Libera­lismus im Deutschen Reich – zwischen autori­tärer Versu­chung und modernem Staat

Foto: Gemeinfrei, Robert Sennecke

Der Histo­riker Eckart Conze sprach mit Till Schmidt über die Nachwir­kungen des Kaiser­reichs auf die Deutsche Psyche, die aktuelle Kolonia­lis­mus­de­batte und die komplexe Rolle des organi­sierten Libera­lismus in der Zeit zwischen 1871 und 1918.

Schmidt: Anlässlich des Jahres­tages der Reich­gründung hat die Zeit 1871 bis 1918 wieder mehr öffent­liche Aufmerk­samkeit erfahren. Was ist Ihnen aufgefallen?

Conze: Es ist bemer­kenswert, dass die Debatte über das Kaiser­reich eine relativ hohe Aufmerk­samkeit erhält. Durch den Jahrestag der Reichs­gründung wurde das noch verstärkt. In einer Demokratie werden Geschichts­bilder immer wieder neu verhandelt, Geschichte braucht den Streit, und Histo­riker haben dabei eine wichtige, auch öffent­liche Funktion und Verant­wortung. Wenn ich mit meinem Buch zu dieser Debatte beitragen konnte, freut mich das.

Welche Rolle spielen diese Debatten für das Selbst­ver­ständnis der Deutschen?

Für die alte Bundes­re­publik waren Ausein­an­der­set­zungen über das Kaiser­reich und die kritische Distanz zum Natio­nal­staat von 1871 von zentraler Bedeutung und ein wichtiger Indikator der politi­schen und sozial­kul­tu­rellen Libera­li­sierung. Mit der deutschen Einheit hat die Frage nach dem Verhältnis der Deutschen zu dem 1945 unter­ge­gan­genen Natio­nal­staat neues Gewicht gewonnen. Nicht nur im Blick auf den Natio­nal­so­zia­lismus, sondern auch auf das Kaiser­reich. Affir­mative Bekennt­nisse zur preußisch-deutschen Natio­nal­ge­schichte und zu einer natio­nal­staat­lichen Konti­nuität sind heute Elemente eines neuen Natio­na­lismus und rechts­po­pu­lis­ti­scher Politik. Das trägt zur Schärfe der Ausein­an­der­setzung über das Kaiser­reich bei.

Was charak­te­ri­siert den fachwis­sen­schaft­lichen Diskurs?

Es gibt einen breiten Konsens über die Ambiva­lenzen des Kaiser­reichs: politi­scher Autori­ta­rismus und fehlende Parla­men­ta­ri­sierung einer­seits, gesell­schaft­licher Aufbruch und Moder­ni­sierung anderer­seits. Dazu kommt die Überein­stimmung darin, dass es einen deutschen Sonderweg in die Moderne nicht gegeben hat. Das ist nicht zuletzt das Ergebnis der jüngeren inter­na­tional, vor allem europäisch verglei­chenden Forschung. Deutsche Spezifika bleiben dennoch: die Natio­nal­staats­bildung als Ergebnis einer Revolution von oben; ein Nations­ver­ständnis, das von Anfang an stark auf Abgrenzung und Ausgrenzung beruhte und viel weniger auf staats­bür­ger­licher Gleichheit und politi­scher Parti­zi­pation; der Aufstieg eines völki­schen Natio­na­lismus mit seiner Vorstellung der ethnisch homogenen Nation; oder der politische, in der Verfassung veran­kerte Milita­rismus zusammen mit dem durch die „Reichs­ei­ni­gungs­kriege“ befeu­erten Bellizismus.

Was bedeutet das für die öffent­liche Debatte?

Dass man diese „Schat­ten­linien“, wie sie Thomas Nipperdey genannt hat, nicht margi­na­li­sieren darf. Der ergeb­nis­offene histo­rische Vergleich fördert Gemein­sam­keiten ebenso zutage wie Unter­schiede. Wer aber nur darauf verweist, dass auch in England Matro­sen­anzüge getragen wurden, zeichnet ein oberfläch­liches und unvoll­stän­diges Bild, das Ergeb­nisse jahrzehn­te­langer Forschung ignoriert. Es ist aber auch ein gefähr­liches Spiel: Denn damit werden Stich­worte geliefert für jene Natio­na­listen, die das Kaiser­reich in ein rosiges Licht tauchen und es als freiheitlich verfassten Natio­nal­staat charak­te­ri­sieren, es als „normale Nation“ bezeichnen, um die Bundes­re­publik in seine Tradition stellen zu können; die behaupten, das Kaiser­reich werde von Kritikern im Inland wie im Ausland als autoritär und aggressiv darge­stellt, um das Deutschland des 21. Jahrhun­derts an einer selbst­be­wussten natio­nalen Politik zu hindern. Sie merken: Wissen­schaft­licher und öffent­licher Diskurs lassen sich nicht vonein­ander trennen.

Auch die Debatte um Entschä­di­gungs­zah­lungen an die Hohen­zollern, zu der Sie sich immer wieder öffentlich geäußert haben, findet geschichts­po­li­tisch nicht im luftleeren Raum statt.

