Lehren aus dem Brexit: Warum haben die Remainer verloren?

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Wenn Großbri­tannien am 31. Januar aus der EU austritt, dann nur deshalb, weil Boris Johnson ein Kunst­stück gelungen ist: obwohl laut Umfragen eine Mehrheit der Briten ein zweites Referendum bevor­zugte, gelang dem Premier mit dem Versprechen, den Brexit rasch umzusetzen, ein hoher Wahlsieg. Wie lässt sich das Paradox auflösen? Unsere Kolum­nistin Julia Smirnova hat die unter­le­genen Remainer gefragt und vor allem eins gehört: Selbstkritik. 

Am 31. Januar ist es so weit. Großbri­tannien wird die Europäische Union verlassen, dreieinhalb Jahre nach dem schick­sals­träch­tigen Referendum, nach zwei Parla­ments­wahlen und einer erbit­terten politi­schen Diskussion. Entscheidend war schließlich der klare Sieg der Konser­va­tiven Partei bei den Wahlen im Dezember. 

Portrait von Julia Smirnova

Julia Smirnova ist freie Journa­listin und Studentin am King’s College London. 

Das Referendum war von den Anhängern des Brexits nur knapp gewonnen worden. Eine deutli­chere Mehrheit für den Brexit entwi­ckelte sich auch in den Jahren nach dem Referendum nicht. Im vergan­genen Jahr zeigten Umfragen sogar, dass nun eine knappe Mehrheit der Briten den Austritt aus der EU für einen Fehler hielt. Im März und Oktober gingen in London hundert­tau­sende Menschen auf die Straße, um ein zweites Referendum zu fordern – Alles Menschen, die in der EU bleiben wollten. Doch die Kampagne für ein „People’s Vote“ – so beein­dru­ckend sie auch war – erreichte ihr Ziel nicht und hatte einen zu geringen Einfluss auf den Ausgang der Parla­mentswahl. Wie kam es dazu? Warum konnten sich die Pro-Europäer nicht durchsetzen?

Darf man ein Referendum wiederholen?

Zum einen hatten die Brexit-Anhänger ein starkes Argument auf ihrer Seite: die Abstimmung von 2016 mag knapp ausge­gangen sein, doch sie war demokra­tisch. Wenn man die Bürger über die gleiche Frage noch einmal abstimmen ließe, warum dann nicht auch ein drittes Mal? Doch je länger sich der Brexit hinzog, desto mehr Menschen und Abgeordnete im Parlament gelangten zu der Überzeugung, dass eine Volks­ab­stimmung über die Kondi­tionen des Austritts oder den Verbleib in der EU ein Ausweg aus der Sackgasse sein könnte. Sie argumen­tierten so: die Briten hätten 2016 für einen Austritt aus der EU gestimmt, ohne genau zu wissen, wie dieser aussehen würde; ein zweites Referendum würde demnach das erste nicht in Frage stellen, es wäre vielmehr eine Ergänzung.

Streit im People’s‑Vote-Lager

Aber viel gravie­render als diese Frage war für die Kampagne eine Reihe von Fehlent­schei­dungen im Lager der Remainer. Die Kampagne für das zweite Referendum, die von einer Koalition aus neun pro-europäi­schen Organi­sa­tionen bestand, wurde im Oktober 2019 mehr oder weniger von oben zerstört. Zwei Tage bevor das britische Parlament die Neuwahlen ausrief, eskalierte ein interner Streit bei People’s Vote. Roland Rudd, der Vorsit­zende der Kampagne, feuerte plötzlich zwei ihrer Schlüs­sel­fi­guren, James McGrory and Tom Baldwin. Dutzende Mitar­beiter folgten ihnen und arbei­teten fortan in einem Pub neben dem Büro der Kampagne. In einem entschei­denden Moment war das pro-europäische Lager mit internen Strei­tig­keiten beschäftigt.

