Klimaschutz in einer Overshoot-Welt – zur Realität jenseits des 1,5‑Grad-Ziels
Wie sieht eine Welt aus, in der das 1,5‑Grad-Ziel gerissen wurde und nur noch die Entnahme riesiger Mengen CO2 aus der Atmosphäre die Chance offenhält, die Temperatur wieder zu senken? Und wie sieht Klimaschutz in einer solchen Welt aus? Lukas Daubner skizziert, welche Paradigmen sich beim Klimaschutz verschieben, wenn wir in eine Phase der (temporären) Überschreitung der 1,5‑Grad-Schwelle gelangen.
Die Sonne geht auf über der brandenburgischen Steppe. Im Jahr 2075 scheint sie auf ein Heer von Anlagen, die CO2 aus der Atmosphäre saugen. An Landwirtschaft ist hier schon lange nicht mehr zu denken. Im Süden Deutschlands wird noch Landwirtschaft betrieben. Regelmäßig kommen riesige Elektro-LKWs auf die Höfe und liefern gemahlenes Gestein, was anschließend auf die Felder ausgebracht wird und dort CO2 bindet. Dort, wo es geologisch möglich ist, wird CO2 im Boden verpresst und gespeichert – mittlerweile eine lukrative Einnahmequelle für Landbesitzer und Kommunen. In der Schwarzwaldregion qualmen noch Schlote: Hier hat sich eine große Pyrolyse-Industrie angesiedelt, in deren Öfen CO2-bindende Pflanzenkohle produziert wird.
Diese Vision einer CO2-Entnahmewelt ist keine Science-Fiction. Sie kann schon bald Realität werden. Nämlich dann, wenn das Pariser 1,5‑Grad-Ziel verfehlt wird – und genau das zeichnet sich derzeit ab. Zwar bleibt die Emissionsminderung die zentrale klimapolitische Aufgabe, doch künftig wird zusätzlich eine CO2-Entnahme in gigantischem Ausmaß notwendig. Das hat weitreichende Konsequenzen für Klimapolitik, die Klimabewegung und deren Strategien. In dieser Post‑1,5‑Grad Welt müssen Klimaschützer etwa mit der heutigen Öl- und Gasindustrie kooperieren, weil ihre Fähigkeiten benötigt werden, um CO2 sicher und langfristig im Boden zu speichern.
Diese neue Art des Klimaschutzes geht einher mit neuen Erzählungen, neuen Konflikten und neuen Gefahren. Nötig wird sie, weil es zunehmend unwahrscheinlich wird, dass die Begrenzung der Erderwärmung auf maximal 1,5°C im Vergleich zur vorindustriellen Zeit gelingt. Derzeit steuert die Menschheit auf eine Erwärmung um rund 3 Grad C bis zum Jahr 2100 zu – mit verheerenden ökologischen und sozialen Folgen. Wahrscheinlich ist, dass die 1,5‑Grad-Schwelle Anfang der 2030er Jahre gerissen wird.
In dieser Situation rückt das Overshoot-Konzept in den Vordergrund. Es meint das Überziehen des CO2-Budgets und die entsprechende Erhöhung der Temperatur auf über 1,5‑Grad C – verbunden mit der Hoffnung, durch massive CO2-Entnahme in der zweiten Jahrhunderthälfte wieder unter diese Schwelle zu sinken. Je stärker der Overshoot, desto größer der Bedarf an CO2-Entnahme. Overshoot ist aus heutiger Sicht die einzige Möglichkeit, dass Paris-Ziel überhaupt noch einzuhalten.
Was ist CO2-Entnahme?
Wird durch unterschiedliche Verfahren mehr CO2 entnommen als ausgestoßen, entstehen so genannte negative Emissionen. Die sind dringend nötig, um das Erdklima zu stabilisieren und die Temperatur wieder etwas zu senken. CO2 kann am einfachsten durch gesunde Wälder, Pflanzenkohle oder mehr Humus in Böden gespeichert werden. Komplizierter wird es bei technischen Verfahren wie die direkte Entnahme aus der Luft (Direct Air Capture, kurz DAC), der Verbrennung oder Vergärung von Biomasse mit anschließender Abscheidung und Speicherung des CO2 und vielen weiteren, mehr oder weniger komplexer Verfahren.
