the European Union.


Text as of: 26.05.2022

Dmytro Shulga, Inter­na­tional Renais­sance Foun­da­tion, Ukraine
E‑mail: shulga@irf.ua

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