Israels Zukunft: Rechts und demokratisch oder rechts und autoritär?

Premier Netanyahu und seine Koalition bekämpfen die demokratischen Institutionen des Landes für den eigenen Machterhalt. Spätestens nächstes Jahr werden sich die Israelis entscheiden müssen, in was für einem Land sie leben wollen, schreibt unser Kolumnist Richard C. Schneider.
Lange Zeit schien es, als ob die illiberale Justizreform, die die Regierung Netanyahu mit einer Ankündigung ihres Justizministers Yariv Levin am 4. Januar 2023 anstieß, eingeschlafen sei. Zum einen war es den massiven Protesten der israelischen Bürger zu verdanken, dass die Regierung nur ein einziges Gesetz dieser angeblichen Reform durchbrachte – und dieses später vom Obersten Gericht gekippt wurde. Zum anderen lag es aber auch an dem Gaza-Krieg, der nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 begann. Damals war der Oppositionspolitiker Benny Gantz mit seiner Fraktion in die Regierung eingetreten, um die «Einheit Israels» zu garantieren. Dafür musste ihm Netanyahu garantieren, dass die Justizreform nicht weiter vorangetrieben wird. Doch Benny Gantz verließ die sogenannte Notstandsregierung im Juni 2024 wieder. Netanyahu und seine Koalitionäre fühlten sich seitdem nicht mehr an das Versprechen gebunden.
Justizumbau im Schatten des Krieges
Im Schatten des Krieges gegen die Hamas, die Hizbollah, die Houthis, die irakischen Schiitengruppen und den Iran selbst, versuchte Yariv Levin in kleinen Schritten seine anti-demokratische Justizreform fortzusetzen. So behinderte er die Ernennung neuer Richter, da die Zusammensetzung des Komitees, das diese auswählen darf, nicht seinen Vorstellungen entsprach. Viele vakante Stellen an Israels ohnehin überlasteten Gerichten bleiben deswegen bis heute unbesetzt. Monatelang wehrte sich Levin auch gegen die Ernennung eines neuen Vorsitzenden des Obersten Gerichts, weil er die aktuellen Regelungen nicht akzeptieren wollte. Diese besagen, dass ein neuer Präsident nach dem Prinzip der Seniorität gewählt wird. Nach dem Ausscheiden von Esther Chajut war daher Isaac Amit für das Amt vorgesehen. Doch Amit ist liberal, was Levin und der Regierung nicht schmeckte. Der Justizminister wollte die Ernennung daher unbedingt verhindern. Das gelang ihm zwar nicht, doch er und die Koalition boykottieren den nun obersten Richter Israels. Im März dieses Jahres wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das die Zusammensetzung des Gremiums, das Richter wählt, verändert. Es tritt zwar erst nach den nächsten Wahlen in Kraft, doch damit ist die Politisierung der Richterämter nun faktisch festgeschrieben.
Zwei zentrale Personalien….
Doch der Kampf der Netanyahu-Regierung gegen die demokratischen Institutionen des Staates Israels ist damit noch lange nicht zu Ende. Derzeit fokussiert sich Premier Netanyahu vor allem auf Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara und auf Ronen Bar, dem Chef des israelischen Inlandgeheimdienstes Shin Bet.
…Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara…
Im März 2025 beschloss das israelische Kabinett ein Misstrauensvotum gegen Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, indem es ihr „unangemessenes Verhalten“ vorwarf und erhebliche Differenzen anführte, die eine wirksame Zusammenarbeit behinderten. Dieser Schritt wird als Versuch gewertet, eine wichtige Justizbeamtin, die Netanyahus laufenden Korruptionsprozess beaufsichtigt, abzusetzen. Baharav-Miara wies die Behauptungen des Kabinetts zurück und beschuldigte die Regierung, sich über das Gesetz hinwegsetzen zu wollen und „grenzenlose Macht“ anzustreben, um die Justiz zu schwächen und die Loyalität zur Regierung zu fördern. Wie es in diesem Fall weitergeht, ist noch völlig unklar, der Absetzung eines Generalstaatsanwaltes sind eine Menge Hürden gesetzt, es ist zweifelhaft, ob es der Regierung wirklich gelingen wird, Baharav-Miara loszuwerden. Sollte es aber doch dazu kommen, dürfte ein solcher Schritt zu massiven Protesten und Streiks der israelischen Gesellschaft führen, im schlimmsten Fall wäre sogar eine Verfassungskrise möglich, wenn das Oberste Gericht die Absetzung der Generalstaatsanwältin rechtlich nicht anerkennen würde.
… und Shin Bet-Chef Ronen Bar…
Aktuell bestimmen die Auseinandersetzungen zwischen Premier Netanyahu und Shin Bet Chef Ronen Bar die innenpolitischen Schlagzeilen in Israel. Netanyahu und seine Koalition haben Bar ebenso wie Baharav-Miara «gefeuert». Doch auch im Fall von Bar ist es nicht so einfach, den Geheimdienstler so ohne weiteres loszuwerden. Petitionen gegen die Absetzung haben das Oberste Gericht dazu geführt, weitere Anhörungen anzusetzen. Bar hat inzwischen eine eidestattliche Erklärung abgegeben, in der es heißt, dass Netanyahu ihn aufgefordert habe, seine politischen Gegner und vor allem die Organisatoren der Demonstrationen gegen ihn auszuspionieren. Aber mehr noch: Laut Bar soll Netanyahu von ihm gefordert haben, dass der Shin Bet im Falle einer Verfassungskrise nicht auf der Seite des Obersten Gerichts stehen dürfe, sondern auf seiner Seite.
