Quo vadis, CDU? Die Merkel-Nachfolge ist eine Richtungswahl
Jens Spahn ist angry, Friedrich Merz will die Ära Merkel rückabwickeln und Annegret Kramp-Karrenbauer versucht einen Balanceakt: Nachdem Angela Merkel angekündigt hat, nicht mehr für den CDU-Vorsitz zu kandidieren, wählen die Delegierten am kommenden Wochenende einen Nachfolger. Klar ist: Alle Bewerber haben Ambitionen aufs Kanzleramt. Unser Autor analysiert das Profil und die Erfolgsaussichten der Kandidaten.
Als Kanzlerwahlverein verspottet man die CDU seit Jahrzehnten – und wohl mit Recht. Dem Vorsitzenden die Basis für eine fortgesetzte Regierungstätigkeit zu verschaffen, ist die Aufgabe der Partei als Machtmaschine. Und im Maschinenraum ist weniger lebhafte Debatte als vielmehr handfeste Arbeit gefragt. Allenfalls die Generalsekretäre dürfen sich – sofern sie zufriedenstellende Wahlergebnisse liefern – Gedanken über den Tag und die Legislaturperiode hinaus machen, Programmdebatten führen, neue Wählergruppen für die Partei identifiziere, Wahlkampfthemen suchen und Berührungspunkte mit konkurrierenden Parteien finden.
Für diese CDU ist es also ziemlich aufregend und zugleich irritierend, zum ersten Mal seit 1971 wieder mehr als eine Person auf das höchste Parteiamt zulaufen zu sehen. Das Aufregendste daran war die Selbstausrufung gleich dreier Bewerber am Tag des angekündigten Rückzugs von Angela Merkel. Seitdem verläuft alles wieder nach Schema F, so als enthielte die Geschäftsordnung ein geheimes Kapitel für einen solchen Fall.
Da sind die in diesen Tagen eng getakteten Regionalkonferenzen. Sie sehen nach eine Mischung aus Parteitag und Mitgliedervotum aus – in Wirklichkeit sind sie aber weder das eine noch das andere. Stattdessen entscheiden die 1001 Delegierten des Hamburger Bundesparteitags vermutlich relativ autonom. Natürlich spiegeln die Regionalkonferenzen die Stimmung an der Basis, natürlich liest man Umfragen, in denen Anhänger der CDU Präferenzen äußern, natürlich führt man Gespräche und erhält Anrufe, natürlich geben Vereinigungen, Landes‑, Bezirks- und Kreisverbände Empfehlungen ab, vielleicht wird es kurz vor oder auf dem Parteitag auch endorsements von Granden geben.
Die Union als KanzlerInnen-Wahlverein
Aber im Großen und Ganzen wird jeder Delegierte selbst entscheiden, wem er seine Stimme gibt. Und wann hat man als Bundesparteitagsdelegierter schon mal wirklich etwas zu entscheiden? Der eingangs erwähnte Spott wandelt sich in Hamburg in ein echtes Privileg: Die CDU ist jetzt tatsächlich der Kanzlerwahlverein in Deutschland. Denn es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die gewählte Person an der Parteispitze auch ins Kanzleramt einziehen wollen wird – zumindest dann, wenn der Wechsel in der Regierungskoalition ohne Neuwahlen vollzogen wird.
Der parteiinterne Wahlkampf der drei Bewerber ist kein Ruhmesblatt. Bislang hat keiner von ihnen eine Art Zukunftsmanifest vorgelegt, das einen programmatischen Ausblick gibt. Stattdessen gibt es Interviews und Meinungsbeiträge, die sich zu drei losen Sammlungen von Äußerungen und Positionen zusammenfügen lassen. Diese richten sich erkennbar an die Zielgruppe der 1001 Delegierten. Die Bewerber suchen also nicht eine eigene Position für sich und die Partei, sondern eine Mehrheit im Spektrum der Delegierten. Das mag erklären, warum sich nicht nur Jens Spahn und Friedrich Merz betont konservativ geben, sondern auch Annegret Kramp-Karrenbauer. Letztere versucht sich damit gegen den naheliegenden Vorwurf der beiden Konkurrenten zu wappnen, sie stehe für die Fortsetzung einer angeblichen Linksverschiebung der CDU, die für die sinkende Wählerzustimmung und das Erstarken der AfD verantwortlich sei.
Während Merz sein konservatives Profil vor allem aus den Themen Innere Sicherheit und Wirtschaftsfreundlichkeit modelliert, setzt Kramp-Karrenbauer auf sozialen Konservatismus im Themengeflecht von Familie, Werten, Christentum und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Spahn wiederum setzt – wie schon seit Jahren – eher auf prägnante, leicht greifbare Symbolthemen aus dem rechtspopulistischen Repertoire. Im Minenfeld der Migrationspolitik, die die Union fast zerrissen hat, sind alle drei mit Handgepäck unterwegs, das in den Fragerunden bislang nicht näher untersucht worden ist: Kramp-Karrenbauer will die doppelte Staatsbürgerschaft restriktiver handhaben und hat sich dabei taktisch clever hinter einen zwei Jahren alten, aber nie umgesetzten Parteitagsbeschluss gestellt, der seinerzeit als Affront gegen die Parteivorsitzende Merkel betrachtet wurde. Spahn und Merz mussten dagegen Anleihen bei AfD-Themen nehmen, wobei Spahns Vorschlag, auf dem Parteitag über den UN-Migrationspakt abzustimmen, eher billig wirkte und Merz mit dem Gedankenspiel, das Individualrecht auf Asyl abzuschaffen, eine Explosion auslöste, mit der er sich selbst beträchtlich beschädigte.