In der Tat. Dass „Kronprinz“ Wilhelm dem Natio­nal­so­zia­lismus erheb­lichen Vorschub geleistet hat, so die Formu­lierung des Ausgleichs­leis­tungs­gesetz von 1994, wird von keinem ernst­zu­neh­menden Histo­riker bestritten. Und doch gibt es Stimmen, die meinen, demge­genüber an die angeb­lichen Verdienste der Hohen­zollern vor 1918 erinnern zu müssen. Die klandes­tinen Gespräche, die seit 2014 staat­li­cher­seits mit Vertretern des „Hauses Hohen­zollern“ geführt werden, seit 2019 aber unter­brochen sind, sind privi­le­giert. Dahinter steht das legitime, zumindest jedoch nachvoll­ziehbare Interesse der öffent­lichen Hand, Kultur­güter von enormem materi­ellen und immate­ri­ellen Wert vor dem Risiko einer gericht­lichen Ausein­an­der­setzung zu schützen. Nur ist das kein Grund für Geheimverhandlungen.

Wie bewerten Sie, dass die Bundes­re­gierung gleich­zeitig aber Verhand­lungen mit Vertretern der Nama und Herero ablehnt? Immerhin wurden diese beiden Gruppen in der Kolonie „Deutsch-Südwest­afrika“ Opfer eines von Deutschen verübten Völkermords.

Diese beiden Verhand­lungs­kom­plexe haben formal nichts mitein­ander zu tun, werden aber zunehmend in einen – geschichts­po­li­ti­schen – Zusam­menhang gebracht. Dahinter steht das wachsende gesell­schaft­liche Bewusstsein für die deutsche koloniale Vergan­genheit, die alles andere als eine marginale Episode war. Sie holt uns heute ein, und das mit umso größerer Wucht, weil es lange Zeit keine ernst­hafte Ausein­an­der­setzung mit dem deutschen Kolonia­lismus gegeben hat. Die Entschä­di­gungs­for­de­rungen der Herero und Nama, die sich mit symbo­li­schen Zahlungen an den Staat Namibia nicht abfinden wollen, sind nur eine Dimension der Thematik. Gewalt und Aggression gab es auch anderswo im deutschen Koloni­al­reich. Das erklärt auch die kontro­verse Debatte über das Humboldt-Forum. In ihr überschneidet sich die Ausein­an­der­setzung über Deutsch­lands koloniale Vergan­genheit mit der Erinnerung an Preußen und die Hohenzollern-Monarchie.

Den für das Kaiser­reichs grund­le­genden Autori­ta­rismus erwähnten Sie bereits. Auf dem Weg zur Reichs­gründung setzen aller­dings auch liberale Ideen Impulse. Welchen Stellenwert hatte der Libera­lismus damals?

Immer wieder gab es den Vorwurf, die Liberalen seien der Versu­chung der Macht erlegen, hätten ihre liberalen Ideale verraten und dadurch Obrig­keits­staat und Autori­ta­rismus gestärkt – mit Wirkungen weit ins 20. Jahrhundert hinein. Aller­dings resul­tierte der liberale Schul­ter­schluss mit Bismarck auch aus einer liberalen Fortschritts­ge­wissheit, aus der Überzeugung, dass die Natio­nal­staats­bildung enorme Libera­li­sie­rungs­chancen bereit­halte. Das war ja nicht falsch. Denn die Reichs­gründung überwand die als freiheits­feindlich wahrge­nommene „Klein­staa­terei“. Zudem entstanden auch ein natio­naler Wirtschaftsraum sowie ein Rechts­staat, in dem Regierung und Verwaltung an Recht und Gesetz gebunden waren. Im Kultur­kampf unter­stützten die Liberalen zudem den Durch­bruch des modernen, des säkularen Staates.

Dem allge­meinen Wahlrecht jedoch standen die meisten Liberalen eher skeptisch gegenüber, sie waren keine Befür­worter der Massen­de­mo­kratie. Den Aufstieg der Sozial­de­mo­kratie beobach­teten sie argwöh­nisch. Vor einem politi­schen Zusam­men­gehen mit der SPD, das vielleicht den Durch­bruch zur parla­men­ta­ri­schen Demokratie hätte erreichen können, schreckte man bis in die Kriegs­jahre zurück. Die Furcht vor der „roten Revolution“ wirkte lange nach. Statt­dessen trug der politische Libera­lismus an der Seite der Konser­va­tiven zur Stabi­li­sierung des Autori­ta­rismus bei, und auch der Natio­na­lismus hatte im liberalen Bürgertum eine seiner wichtigsten Trägergruppen.

Vielerorts setzen Liberale dennoch bedeu­tende soziale Reformen durch. Wie bewerten Sie den kommu­nalen Liberalismus?

Er war eine bestim­mende Kraft der gesell­schaft­lichen Moder­ni­sierung insbe­sondere in den urbanen Zentren. Bedeu­tende Liberale waren Oberbür­ger­meister großer Städte, unter ihnen Max Forckenbeck in Breslau und Berlin oder Johannes Miquel in Frankfurt. Den kommu­nalen Libera­lismus kennzeich­neten aller­dings tiefe Wider­sprüche: sozial­re­for­me­rische Verdienste um den Aufbau der modernen Daseins­vor­sorge waren verbunden mit politi­scher Illibe­ra­lität. So stand dem allge­meinen Reichs­tags­wahl­recht (der Männer) in vielen Städten, gerade in Preußen, ein zutiefst rückstän­diges, undemo­kra­ti­sches Zensus­wahl­recht gegenüber. Insofern stützte der kommunale Libera­lismus in seiner politi­schen Illibe­ra­lität und seiner Abwehr­haltung gegen die Sozial­de­mo­kratie den Autori­ta­rismus des Kaiser­reichs. Die Ambivalenz, die das Kaiser­reich insgesamt charak­te­ri­siert,  spiegelt sich auch im politi­schen Libera­lismus jener Zeit

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