Rudd, der 58-jährige Millionär und PR-Berater, wird von vielen Pro-Europäern für das Scheitern der Kampagne verant­wortlich gemacht. Er ist ein weiteres Beispiel von Vertretern der briti­schen Elite, die zu einem wichtigen Zeitpunkt eine fatale Entscheidung treffen. Rudd ist ein Oxford-Absolvent, ein ehema­liger Journalist bei der Zeitung Financial Times und Gründer einer PR-Firma. Er ist auch Bruder von Amber Rudd, der ehema­ligen Minis­terin der Tories, die später wegen ihrer pro-europäi­schen Position die Partei verließ. Roland Rudd war Vorsit­zender von Open Britain, der größten Organi­sation in der People’s Vote-Koalition und hatte viel Einfluss in der Kampagne. Seine ehema­ligen Mitstreiter werfen ihm vor, wegen eigener Macht­am­bi­tionen die pro-europäische Kampagne zerstört zu haben. „Sein Ego stellte sich in den Weg“, sagt dazu Amanda Chetwynd-Cowieson, die Mitgrün­derin der Jugend­or­ga­ni­sation For Our Future’s Sake. Nach dem Coup bei People’s Vote entschied sich die Jugend­gruppe dafür, eine eigene Kampagne vor den Wahlen zu machen.

Hochmut der Liberaldemokraten

Hinzu kam die verhäng­nis­volle Entscheidung von Jo Swinson, der Vorsit­zenden der Liberal­de­mo­kraten, die Neuwahlen zu unter­stützen. Zu jenem Zeitpunkt hatte Boris Johnson die Mehrheit im Parlament verloren. Er kam mit dem Brexit nicht voran, ein ungere­gelter Austritt war vom Parlament per Gesetz ausge­schlossen worden. Ohne Unter­stützung der Opposition konnte er keine Neuwahlen ausrufen und steckte damit in der gleichen Sackgasse wie zuvor Theresa May. Viele Anhänger des zweiten Referendums hofften, dass sie ihr Ziel erreichten, wenn das Chaos nur lange genug andauerte und Johnson geschwächt würde. Swinson hoffte hingegen darauf, dass ihre Partei als klar pro-europäische Kraft bei Neuwahlen viele zusätz­liche Sitze im Parlament gewinnen würde: bei den Europa­wahlen im Mai waren die Liberal­de­mo­kraten noch zweit­stärkste Kraft geworden. Doch im Dezember schei­terten sie am briti­schen Wahlsystem, das den beiden großen Parteien Vorteile verschafft. Jo Swinson verlor in ihren Wahlkreis und trat zurück.

Indivi­duelle Fehler im Remain-Lager

„Das war eine verrückte Reihe von falschen Entschei­dungen“, sagt Richard Brooks von der Jugend­gruppe For Our Future’s Sake. „Unsere Generation setzte ihre Hoffnungen auf die Kampagne für das zweite Referendum“. Für die Entscheidung von Rudd habe er keine Erklärung und die Entscheidung von Swinson erklärt er mit Hybris. Die Neuwahl seien von Anfang an keine gute Methode gewesen, den Brexit zu stoppen. „Boris Johnson machte sie zu einer Wahl zwischen ihm und Jeremy Corbyn, dem unpopu­lärsten Opposi­ti­ons­führer in der Geschichte und diese Karte spielte er sehr gut“, meint Brooks.

Dazu kam, dass die Stimmen der Pro-Europäer bei den Wahlen zwischen den Liberal­de­mo­kraten und der Labour-Partei verteilt waren. Mehrere Platt­formen lieferten Ratschläge für die taktische Abstimmung gegen die Konser­vative Partei im jewei­ligen Wahlkreis, doch erfolg­reich war diese Strategie nicht.

Eine der Lektionen, die sich aus der Brexit-Geschichte ableiten lässt, könnte so lauten: indivi­duelle Entschei­dungen einzelner Akteure können viel Unheil anrichten. Das gilt sowohl für die Vorge­schichte des Brexit-Referendums, als auch für den Niedergang der Kampagne für das zweite Referendum.

Die beiden jungen Aktivisten aus For Our Future’s Sake wollen aber auch eine positive Lektion mitnehmen. Sie wissen jetzt, dass es möglich ist, innerhalb kurzer Zeit eine breite und populäre Kampagne aufzu­bauen und Menschen zu mobili­sieren. Sie mögen jetzt verärgert und enttäuscht sein, doch sie bleiben den Werten einer offenen Gesell­schaft treu, auch in einem Großbri­tannien nach dem Brexit. „Wir hatten beein­dru­ckende junge Aktivisten“, sagt Brooks. „Viele von ihnen werden in 10, 20 oder 30 Jahren im Zentrum des Geschehens in der Politik und der Zivil­ge­sell­schaft sein.“ Er hofft, dass sie dann in den wichtigen Momenten bessere Entschei­dungen treffen werden.

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