Die Bundesrepublik, eine neoliberale Kältekammer?
Lauschiger Osten, kalter Westen: Zum 30. Jahrestag von ungarischer Grenzöffnung und Berliner Mauerfall will die Romanverfilmung „Adam und Evelyn“ eine andere Geschichte erzählen.
Das Rollback von 1989 nimmt Fahrt auf. Bereits vergangenes Jahr hatten selbsternannte „Ostexperten“ quasi im Chor gefordert, eine angeblich vom sinistren Westen durchgesetzte Freiheitserzählung schleunigst zu ersetzen durch ein Gedenken an die Verletzungen „der Ostdeutschen“. Wohlgemerkt: Nicht etwa die bis heute in ihrer fatalen Tiefenwirkung kaum je thematisierten Folgen totalitärer Seelendeformation sollen endlich in den Fokus der Debatte rücken, sondern eine behauptete Kollektiv-Demütigung „des Nachwende-Ostens“ durch „den Westen“. Eine neue Kollektiv-Erzählung soll also her, um den ohnehin Ich-schwachen Gefilden des Ostens ein neues Wir zu verpassen.
Der Sound, in welcher diese als neue Achtsamkeit camouflierte Individual-Entmündigung propagiert wird, ist durchweg von aggressiver Larmoyanz: Jana Hensels monothematische, von Christa Wolfscher Gedankenunschärfe inspirierten „Zeit“-Aufsätze zeigen beinahe jede Woche auf exemplarische Weise, auf welche Art hier Geschichte umgeschrieben wird. Nun kommt, pünktlich zu Beginn des 30. Jahrestages der ostdeutschen und ostmitteleuropäischen Revolutionen, ein Film ins Kino, der zu dieser Lesart die entsprechenden Bilder liefert. Andreas Goldstein, ein Halbbruder Gregor Gysis und Sohn von Walter Ulbrichts Kulturminister Klaus Gysi, hat soeben mit „Adam und Evelyn“ sein Debüt als Kinoregisseur vorgelegt. Die gleichnamige Romanvorlage hatte ein Jahrzehnt zuvor Ingo Schulze verfasst, ein freundlicher, mehrfach preisgekröner Autor aus Sachsen, der – folgt man seinen Zeitungstexten und Talkshow-Statements – Günter Grass für einen politischen Intellektuellen hält und die Bundesrepublik für eine Art neoliberale Kältekammer.
Erzählt wird die Geschichte des jungen, offenbar libidinös umtriebigen Damenschneiders Adam, der im Sommer 1989 im blauen Wartburg seiner irritierten Freundin Evelyn nach Ungarn hinterherfährt, um sie von seiner Liebe zu überzeugen. Vertrackt nur, dass Evelyn dort inzwischen mit dem West-Cousin ihrer mitgereisten Arbeitskollegin angebändelt hat, der als Schnauzbart mit offenstehendem weißen Hemd vermutlich eine Art Errol Flynn der Bundesrepublik darstellen soll und unermüdlich von den materiellen Segnungen des Westens schwatzt. Nach einigem Hin und Her gelangen dann Adam und Evelyn infolge der von ihnen eher beiläufig wahrgenommenen ungarischen Grenzöffnung nach Österreich und lassen sich schließlich in Westdeutschland nieder – durchaus resigniert.
