Józef Pilsudski – „Revolu­tionär und Staatsgründer“

Foto: Imago Images

Der Osteuropa-Kenner und ehemalige DDR-Bürger­rechtler Wolfgang Templin hat mit seiner Biographie über Józef Pilsudski ein Standardwerk geschrieben, das unerlässlich für das Verständnis unseres Nachbarn Polen ist.

Als vor knapp zwei Jahren der vormalige Warschauer Ostbahnhof in „Roman Dmowski-Station“ umbenannt wurde, protes­tierten Demons­tranten mit Plakaten, auf denen auf Polnisch „Antisemit und Frauen­feind“ zu lesen stand und dazu die rheto­rische Frage, wann wohl der Zentral­bahnhof den Namen Musso­linis bekäme. Unver­gessen zumindest bei progres­siven Polen, dass der sogenannte „Natio­nal­de­mokrat“ Roman Dmowski (1864–1939) nicht nur offene Ressen­ti­ments gegen Juden gepflegt und ein vertracktes Verhältnis zu Frauen gehabt hatte, sondern auch ein Bewun­derer der autori­tären Führer des ersten Drittels des 20. Jahrhun­derts gewesen war. Symbol­ge­stalt einer alten Rechten, die – so schreibt der Publizist und Histo­riker Wolfgang Templin – wohl bis 1939 selbst für Hitlers Form der Macht­aus­übung Partei genommen hätte, wäre ihre Abneigung gegenüber Deutschland nicht noch stärker ausge­prägt gewesen.

Es sagt jeden­falls einiges über die gegen­wärtige polnische Regierung, wenn sie in Sachen Tradition auf den lebens­langen Gegen­spieler von Józef Pilsudski zurück­greift, jedoch nicht auf den mutigen ehema­ligen Sibirien-Verbannten, den Häftling in der Festung Magdeburg und nachma­ligen Mitbe­gründer der Zweiten Polni­schen Republik von 1918. Wobei Wolfgang Templin, geboren 1948 in Jena und einst einer der profi­lier­testen Bürger­rechtler der DDR, hierzu­lande einer der ganz wenigen sein dürfte, der nicht nur Dmowskis bis heute sinister schil­lernden Namen kennt, sondern ihn auch einzu­ordnen weiß in jenen nunmehr seit über einem Jahrhundert tobenden Zwist zwischen einem patrio­tisch-weltof­fenen und einem natio­na­lis­tisch verkap­selten Polen.

In seiner soeben erschie­nenen und über vierhundert Seiten starken Pilsudski-Biographie „Revolu­tionär und Staats­gründer“ macht Templin, der bereits zu DDR-Zeiten das Nachbarland häufig besucht und dessen Sprache erlernt hatte und überdies 2010–2014 Leiter des Warschauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung gewesen war, all diese Zusam­men­hänge deutlich – freilich ohne vorder­gründig zu aktua­li­sieren. Pionier­arbeit und (zumindest im deutsch­spra­chigen Raum) Standardwerk zugleich, nimmt dieses detail­reiche und spannend geschriebene Buch den Lesenden mit in eine Welt, die geogra­phisch so nahe ist und doch den meisten Deutschen noch immer irritierend fremd.

Dabei sind der Anknüp­fungs­punkte viele, doch auch diese zeigt der Biograph nicht etwa markt­schreie­risch vor, um Leser­interesse zu generieren, sondern bettet sie ein in die Geschichte jenes Aktivisten und späteren Staats­mannes Józef Pilsudski (1867–1935), der zeitlebens sein persön­liches Schicksal verbunden sah mit dem Schicksal seines Landes, das erst wieder zu einem unabhän­gigen Staat geworden war, als er selbst bereits die 50 überschritten hatte. Zuvor hatte er in einem Polen gelebt, das seit Ende des 18. Jahrhun­derts als solches gar nicht mehr existiert hatte, zerteilt zwischen Preußen, Öster­reich und Russland. Da damals noch umfang­reiche Teile Litauens zu diesem Gebiet gehörten, wächst Pilsudski in Wilna auf – als Halbwaise und Sprössling einer verarmten Adels­fa­milie, in der die Erinne­rungen an den geschei­terten Aufstand von 1863/​64 lebendig gehalten werden. Auf diese Freiheits­be­wegung hatte das Zaren­reich mit Mord, Repression, Haftstrafen, Verbannung und Requi­rierung von Eigentum (sprich staatlich dekre­tiertem Diebstahl) reagiert und darüber hinaus mit einer rigiden Russi­fi­zierung des Bildungs­wesens. Litauische und polnische Sprache unter­lagen strengen Restrik­tionen, das in Schule und Univer­sität vermit­telte Geschichtsbild war stramm großrus­sisch und verneinte die pure Existenz einer polnisch-litaui­schen Entität. Wer sich von den Einhei­mi­schen solcher Geschichts­fäl­schung fügte und kolla­bo­rierte, konnte im russi­schen Staats­dienst dann durchaus Karriere machen, während „Abweichlern“ nicht nur beruf­liche Margi­na­li­sierung, sondern im schlimmsten Fall sogar Sibirien drohte.

