Das Schweigen der Linken zum russischen Neo-Imperialismus
Wie kommt es, dass große Teile der Linken sich so schwertun, eine klare Haltung zur neo-imperialen Politik des Kremls zu zeigen – oder sich gar als Schönredner und Verteidiger Moskaus betätigen? Offenkundig werden an Russland andere Maßstäbe angelegt als an die USA und die ehemaligen westeuropäischen Kolonialmächte, bei denen der Vorwurf des Neo-Imperialismus rasch bei der Hand ist. Dabei stand der russische Kolonialismus seinen westlichen Rivalen in nichts nach. Das sowjetische Imperium zerfiel später als alle anderen, für Putin die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.“ Dass die Ukraine und andere ehemalige russische Kolonien auf ewig im Machtbereich des Kremls bleiben sollen, folgt einer neo-imperialen Logik. Dass angebliche „Anti-Imperialisten“ dafür Verständnis aufbringen, ist ein politischer Offenbarungseid.
Stellen Sie sich vor, Großbritannien würde unter einer autoritären Führung, die sich nach vergangener Größe sehnt, versuchen, sein Imperium wiederaufzubauen. Dazu bediente es sich einer ganzen Palette von Machtmitteln: die Ausnutzung wirtschaftlicher Abhängigkeit, die Nutzung der englischen Sprache als Instrument kultureller Hegemonie, die Behauptung einer zivilisatorischen Überlegenheit und der Missbrauch der globalen Reichweite der anglikanischen Kirche. Der ruhmreiche Sieg im Zweiten Weltkrieg würde beschworen und eine heftige Propaganda betrieben, dass die Sicherheit Großbritanniens durch die eigenwillige Bündnispolitik der abtrünnigen Ex-Kolonien gefährdet sei. Militärische Drohungen und massive britische Aufrüstung würden diese Botschaft unterstreichen.
Zugegeben, ein solches Szenario ist schwer vorstellbar. Aber man kann sich leicht vorstellen, wie die linke öffentliche Meinung nicht nur in Großbritannien darauf reagieren würde. Wie kann es ein Land mit einer solchen Geschichte von Sklaverei, Hungersnot, Plünderung und Völkermord wagen, seine imperialen Ambitionen wieder aufleben zu lassen? Einst Teil des britischen Imperiums gewesen zu sein – auch wenn dies vielleicht einige Vorteile mit sich brachte – bedeutet nicht, dass ein Land zu ewiger geopolitischer Gefolgschaft verdammt ist. Außerdem hat Großbritannien zahlreiche internationale Konventionen unterzeichnet, die ausdrücklich besagen, dass Länder das Recht haben, souverän über ihre Zukunft zu entscheiden. Selbst gemäßigte Politiker in der ganzen Welt wären über das tyrannische, egoistische Vorgehen Großbritanniens empört. Und die radikalere Linke würde in Wutanfälle ausbrechen.
Der springende Punkt ist: Dies alles geschieht gerade jetzt, da Russland versucht, seine ehemaligen Kolonien zu bedrohen – die Ukraine, aber auch Finnland, Estland. Lettland, Litauen und Polen. Die Botschaft aus Moskau ist klar. Ihr seid nicht frei. Ihr seid nicht souverän. Als Teil unseres alten Imperiums müsst ihr unsere Sorgen und Prioritäten berücksichtigen, jetzt und für immer. Diese Forderungen werden mit Bombast über den Zweiten Weltkrieg untermauert und durch die Drohung, Gaslieferungen abzuschneiden sowie militärisches Säbelrasseln unterstrichen. All dies ist angeblich gerechtfertigt, weil Russlands kulturelles, sprachliches und religiöses Erbe seinen geopolitischen Ansprüchen Legitimität verleiht. Wenn diese Länder eine unabhängige politische Entscheidung über ihre Sicherheit treffen, behauptet Russland, seine Sicherheit sei bedroht.
Der Vergleich unterstreicht das skandalöse Verhalten des Kremls. Die russische und sowjetische Behandlung der Kolonien und unterdrückten Völker war in Art und Ausmaß genauso schlimm wie alles, was westliche Länder in Afrika, Asien oder Lateinamerika begangen haben: Kulturelle Zerstörung. Willkürlich herbeigeführte Hungersnöte. Massenerschießungen. Besatzung. Deportation. Stagnation. Isolation. Keine Vorteile, die die russische Herrschaft gebracht haben mag, können das aufwiegen, geschweige denn eine neokolonialistische Politik rechtfertigen.
Doch zu diesem realen Beispiel imperialistischer Schikane schweigt die globale Linke seltsamerweise – oder schlimmer noch. Weit davon entfernt, sich mit den früheren und heutigen Opfern des Imperialismus zu solidarisieren, geben die selbsternannten Hüter des planetarischen Gewissens beiden Seiten die Schuld, wechseln das Thema oder stellen sich einfach auf die Seite des Aggressors.
Dies ist zum Teil auf den unreflektierten Antiamerikanismus und seinen älteren Vetter, das Antiwestlertum, zurückzuführen. Oberflächliche Verweise auf die gescheiterten Kriege im Irak und in Afghanistan, auf die globale Finanzkrise und andere Versäumnisse werden als Rechtfertigung nachgeplappert. Was bei dieser Argumentation außer Acht gelassen wird, ist, dass keiner dieser Fehler von den Ukrainern oder den anderen gefangenen Nationen verschuldet wurde. Warum sollten sie ihre Freiheit wegen der – tatsächlichen, übertriebenen oder eingebildeten – Fehler anderer opfern müssen? Der gleiche Ansatz stellt die NATO-Erweiterung als ein westliches Komplott gegen Russland dar. Dabei wird die Tatsache ignoriert, dass die ehemaligen Gefangenenstaaten nicht von Waffenherstellern und anderen Strippenziehern in das Bündnis gelockt wurden. Sie sind beigetreten, weil sie Angst vor Russland hatten – und das zu Recht. Ja, diese Länder erwarten von der NATO und der EU Verteidigung und Solidarität: Wohin sollten sie sich sonst wenden?
In anderen Zusammenhängen machen solche Opferbeschuldigungen, Verleumdungen und Entschuldigungen für die Täter die Linken wütend. Sie sollten ihre moralischen Suchscheinwerfer auf sich selbst richten.
Dieser Text ist im englischen Original bei CEPA erschienen.
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