Das Schweigen der Linken zum russi­schen Neo-Imperialismus

(Composite of) A new map of the Russian Empire, divided into its govern­ments; from the latest autho­ri­ties, by J. Cary, engraver. London: Printed for J. Cary, Engraver & Map-seller, No. 181, Strand, Aug. 1st., 1799. Quelle: David Rumsey Map Collection

Wie kommt es, dass große Teile der Linken sich so schwertun, eine klare Haltung zur neo-impe­rialen Politik des Kremls zu zeigen – oder sich gar als Schön­redner und Vertei­diger Moskaus betätigen? Offen­kundig werden an Russland andere Maßstäbe angelegt als an die USA und die ehema­ligen west­eu­ro­päi­schen Kolo­ni­al­mächte, bei denen der Vorwurf des Neo-Impe­ria­lismus rasch bei der Hand ist. Dabei stand der russische Kolo­nia­lismus seinen west­li­chen Rivalen in nichts nach. Das sowje­ti­sche Imperium zerfiel später als alle anderen, für Putin die „größte geopo­li­ti­sche Kata­strophe des 20. Jahr­hun­derts.“ Dass die Ukraine und andere ehemalige russische Kolonien auf ewig im Macht­be­reich des Kremls bleiben sollen, folgt einer neo-impe­rialen Logik. Dass angeb­liche „Anti-Impe­ria­listen“ dafür Verständnis aufbringen, ist ein poli­ti­scher Offenbarungseid.


Stellen Sie sich vor, Groß­bri­tan­nien würde unter einer auto­ri­tären Führung, die sich nach vergan­gener Größe sehnt, versuchen, sein Imperium wieder­auf­zu­bauen. Dazu bediente es sich einer ganzen Palette von Macht­mit­teln: die Ausnut­zung wirt­schaft­li­cher Abhän­gig­keit, die Nutzung der engli­schen Sprache als Instru­ment kultu­reller Hegemonie, die Behaup­tung einer zivi­li­sa­to­ri­schen Über­le­gen­heit und der Miss­brauch der globalen Reich­weite der angli­ka­ni­schen Kirche. Der ruhm­reiche Sieg im Zweiten Weltkrieg würde beschworen und eine heftige Propa­ganda betrieben, dass die Sicher­heit Groß­bri­tan­niens durch die eigen­wil­lige Bünd­nis­po­litik der abtrün­nigen Ex-Kolonien gefährdet sei. Mili­tä­ri­sche Drohungen und massive britische Aufrüs­tung würden diese Botschaft unterstreichen.

Zugegeben, ein solches Szenario ist schwer vorstellbar. Aber man kann sich leicht vorstellen, wie die linke öffent­liche Meinung nicht nur in Groß­bri­tan­nien darauf reagieren würde. Wie kann es ein Land mit einer solchen Geschichte von Sklaverei, Hungersnot, Plün­de­rung und Völker­mord wagen, seine impe­rialen Ambi­tionen wieder aufleben zu lassen? Einst Teil des briti­schen Imperiums gewesen zu sein – auch wenn dies viel­leicht einige Vorteile mit sich brachte – bedeutet nicht, dass ein Land zu ewiger geopo­li­ti­scher Gefolg­schaft verdammt ist. Außerdem hat Groß­bri­tan­nien zahl­reiche inter­na­tio­nale Konven­tionen unter­zeichnet, die ausdrück­lich besagen, dass Länder das Recht haben, souverän über ihre Zukunft zu entscheiden. Selbst gemäßigte Politiker in der ganzen Welt wären über das tyran­ni­sche, egois­ti­sche Vorgehen Groß­bri­tan­niens empört. Und die radi­ka­lere Linke würde in Wutan­fälle ausbrechen.