 

Zu den eindrucks­vollsten, aber auch bedrü­ckendsten Passagen in Templins Buch gehört die Schil­derung jener fünf Jahre Verbannung, welcher der junge Unabhän­gig­keits­ak­tivist im sibiri­schen Kirensk nahe Irkutsk verbüßen musste – nach einer mörde­ri­schen, von Hunger, Durst und physi­scher Grausamkeit geprägten Odyssee durch die Weiten Russlands, die er nur mit großem Glück überlebt hatte.

Ebenso entscheidend für Pilsudski, der nach seiner Rückkehr 1892 innerhalb der frisch gegrün­deten Partei der polni­schen Sozia­listen (PPS) rasch aufge­stiegen war und sogar die Schrift­leitung des klandestin gedruckten und unter größten Risiken verbrei­teten Partei­blatts „Robotnik“ („Der Arbeiter“; Anm. der Red.)  übernommen hatte: Keiner würde den Polen helfen, wenn sie nicht selbst tätig würden. Nicht die russi­schen Revolu­tionäre, die lediglich von einem Großreich ohne den jetzigen Zaren träumten, und auch nicht der Westen, der in einen Weltkrieg hinein schlaf­wan­delte, von London und Paris aus über die polni­schen Gebiete hinweg schaute oder in Berlin taktische Spielchen ersann, um dem russi­schen Macht-Konkur­renten zu schaden.

 

Und die vielbe­schworene „inter­na­tionale Solida­rität der Prole­tarier“? All die Unter­drückten in Pilsudskis Wirkungsfeld litten ja nicht nur unter dem schon damals engma­schigen Netz russi­scher Geheim­dienst­spit­zelei, sondern wurden in Fabriken und auf Gutshöfen auch von den vermeintlich „eigenen Leuten“ bis aufs Blut ausge­beutet. Józef Pilsudski, Freund von Wilhelm Liebknecht, Bewun­derer des pazifis­ti­schen franzö­si­schen Sozia­listen Jean Jaurès und politi­scher Kontrahent von Rosa Luxemburg, deren Visionen er nicht teilte, war bei allem Patrio­tismus keineswegs blind für die nicht allein geopo­li­ti­schen, sondern auch sozialen Verwer­fungen seiner Zeit. Seine Mitstreiter: Intel­lek­tuelle, Atheisten oder kirchen-religiös eher Indif­fe­rente wie er selbst – und nicht zu vergessen: Ein prakti­zie­render Muslim und zahlreiche polnische Juden.

Pilsudski, der zu Geheim­treffen nach Paris und London, in die Verei­nigten Staaten und sogar nach Japan gereist war, sah ein wieder­erste­hendes Polen – dies im Unter­schied zu den Natio­na­listen um Dmowski und noch Radika­leren – jeden­falls nicht als reaktionär-slawo­philen Stände­staat und hochfah­renden „Hort des christ­lichen Abend­landes“, sondern als soziale Demokratie. Diese müsste freilich stets wehrbereit sein gegenüber den großen expan­sio­nis­ti­schen Nachbarn Deutschland und Russland.