Die Dimensionen sind gewaltig: Um die globale Temperatur um 0,1 Grad C zu senken, müssten etwa 220 Milliarden Tonnen CO2 entfernt werden – das Fünffache der heutigen weltweiten Jahresemissionen. Zur Einordnung: Durch weltweite Aufforstungsaktivitäten werden derzeit etwa 2 GT CO2 pro Jahr entfernt. Diese Mengen machen klar, dass die CO2-Vermeidung oberste Priorität haben muss. Doch sie allein reicht nicht mehr.
Was muss passieren, damit in Brandenburg – und an vielen anderen Orten der Welt – die Ventilatoren der CO2-Entnahme-Anlagen surren? Was bedeutet dieser Ausblick für den Klimaschutz und seine Akteure – also NGOs, Parteien, Initiativen, Unternehmen oder die Forschung? In einer Welt jenseits des 1,5‑Grad-Ziels wird CO2-Entnahme zentral für den Klimaschutz – und stellt die bisherigen Strategien, Rollen und Allianzen der Klimabewegung vor tiefgreifende Herausforderungen.
Paradigmenwechsel im Klimaschutz
Mit der 1,5‑Grad-Schwelle im Rückspiegel verschieben sich Paradigmen im Klimaschutz: Es geht dann nicht mehr darum, etwas zu vermeiden – nämlich das Überschreiten der 1,5‑Grad-Schwelle, sondern darum, zurückzukehren. 1,5‑Grad bleibt der Fixpunkt, aber aus gänzlich anderer Perspektive als heute.
Klimaschutz in einer Overshoot-Welt unterscheidet sich grundlegend vom heutigen Selbstverständnis vieler Akteure. Bislang lautet die zentrale Forderung: Emissionen vermeiden. In Zukunft könnte sie lauten: CO2 rückholen. Dabei geraten Technologien in den Fokus, die bisher skeptisch betrachtet wurden – etwa DAC oder industrielle CO2-Speicherung. Schätzungen gehen davon aus, dass die globale DAC-Industrie etwa die Größe der heutigen Ölindustrie annehmen muss, um der Atmosphäre CO2 in einem signifikanten Ausmaß zu entnehmen.
Ein radikaler Umbau des Energiesystems bleibt weiterhin erforderlich. Doch er wird begleitet werden von einer Art „umgekehrter Industriepolitik“: Der Aufbau einer globalen CO2-Entnahmeinfrastruktur wird zur zentralen Aufgabe. Klimaschützer werden sich für CO2-Entnahme-Farmen, Pyrolyse-Öfen und CO2-Speicher einsetzen, während Anwohnende, Teile der Politik und „klassische“ Industrie sich möglicherweise dagegen positionieren werden. Klimaschutz wird noch mehr zur Infrastrukturfrage – mit neuen Konfliktlinien zwischen Klimaschützern, Industrie, Anwohnenden und Naturschutz.
Diese Auseinandersetzungen werden geführt, in einer Zeit, in der die Konkurrenz um Ressourcen etwa für die Anpassung an die Folgen des Klimawandels oder für technische Eingriffe ins Klimasystem („Geoengineering“) groß sein werden. Insbesondere auch, weil der Klimawandel in den nächsten Jahrzehnten deutlich vorangeschritten sein wird. Das gilt auch bei einem erfolgreichen Overshoot. Selbst wenn die Temperatur wieder etwas sinkt und damit Düren und Hitzewellen voraussichtlich abnehmen, steigen Meeresspiegel weiter und die Gletscherschmelze kann auch nicht aufgehalten werden. Ausgestorbene Arten bleiben ausgestorben und gestorbene Menschen bleiben tot, auch wenn die Temperatur etwas sinkt.
Neue Strategien und Prioritären werden nötig
Klimaschützer brauchen in einer nahen Zukunft eine Doppelstrategie: Druck auf eine schnelle CO2-Vermeidung aufrechthalten, und gleichzeitig Einsatz für den Auf- und Ausbau unterschiedlicher CO2-Entnahmemethoden. Für zivilgesellschaftliche Organisationen, Bewegungen oder Parteien bedeutet das, Strategien und Prioritäten zu verändern. Es wird von denen großes Vertrauen in Technologien abverlangt, bei denen dieses naturgemäß schwach ausgeprägt ist und das mit ihren technologieskeptischen Traditionen bricht.
