Die Bundes­re­publik, eine neoli­berale Kältekammer?

© Wik1966total [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], von Wikimedia Commons

Lauschiger Osten, kalter Westen: Zum 30. Jahrestag von ungari­scher Grenz­öffnung und Berliner Mauerfall will die Roman­ver­filmung „Adam und Evelyn“ eine andere Geschichte erzählen.

Das Rollback von 1989 nimmt Fahrt auf. Bereits vergan­genes Jahr hatten selbst­er­nannte „Ostex­perten“ quasi im Chor gefordert, eine angeblich vom sinistren Westen durch­ge­setzte Freiheits­er­zählung schleu­nigst zu ersetzen durch ein Gedenken an die Verlet­zungen „der Ostdeut­schen“. Wohlge­merkt: Nicht etwa die bis heute in ihrer fatalen Tiefen­wirkung kaum je thema­ti­sierten Folgen totali­tärer Seelen­de­for­mation sollen endlich in den Fokus der Debatte rücken, sondern eine behauptete Kollektiv-Demütigung „des Nachwende-Ostens“ durch „den Westen“. Eine neue Kollektiv-Erzählung soll also her, um den ohnehin Ich-schwachen Gefilden des Ostens ein neues Wir zu verpassen. 

Portrait von Marko Martin

Marko Martin ist Schrift­steller und Publizist.

Der Sound, in welcher diese als neue Achtsamkeit camou­flierte Individual-Entmün­digung propa­giert wird, ist durchweg von aggres­siver Larmoyanz: Jana Hensels monothe­ma­tische, von Christa Wolfscher Gedan­ken­un­schärfe inspi­rierten „Zeit“-Aufsätze zeigen beinahe jede Woche auf exempla­rische Weise, auf welche Art hier Geschichte umgeschrieben wird. Nun kommt, pünktlich zu Beginn des 30. Jahres­tages der ostdeut­schen und ostmit­tel­eu­ro­päi­schen Revolu­tionen, ein Film ins Kino, der zu dieser Lesart die entspre­chenden Bilder liefert. Andreas Goldstein, ein Halbbruder Gregor Gysis und Sohn von Walter Ulbrichts Kultur­mi­nister Klaus Gysi, hat soeben mit „Adam und Evelyn“ sein Debüt als Kinore­gisseur vorgelegt. Die gleich­namige Roman­vorlage hatte ein Jahrzehnt zuvor Ingo Schulze verfasst, ein freund­licher, mehrfach preis­ge­kröner Autor aus Sachsen, der – folgt man seinen Zeitungs­texten und Talkshow-State­ments – Günter Grass für einen politi­schen Intel­lek­tu­ellen hält und die Bundes­re­publik für eine Art neoli­berale Kältekammer.

Erzählt wird die Geschichte des jungen, offenbar libidinös umtrie­bigen Damen­schneiders Adam, der im Sommer 1989 im blauen Wartburg seiner irritierten Freundin Evelyn nach Ungarn hinter­her­fährt, um sie von seiner Liebe zu überzeugen. Vertrackt nur, dass Evelyn dort inzwi­schen mit dem West-Cousin ihrer mitge­reisten Arbeits­kol­legin angebändelt hat, der als Schnauzbart mit offen­ste­hendem weißen Hemd vermutlich eine Art Errol Flynn der Bundes­re­publik darstellen soll und unermüdlich von den materi­ellen Segnungen des Westens schwatzt. Nach einigem Hin und Her gelangen dann Adam und Evelyn infolge der von ihnen eher beiläufig wahrge­nom­menen ungari­schen Grenz­öffnung nach Öster­reich und lassen sich schließlich in Westdeutschland nieder – durchaus resigniert.

Seit Deutschland die Billy Wilders und Ernst Lubitschs vertrieben hat, sind Filme eben zumeist so, wie sie sind