 

Wolfgang Templin, der die militä­ri­schen, geogra­phi­schen und auch ideolo­gi­schen Front­ver­läufe während des Ersten Weltkriegs detail­liert (doch auch für Nicht-Spezia­listen lesbar) nachzeichnet, singt freilich kein unkri­tisch hagio­gra­phi­sches Hohelied auf den späteren Marschall und Staatschef. Denn zwar war es Pilsudski gelungen – seit seiner Magde­burger Festungshaft im respekt­vollen Gespräch mit keinem Gerin­geren als Harry Graf Kessler, den er dann als Vertreter der Berliner Nachkriegs­re­gierung in Warschau wieder trifft – die Heimführung deutscher Armee­ein­heiten ohne Blutver­gießen zu verhandeln. Auch hatte er als Anführer der neuge­grün­deten polni­schen Armee den nunmehr sowjet­rus­si­schen Vormarsch 1920 kurz vor der polni­schen Haupt­stadt gestoppt – doch verhed­derte sich der Held des „Wunders an der Weichsel“ gleich­zeitig in den Fallstricken seiner Zeit.

Nicht verschwiegen wird, dass polnische Einheiten in der Ukraine, dem antiso­wje­ti­schen Feldherrn Petljura beistehend, auch an Massakern an der jüdischen Zivil­be­völ­kerung beteiligt waren, und Pilsudski, wenngleich er solches ablehnte, nicht entschieden genug einge­schritten war. Auch der in der einstigen polnisch-litaui­schen Staats­ge­schichte wurzelnde Anspruch auf die Region von Wilna und die notge­drungene Rücksicht­nahme auf die Inter­essen einhei­mi­scher Großgrund­be­sitzer unter­mi­nierte das Ideal einer modernen Nation. Hinzu kamen zahlreiche innen­po­li­tische Verwer­fungen, die Pilsudski als neuen „Starken Mann“ der nunmehr „Zweiten Republik“ immer autori­tärer agieren ließen, ihn von seinen sozia­lis­ti­schen Genossen entfrem­deten und ihm gleicher­maßen den Hass der Kommu­nisten wie auch der Natio­na­listen bescherten.

Damit erhalten die gängigen Beschrei­bungs­vo­kabeln – „ambivalent, hochkomplex, wider­sprüchlich, tragisch“ – in dieser Biographie jenseits des Rheto­ri­schen ihre konkret beglau­bigte Plausi­bi­lität. Und nein, als der ebenso hochver­ehrte wie angefeindete Staatsmann 1935 starb, war die polnische Demokratie in keiner guten Verfassung. Und wurde doch, im Unter­schied zum vermeintlich entwi­ckel­teren Deutschland, nicht etwa von der eigenen Bevöl­kerung abgewählt, sondern zerbrach erst im September 1939 unter dem gleichsam koordi­nierten Angriff von Wehrmacht und Roter Armee. Pilsudskis Witwe und Kinder konnten sich in letzter Minute nach London retten, wo auch andere Mitstreiter Zuflucht gefunden hatten; andere wurden von SS und NKWD ermordet.

Nicht zufällig aber war es drei Jahrzehnte danach Anfang der siebziger Jahre ein damals noch ganz junger polnisch-jüdischer Publizist namens Adam Michnik, der das trotz allem progressive Potential des früheren Staaten­lenkers erkannte – als partielle Inspi­ra­ti­ons­quelle für ein irgendwann gewiss freies, demokra­ti­sches Polen. Dass der antito­ta­litäre Michnik, heute Heraus­geber der führenden liberalen Tages­zeitung „Gazeta Wyborcza“, von den gegen­wärtig regie­renden Natio­nal­kon­ser­va­tiven vergleichbar angefeindet wird wie von den Internet-Trollen des Kreml – es dürfte ebenso wenig ein Zufall sein wie die Tatsache, dass auch im heutigen Polen weiterhin über Józef Pilsudski heftig gestritten wird. Wolfgang Templins Biographie ist auch in dieser Hinsicht ein unerläss­licher Augenöffner.

 

Wolfgang Templin: „Revolu­tionär und Staats­gründer. Józef Pilsudski – eine Biographie“, Ch. Links Verlag, Berlin 2022. 448 Seiten 28,- Euro

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Spenden mit Bankeinzug

Spenden mit PayPal


Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.