Seit Deutschland die Billy Wilders und Ernst Lubitschs vertrieben hat, sind Filme eben zumeist so, wie sie sind
Schwer zu sagen, was bei diesem (vom Feuilleton übrigens außerordentlich wohlwollend aufgenommenen) Streifen mehr verärgert: Die karge Defa-Ästhetik samt knarziger Dialoge auf Schulfunk-Niveau oder die seelische Verklemmtheit der Protagonisten. Aber nun gut: Seit Deutschland die Billy Wilders und Ernst Lubitschs vertrieben und deren Drehbuchautoren im KZ ermordet hat, sind deutsche Filme eben zumeist so, wie sie sind. Emotionslose Patzigkeit gilt da als „patent“ oder „lakonisch“, eine sperrige Handlung als „komplex“, während die habituelle Aliceweidelhaftigkeit diverser deutscher Schauspielerinnen weder Regisseure noch Publikum zu irritieren scheint: Autoritär wirkende Frauencharaktere wie Katja Riemann, Veronica Ferres, Mutter Drombusch und Mutter Beimer bevölkern seit jeher nicht nur Bildschirme, sondern auch Kinoleinwände – und dies gesamtdeutsch. Wem der Sinn nach etwas anderem steht, kann immerhin mit Milan Kunderas Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ eine sinnlich ebenso anrührende wie intellektuell vibrierende Fluchtgeschichte entdecken, in der die Suche nach privatem Glück tatsächlich über die Zumutungen diktatorischer Politik triumphiert. Selbst in Philip Kaufmans Roman-Verfilmung blitzt dies noch auf – nicht zuletzt dank einer Schauspieltradition, für die Stars wie die wunderbare Juliette Binoche oder der Exil-Tscheche Pavel Landovsky stehen. Die fundamentale Differenz zwischen Kunderas verwegen promiskuitivem Protagonist Tomas, der nach der sowjetischen Invasion in seinem blauen Skoda zwischen den Ländern und Frauen pendelt, und Schulzes/Goldsteins im ebenso blauen Wartburg gequält dahertuckernden Antihelden Adam ist jedenfalls auch zivilisatorischer Natur.
Solches zu konstatieren, ist keine maliziöse Übertreibung, da nahezu jede Szene von „Adam und Evelyn“ genau dies nahegelegt: Hier seelenvolle, ostdeutsche Kulturlandschaft, dort technizistisch-kalter Westen. Denn wie idyllisch summen gleich zu Beginn Bienen und Hummeln im verwunschenen Garten von Adams Schneider-Werkstatt und wie kalt hallen die Stimmen am Schluß, als das Paar in einer leeren, renovierten Altbauwohnung im Westen steht, vor dem Fenster auf den grauen Himmel starrt und mit monotoner Stimme seinen End-Dialog spricht. (Was hier grüßen lässt, ist wohl auch Christa Wolfs Roman “Der geteilte Himmel“, verfilmt von Konrad Wolf, dem Bruder des Stasi-Vizeministers Markus Wolf, deren Protagonist einst freiwillig von West- nach Ostberlin zurückkehrt und nach dem Bau der Mauer diesen nibelungentreuen Stoßseufzer tut: „Das wiegt alles auf: Dass wir uns wieder daran gewöhnen, ruhig zu schlafen.“)
In „Adam und Evelyn“ ist kurz zuvor die Kamera noch über ein vis-á-vis thronendes Gebäude gefahren, um dessen hinter Zweigen halb verdecktes Logo einzufangen: „RIU“ steht da zu lesen – die Präsenz einer mittelprächtig eleganten Hotelkette anstatt des erträumten Rio. Doch hatte nicht schon zuvor in Ungarn jener peinliche Westcousin jegliche Contenance verloren, als man in sein geliebtes Westauto eingebrochen war? Hatte der im Habitus eines Stasimannes gezeigte bundesdeutsche Beamte nicht bewiesen, dass auch im Westen hinter Schreibtischen die Repression lauert? Und waren Adam und Evelyn nicht schon ganz früh auf solche Schrecknisse vorbereitet worden, als sie kurz nach ihrer Übersiedlung Verwandte besucht hatten?
Deutsch versus westlich, Scholle versus Asphalt
Der Mann: Ein wiederum an die DDR erinnernder Unsympath zwischen Wohnzimmer-Schrank und Fernsehtisch, TV-Nachrichten über eine neue Konzern-Konglomeration konsumierend. Die Frau: Ein Wesen wie aus einer Loriot- oder Hape-Kerkeling-Parodie, das mit vorstehendem Gebiss ihre Spülmaschine anpreist und dann darauf mit der edel entsetzten Evelyn auf ein Schnäpschen anstößt. Währenddessen dröhnen Flugzeuge über das vorstädtische Reihenhaus, und fern, ganz fern der verlorene ostdeutsche Paradiesgarten. Dennoch haben hier wohl weniger biblische Anspielungen Pate gestanden als jene Ressentiments, die sich bereits 1918 in Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ augestobt hatten, einer ebenso wirren wie wütenden Verteidigung „deutscher Kultur“ gegenüber „westlicher Zivilisation“. Scholle versus Asphalt, als vermeintliches Gegensatzpaar später vor allem von Joseph Goebbels immer wieder aufgerufen.