Der sprin­gende Punkt ist: Dies alles geschieht gerade jetzt, da Russland versucht, seine ehema­ligen Kolonien zu bedrohen – die Ukraine, aber auch Finnland, Estland. Lettland, Litauen und Polen. Die Botschaft aus Moskau ist klar. Ihr seid nicht frei. Ihr seid nicht souverän. Als Teil unseres alten Imperiums müsst ihr unsere Sorgen und Prio­ri­täten berück­sich­tigen, jetzt und für immer. Diese Forde­rungen werden mit Bombast über den Zweiten Weltkrieg unter­mauert und durch die Drohung, Gaslie­fe­rungen abzu­schneiden sowie mili­tä­ri­sches Säbel­ras­seln unter­stri­chen. All dies ist angeblich gerecht­fer­tigt, weil Russlands kultu­relles, sprach­li­ches und reli­giöses Erbe seinen geopo­li­ti­schen Ansprü­chen Legi­ti­mität verleiht. Wenn diese Länder eine unab­hän­gige poli­ti­sche Entschei­dung über ihre Sicher­heit treffen, behauptet Russland, seine Sicher­heit sei bedroht.

Der Vergleich unter­streicht das skan­da­löse Verhalten des Kremls. Die russische und sowje­ti­sche Behand­lung der Kolonien und unter­drückten Völker war in Art und Ausmaß genauso schlimm wie alles, was westliche Länder in Afrika, Asien oder Latein­ame­rika begangen haben: Kultu­relle Zerstö­rung. Will­kür­lich herbei­ge­führte Hungers­nöte. Massen­er­schie­ßungen. Besatzung. Depor­ta­tion. Stagna­tion. Isolation. Keine Vorteile, die die russische Herr­schaft gebracht haben mag, können das aufwiegen, geschweige denn eine neoko­lo­nia­lis­ti­sche Politik rechtfertigen.

Doch zu diesem realen Beispiel impe­ria­lis­ti­scher Schikane schweigt die globale Linke selt­sa­mer­weise – oder schlimmer noch. Weit davon entfernt, sich mit den früheren und heutigen Opfern des Impe­ria­lismus zu soli­da­ri­sieren, geben die selbst­er­nannten Hüter des plane­ta­ri­schen Gewissens beiden Seiten die Schuld, wechseln das Thema oder stellen sich einfach auf die Seite des Aggressors.

Dies ist zum Teil auf den unre­flek­tierten Anti­ame­ri­ka­nismus und seinen älteren Vetter, das Anti­west­lertum, zurück­zu­führen. Ober­fläch­liche Verweise auf die geschei­terten Kriege im Irak und in Afgha­ni­stan, auf die globale Finanz­krise und andere Versäum­nisse werden als Recht­fer­ti­gung nach­ge­plap­pert. Was bei dieser Argu­men­ta­tion außer Acht gelassen wird, ist, dass keiner dieser Fehler von den Ukrainern oder den anderen gefan­genen Nationen verschuldet wurde. Warum sollten sie ihre Freiheit wegen der – tatsäch­li­chen, über­trie­benen oder einge­bil­deten – Fehler anderer opfern müssen? Der gleiche Ansatz stellt die NATO-Erwei­te­rung als ein west­li­ches Komplott gegen Russland dar. Dabei wird die Tatsache ignoriert, dass die ehema­ligen Gefan­ge­nen­staaten nicht von Waffen­her­stel­lern und anderen Strip­pen­zie­hern in das Bündnis gelockt wurden. Sie sind beigetreten, weil sie Angst vor Russland hatten – und das zu Recht. Ja, diese Länder erwarten von der NATO und der EU Vertei­di­gung und Soli­da­rität: Wohin sollten sie sich sonst wenden?

In anderen Zusam­men­hängen machen solche Opfer­be­schul­di­gungen, Verleum­dungen und Entschul­di­gungen für die Täter die Linken wütend. Sie sollten ihre mora­li­schen Such­schein­werfer auf sich selbst richten.


Dieser Text ist im engli­schen Original bei CEPA erschienen.

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