Schwer zu sagen, was bei diesem (vom Feuil­leton übrigens außer­or­dentlich wohlwollend aufge­nom­menen) Streifen mehr verärgert: Die karge Defa-Ästhetik samt knarziger Dialoge auf Schulfunk-Niveau oder die seelische Verklemmtheit der Protago­nisten. Aber nun gut: Seit Deutschland die Billy Wilders und Ernst Lubitschs vertrieben und deren Drehbuch­au­toren im KZ ermordet hat, sind deutsche Filme eben zumeist so, wie sie sind. Emoti­onslose Patzigkeit gilt da als „patent“ oder „lakonisch“, eine sperrige Handlung als „komplex“, während die habituelle Alice­wei­del­haf­tigkeit diverser deutscher Schau­spie­le­rinnen weder Regis­seure noch Publikum zu irritieren scheint: Autoritär wirkende Frauen­cha­raktere wie Katja Riemann, Veronica Ferres, Mutter Drombusch und Mutter Beimer bevölkern seit jeher nicht nur Bildschirme, sondern auch Kinolein­wände – und dies gesamt­deutsch. Wem der Sinn nach etwas anderem steht, kann immerhin mit Milan Kunderas Roman „Die unerträg­liche Leich­tigkeit des Seins“ eine sinnlich ebenso anrüh­rende wie intel­lek­tuell vibrie­rende Flucht­ge­schichte entdecken, in der die Suche nach privatem Glück tatsächlich über die Zumutungen dikta­to­ri­scher Politik trium­phiert. Selbst in Philip Kaufmans Roman-Verfilmung blitzt dies noch auf – nicht zuletzt dank einer Schau­spiel­tra­dition, für die Stars wie die wunderbare Juliette Binoche oder der Exil-Tscheche Pavel Landovsky stehen. Die funda­mentale Differenz zwischen Kunderas verwegen promis­kui­tivem Protagonist Tomas, der nach der sowje­ti­schen Invasion in seinem blauen Skoda zwischen den Ländern und Frauen pendelt, und Schulzes/​Goldsteins im ebenso blauen Wartburg gequält daher­tu­ckernden Antihelden Adam ist jeden­falls auch zivili­sa­to­ri­scher Natur.

Solches zu konsta­tieren,  ist keine maliziöse Übertreibung, da nahezu jede Szene von „Adam und Evelyn“ genau dies nahegelegt: Hier seelen­volle, ostdeutsche Kultur­land­schaft, dort techni­zis­tisch-kalter Westen. Denn wie idyllisch summen gleich zu Beginn Bienen und Hummeln im verwun­schenen Garten von Adams Schneider-Werkstatt und wie kalt hallen die Stimmen am Schluß, als das Paar in einer leeren, renovierten Altbau­wohnung im Westen steht, vor dem Fenster auf den grauen Himmel starrt und mit monotoner Stimme seinen End-Dialog spricht. (Was hier grüßen lässt, ist wohl auch Christa Wolfs Roman “Der geteilte Himmel“, verfilmt von Konrad Wolf, dem Bruder des Stasi-Vizemi­nisters Markus Wolf, deren Protagonist einst freiwillig von West- nach Ostberlin zurück­kehrt und nach dem Bau der Mauer diesen nibelun­gen­treuen Stoßseufzer tut: „Das wiegt alles auf: Dass wir uns wieder daran gewöhnen, ruhig zu schlafen.“)

In „Adam und Evelyn“ ist kurz zuvor die Kamera noch über ein vis-á-vis thronendes Gebäude gefahren, um dessen hinter Zweigen halb verdecktes Logo einzu­fangen: „RIU“ steht da zu lesen – die Präsenz einer mittel­prächtig eleganten Hotel­kette anstatt des erträumten Rio. Doch hatte nicht schon zuvor in Ungarn jener peinliche Westcousin jegliche Contenance verloren, als man in sein geliebtes Westauto einge­brochen war? Hatte der im Habitus eines Stasi­mannes gezeigte bundes­deutsche Beamte nicht bewiesen, dass auch im Westen hinter Schreib­ti­schen die Repression lauert? Und waren Adam und Evelyn nicht schon ganz früh auf solche Schreck­nisse vorbe­reitet worden, als sie kurz nach ihrer Übersiedlung Verwandte besucht hatten?

Deutsch versus westlich, Scholle versus Asphalt

Der Mann: Ein wiederum an die DDR erinnernder Unsympath zwischen Wohnzimmer-Schrank und Fernseh­tisch, TV-Nachrichten über eine neue Konzern-Konglo­me­ration konsu­mierend. Die Frau: Ein Wesen wie aus einer Loriot- oder Hape-Kerkeling-Parodie, das mit vorste­hendem Gebiss ihre Spülma­schine anpreist und dann darauf mit der edel entsetzten Evelyn auf ein Schnäpschen anstößt. Während­dessen dröhnen Flugzeuge über das vorstäd­tische Reihenhaus, und fern, ganz fern der verlorene ostdeutsche Paradies­garten. Dennoch haben hier wohl weniger biblische Anspie­lungen Pate gestanden als jene Ressen­ti­ments, die sich bereits 1918 in Thomas Manns „Betrach­tungen eines Unpoli­ti­schen“ augestobt hatten, einer ebenso wirren wie wütenden Vertei­digung „deutscher Kultur“ gegenüber „westlicher Zivili­sation“. Scholle versus Asphalt, als vermeint­liches Gegen­satzpaar später vor allem von Joseph Goebbels immer wieder aufgerufen.