Angesichts solch trüber Traditionen verlief jüngst die Aufführung von „Adam und Evelyn“ im Ostberliner Szenekino „Krokodil“ bemerkenswert zivil. Am Schluß gab es Schwarzbrot-Häppchen und einheimisches Bier, der nun seit beinahe drei Jahrzehnten unverändert pferdezöpfige Ost-Korrespondent einer großen Zeitung pflügte beseelt durch die graugewandte, doch freundliche Menge und auch zuvor war eher Kammerton denn Tremolo angesagt gewesen. Am Ende des Films stand nämlich Regisseur Andreas Goldstein dem Publikum denkbar nachdenklich Rede und Antwort – schließlich ist „der Osten“ ja ebenso leise wie „der Westen“ laut ist. „Dem Westen“ wurde sogar zugestanden, nun langsam doch zur Besinnung zu kommen: „Die Wohlmeinenden dort kümmern sich jetzt um den Osten – wie um ein Kind, dass lange von ihnen im Jugendknast gehalten wurde und nun nach seinen Verletzungen befragt wird.“ Genüssliches Raunen im Ost-Publikum, ebenfalls verhalten. Dass nicht nur die Behörde von Kulturstaatsministerin Monika Grütters, sondern auch die BMW-Group die Filmproduktion finanziell ermöglicht hatte, schien hingegen für eine Nachfrage uninteressant. Ohnehin schien der Diskussionsleiter – ein in rustikal dunklem Velour-Hoodie und Filzstiefeln auftretender Kino-Mitarbeiter – vor allem über die eigenen Verletzungen sprechen zu wollen.
„Meine Eltern hatten damals einfach für mich die Ausreise beantragt, damit ich im Westen Abi machen soll, aber ich wollte ja gar nicht weg von hier, weil es mir hier doch gefiel.“ Das verstand Regisseur Andreas Goldstein sehr gut und bestätigte das “Massenhafte“ dieser Erfahrungen – nicht ohne hinzuzufügen, dass solche Leute selbstverständlich „mit dem System eher Null am Hut gehabt“ hätten. Das unfreiwillige Ironiepotential, das in seiner halb-bedauernden Feststellung lag, es sei gar nicht einfach gewesen, beim Dreh Orte zu finden, die heute noch so verwahrlost aussehen wie damals in der DDR, schien dem Publikum freilich entgangen zu sein. Oder ist es vielleicht so, dass jene, die gern „den Osten“ für sich in Anspruch nehmen, ohnehin einen anderen Ironie-Begriff pflegen?
Das Kino „Krokodil“, hinter dessen Kassentisch so manch auf kyrillisch beschrifteter Zettel hängt, bezieht sich auf eine sowjetische Satire-Zeitschrift gleichen Namens, die vor allem für ihre Zahnlosigkeit gegenüber den Mächtigen bekannt war. Umso berüchtigter waren die antidissidentischen Ausfälle des „Krokodils“ und seine antisemitischen Illustrationen im „Stürmer“-Stil, die inzwischen sogar Sujet universitärer Narrativ-Untersuchungen geworden sind. (Ob man davon im Prenzlberger Szene-Kino weiß und dies schulterzuckend als typisch überspitzten, westlichen Intellektualismus abtut?) Das Stalin-Bild, das zwischen Gorbatschow- und Breschnew-Konterfei im Filmspulen-Kabuff des Filzstiefelträger steht, sendet jedenfalls, äußerst wohlwollend interpretiert, eine zumindest ambivalente Botschaft aus. Womöglich aber hat auch hier wieder „der Westen“ böswillig missverstanden, wie subtil „der Osten“ tickt.
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