Mögliche Verfassungskrise und erneute Korruptionsvorwürfe
Das aber würde dem Shin Bet Gesetz von 2002 und dem Aufgabenbereich des Shin Bet komplett widersprechen. Denn der Inlandgeheimdienst bekämpft nicht nur palästinensischen und islamistischen Terror in den besetzten Gebieten und innerhalb des Kernlands Israel, sondern er ist auch für die Wahrung der Demokratie und ihrer Institution zuständig. Im Falle einer Verfassungskrise müsste der Shin Bet selbstverständlich auf der Seite des Obersten Gerichts und des Gesetzes stehen.
Wenn die Aussagen Bars der Wahrheit entsprächen, dann hätte Netanyahu mit seiner Forderung die Möglichkeit eines Coups angedeutet. Das Büro des Premiers dementierte Bars Erklärung als «Lügen». Im Augenblick ist noch unklar, wie dieser Streit ausgehen wird. Die Gegner Netanyahus und auch die Generalstaatsanwältin bestreiten die Rechtmäßigkeit des Rauswurfs von Ronen Bar auch deswegen, weil der Premier sich in einem «Interessenskonflikt» befände. Denn derzeit untersucht der Shin Bet, inwieweit engste Mitarbeiter im Prime Minister Office Geld von Katar für politische Gefälligkeiten angenommen haben. Zwar wird nicht gegen Netanyahu selbst ermittelt, doch die Untersuchung könnte für ihn problematisch werden, da seine Mitarbeiter möglicherweise mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft einen Deal ausmachen, indem sie gegen Straffreiheit oder ‑minderung Geheimnisse aus dem Büro des Premiers ausplaudern.
All das geschieht vor dem Hintergrund des laufenden Krieges, der – so die Gegner Netanyahus – nur noch für den Machterhalt des Premiers geführt wird. Denn nicht zu vergessen ist da noch der oben erwähnte laufende Prozess gegen Netanyahu wegen mutmaßlicher Korruption in drei Fällen. Bei einer Verurteilung könnte Netanyahu sogar Gefängnis drohen, auf alle Fälle ein beschämendes und beschädigendes Ende seiner gesamten Karriere.
Aus diesem Grund, so viele Beobachter, will Netanyahu seine beiden politischen Widersacher, Bar und Baharv-Miara, loswerden, um endlich durchregieren zu können, in dem er in Schlüsselpositionen nur noch seine Adlaten einsetzt und die Justiz so schwächt, dass er seinen eigenen Prozess irgendwann einfach beenden kann. Inzwischen hat Bar angekündigt, dass er Mitte Juni zurücktreten wird. An der grundsätzlichen Problematik der Auseinandersetzungen ändert das allerdings nichts.
Innenpolitische Gründe für Fortsetzung des Krieges
Für den Staat sind dies natürlich keine guten Nachrichten. Die innenpolitische Krise ist mit ein Grund für den aktuellen Krieg. Zwar plante die Hamas den Überfall auf Israel schon lange, doch man schlug zu, als die israelische Gesellschaft gespaltener und geschwächter denn je war. Nun verhindert der laufende Krieg eine Aufarbeitung all der Fehler und Verfehlungen des politischen und militärischen Systems Israels.
Während alle Sicherheitschefs, auch Ronen Bar, Verantwortung für das Versagen ihrer Organe in Bezug auf den 7. Oktober übernahmen und ihren Rücktritt in Aussicht stellten oder bereits zurückgetreten sind, weigert sich Netanyahu bis heute, Verantwortung als Premier für die Katastrophe zu übernehmen. Im Gegenteil, er lehnt sogar die Einsetzung einer staatlichen und unabhängigen Untersuchungskommission ab, da er genau weiß, zu welchem Ergebnis sie gelangen würde. Das Versagen Netanyahus begann nicht erst mit dem 7. Oktober, sondern mit seiner langjährigen Politik, die Hamas mit Geldern aus Katar finanzieren zu lassen, um damit die Palästinensische Autonomiebehörde mit Präsident Mahmud Abbas zu schwächen und so einen Palästinenserstaat zu verhindern.
Demokratisch oder autoritär?
In Israel wird 2026 eine neue Regierung und ein neues Parlament gewählt. Bis dahin dürfte sich Netanyahu wohl an der Macht halten. Manche Israelis befürchten, die Regierung könnte irgendeinen Grund finden, um die Wahlen zu verschieben. Auf alle Fälle wird Israel früher oder später eine Grundsatzentscheidung treffen müssen. Will und kann es eine Demokratie bleiben, oder wird es den bereits eingeschlagenen autoritären Weg fortsetzen, wie das in vielen anderen Staaten ebenfalls der Fall ist?
Mit der Präsidentschaft von Donald Trump sieht sich Netanyahu bestärkt in seinem Versuch, den Staat so umzubiegen, wie er ihn für sich braucht und will. Im Weißen Haus sitzt kein demokratischer Präsident, der ihn in zügeln könnte. Insofern wird sich die israelische Zivilgesellschaft wieder einmal mobilisieren müssen, wenn sie ihre Demokratie erhalten will. Doch ähnlich wie in den USA sind mindestens die Hälfte der Israelis keine unbedingten Freunde eines liberalen Systems, selbst wenn die große Mehrheit Netanyahu loswerden möchte. So viel ist sicher: Das Massaker und der nun schon anderthalb Jahr andauernde Krieg hat die letzten Reste der Linken in Israel marginalisiert. Das Land ist und bleibt rechts. Die Frage ist nur: rechts und demokratisch oder rechts und autoritär?
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