Angesichts solch trüber Tradi­tionen verlief jüngst die Aufführung von „Adam und Evelyn“ im Ostber­liner Szenekino „Krokodil“ bemer­kenswert zivil. Am Schluß gab es Schwarzbrot-Häppchen und einhei­mi­sches Bier, der nun seit beinahe drei Jahrzehnten unver­ändert pferde­zöpfige Ost-Korre­spondent einer großen Zeitung pflügte beseelt durch die grauge­wandte, doch freund­liche Menge und auch zuvor war eher Kammerton denn Tremolo angesagt gewesen. Am Ende des Films stand nämlich Regisseur Andreas Goldstein dem Publikum denkbar nachdenklich Rede und Antwort – schließlich ist „der Osten“ ja ebenso leise wie „der Westen“ laut ist. „Dem Westen“ wurde sogar zugestanden, nun langsam doch zur Besinnung zu kommen: „Die Wohlmei­nenden dort kümmern sich jetzt um den Osten – wie um ein Kind, dass lange von ihnen im Jugend­knast gehalten wurde und nun nach seinen Verlet­zungen befragt wird.“ Genüss­liches Raunen im Ost-Publikum, ebenfalls verhalten. Dass nicht nur die Behörde von Kultur­staats­mi­nis­terin Monika Grütters, sondern auch die BMW-Group die Filmpro­duktion finan­ziell ermög­licht hatte, schien hingegen für eine Nachfrage uninter­essant. Ohnehin schien der Diskus­si­ons­leiter – ein in rustikal dunklem Velour-Hoodie und Filzstiefeln auftre­tender Kino-Mitar­beiter – vor allem über die eigenen Verlet­zungen sprechen zu wollen.

„Meine Eltern hatten damals einfach für mich die Ausreise beantragt, damit ich im Westen Abi machen soll, aber ich wollte ja gar nicht weg von hier, weil es mir hier doch gefiel.“ Das verstand Regisseur Andreas Goldstein sehr gut und bestä­tigte das “Massen­hafte“ dieser Erfah­rungen – nicht ohne hinzu­zu­fügen, dass solche Leute selbst­ver­ständlich „mit dem System eher Null am Hut gehabt“ hätten. Das unfrei­willige Ironie­po­tential, das in seiner halb-bedau­ernden Feststellung lag, es sei gar nicht einfach gewesen, beim Dreh Orte zu finden, die heute noch so verwahrlost aussehen wie damals in der DDR, schien dem Publikum freilich entgangen zu sein.  Oder ist es vielleicht so, dass jene, die gern „den Osten“ für sich in Anspruch nehmen, ohnehin einen anderen Ironie-Begriff pflegen?

Das Kino „Krokodil“, hinter dessen Kassen­tisch so manch auf kyril­lisch beschrif­teter Zettel hängt, bezieht sich auf eine sowje­tische Satire-Zeitschrift gleichen Namens, die vor allem für ihre Zahnlo­sigkeit gegenüber den Mächtigen bekannt war. Umso berüch­tigter waren die antidis­si­den­ti­schen Ausfälle des „Krokodils“ und seine antise­mi­ti­schen Illus­tra­tionen im „Stürmer“-Stil, die inzwi­schen sogar Sujet univer­si­tärer Narrativ-Unter­su­chungen geworden sind. (Ob man davon im Prenz­l­berger Szene-Kino weiß und dies schul­ter­zu­ckend als typisch überspitzten, westlichen Intel­lek­tua­lismus abtut?) Das Stalin-Bild, das zwischen Gorbat­schow- und Breschnew-Konterfei im Filmspulen-Kabuff des Filzstie­fel­träger steht, sendet jeden­falls, äußerst wohlwollend inter­pre­tiert, eine zumindest ambiva­lente Botschaft aus. Womöglich aber hat auch hier wieder „der Westen“ böswillig missver­standen, wie subtil „der Osten“ tickt.

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