Damit der Schwarzwald zum Pflanzenkohle-Hotspot und Brandenburg zum Herz der CO2-Entnahmeindustrie in Deutschland wird, müssen enorme organisatorische sowie ökonomische Herausforderungen gestemmt werden. Ähnlich wie die Abfall- oder Abwasserentsorgung wird die CO2-Entnahme sich kaum selbst tragen können. Mittelfristig werden sich Klimaschützer dafür einsetzen müssen, dass Regierungen und private Geldgeber große Summen aufwenden, um CO2-Entnahme im industriellen Maßstab zu ermöglichen. Letzteres wird nicht einfach passieren, weil es nötig ist – genauso wenig, wie Klimaschutz heute in ausreichender Geschwindigkeit stattfindet, weil es geboten ist.
Die Kommunikation von Klimaschutz muss sich von der Vermeidung hin zur Notwendigkeit der aktiven Rückholung von CO2 aus der Atmosphäre verändern. Für die entsprechenden Akteure stellt sich dabei die Frage, wann der richtige Zeitpunkt für diesen Turn ist. Und wie laut wird er kommuniziert? Oder wird es sich eher um einen schleichenden Strategiewechsel handeln? Mit dieser kognitiven Wende verbunden wäre eine Neuausrichtung der Advocacy-Arbeit und die Notwendigkeit, neue Allianzen einzugehen.
Klar ist schon jetzt, dass der Aufbau einer funktionierenden CO2-Entnahmeinfrastruktur nur gelingen wird, wenn sehr unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zusammenarbeiten: Klimaschützer und Ingenieurinnen, Landwirtinnen und Minenbetreiber, Städter und Bewohnerinnen ländlicher Gegenden (wo die meiste CO2-Entnahme stattfinden wird).
Offen ist dagegen, was für Jobs in der CO2-Entnahmeindustrie entstehen werden. Was für Arbeit wird in den Entnahme-Fabriken verrichtet? Kreative oder körperlich harte Arbeit? Wer sind die Arbeitgeber und für wen wird sich die Arbeit lohnen? Klima-NGOs und Gewerkschaften könnten sich zusammentun und gemeinsam Antworten auf diese Fragen finden.
Gefahr der Spaltung
Die Kooperation mit (ehemaligen) Öl- und Gasfirmen, die Hoffnung auf technische Lösungen, die zunehmenden Landkonflikte zwischen Landwirtschaft, CO2-Entnahme und Biodiversitätszielen bergen für Klimaschutz-Akteure Stoff für schwerwiegende Konflikte und Richtungskämpfe. Für die beschleunigte Verwitterung, einer Methode, bei der riesige Mengen feingemahlenes Gestein auf Felder ausgebracht wird, müssen Steinbrüche abgetragen werden und viele große LKWs durch die Gegend fahren. Hier und bei anderen CO2-Entnahme-Methoden ist es leicht sich auszumalen, wie Interessen des Klima- und des Umweltschutzes kollidieren. Der bereits bestehende Konflikt zwischen Umwelt- und Klimaschutz kann bei einer CO2-Entnahme im industriellen Ausmaß weiter angeheizt werden. Eine Schwächung oder Spaltung der Szene wäre programmiert.
Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken, wäre es für die entsprechenden Akteure wichtig, sich bereits heute auf einen Katalog robuster ökologischer Leitplanken zu verständigen, die den Hochlauf der CO2-Entnahme rahmen.
Zurück in die Zukunft
Auch wenn das 1,5‑Grad-Ziel überschritten und nur noch im Rückspiegel betrachtet wird, bleibt es ein notwendiger Referenzpunkt der Klimapolitik. Würde eine andere Zielmarke akzeptiert, beispielsweise 2‑Grad, ginge das einher mit einer deutlich geringen Notwendigkeit für negative Emissionen. Gleichzeitig wären die negativen Folgen für Ökosysteme und Gesellschaft erheblich.
Klimaschutz in einer Overshoot-Welt erfordert neue Denkweisen, ungewöhnliche Allianzen und politische sowie technische Kreativität. Es sollte heute alles dafür getan werden, damit der Overshoot möglichst gering bleibt. Es ist aber aktuell die einzige Strategie, um das 1,5‑Grad-Ziel am Leben zu behalten. In naher Zukunft wird Klimaschutz auch bedeuten, sich aktiv für eine großskalige CO2-Entnahme einzusetzen.
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