Bis zum Parteitag wird sich ein weitgehendes programmatisches Patt ergeben, bei dem Kramp-Karrenbauer aber am ehesten die Balance gefunden haben wird, in der sich auch die übergroße Mehrheit der Delegierten positionieren wird. Wahlentscheidend ist das aber nicht.
Es geht bei der Wahrnehmung der Kandidaten und der Stimmabgabe dann eher um das persönliche Profil – und natürlich den erwartbaren Umgang mit Merkel und ihrem politischen Erbe. Wer also tritt da nun an? Was sind das für Charaktere und Karrieren? Und was haben sie in den kommenden Monaten und Jahren vor?
1. Der angry young man: Jens Spahn
Fangen wir mit dem Jüngsten an. Jens Spahn. Seit Jahren inszeniert er sich mit großem publizistischen Niederschlag als angry young man. Als entschlossenen Zukunftsmenschen, der von der bräsigen Kanzlerin und CDU-Chefin am Abheben gehindert wird. Echt herausgefordert hat er sie freilich nur ein einziges Mal mit dem schon erwähnten Antrag auf dem Bundesparteitag vor zwei Jahren. Es ging um Ausländerpolitik, wen kann das überraschen. In diesem Feld, von Burka-Verbot über Asylkrise 2015 bis hin zum UN-Migrationspakt, erstreckt sich die schmale Spahnbreite, die eine andere Inszenierung zunehmend überblendet, nämlich die des digitalen und generationengerechten Modernisierers mit LGBT-Emanzipationsdrang.
Jahrelang konnte man sehen, wie ausgerechnet der selbst selten plakative Wolfgang Schäuble den Münsterländer unter seine Fittiche nahm und ihm als parlamentarischer Staatssekretär im Finanzministerium eine Art Libero-Position verschaffte, die Spahn eigenartigerweise nicht zur Profilierung bei den Themen Euro, Haushalt und Bankenregulierung nutzte, sondern als Plattform für demonstrative Migrations- und Merkelskepsis. Man hätte also erwarten können, ja müssen, dass Spahn am Abend der Bundestagswahl, spätestens am Montag danach, einen überschaubar riskanten Angriff startet: Mit einer Ankündigung, gegen Volker Kauder um den Fraktionsvorsitz der CDU/CSU zu kandidieren. Stattdessen ließ er sich Monate später von Angela Merkel gnädig auf einem seiner früheren Fachgebiete ins Kabinett einbinden und verpasste so auch die zweite Chance, mit einem Sieg gegen Kauder ein Jahr später eine Schlüsselstellung bei einem Kanzlerwechsel einzunehmen. Das schaffte ein bis dahin nur Eingeweihten bekannter Christdemokrat aus seinem Landesverband, Ralph Brinkhaus, scheinbar mühelos.
2. Friedrich Merz: Der Martin Schulz der CDU
Am 11. Oktober – also bereits vor den Landtagwahlen in Bayern und Hessen – lancierte dann Friedrich Merz in der „Süddeutschen Zeitung“ seine Bereitschaft, für den CDU-Vorsitz zu kandidieren. Als Angela Merkel nach der glimpflich ausgegangenen Hessen-Wahl die Zeit für gekommen hielt, den Stabwechsel einzuleiten, schien keiner überraschter als Spahn. Seitdem balgen er und Merz um die Stimmen der Merkel-Kritiker unter den Delegierten. Ihren Kandidaturen wohnt der unausgesprochene Vorwurf inne, dass der andere es ja nicht könne. Und das Ganze wird durch die unwidersprochenen Berichte auf die Spitze getrieben, wonach Wolfgang Schäuble der wesentliche Ermutiger und Ermöglicher hinter Friedrich Merz‘ Kandidatur gewesen ist. Da hätte sich der Badener – er selbst war Vorgänger von Angela Merkel im Parteivorsitz – dann aber auch verzockt.
Friedrich Merz ist in der Lage, einen CDU-Parteitag schwindlig zu reden. Und das wird er in Hamburg unter Beweis stellen. Die Frage ist, wie schnell der Schwindel sich legt. Bei der SPD haben die Delegierten schon länger ein Recht auf Rausch für sich reklamiert – elektoraler Kater inklusive. Und in der Tat ist Merz so etwas wie ein Martin-Schulz-Wiedergänger im Lager der Christdemokraten. Wie der Sozialdemokrat war er viele Jahre fern der Hauptstadt (wobei Schulz in Parteigremien präsent war). Wie er kann er sich als unbefleckte Projektionsfläche aufstellen, der mit den schmerzlichen Kompromissen in ungeliebten Koalitionen und dem Aufkommen populistischer Parteien am Rand des Spektrums nichts zu tun hat. Wie ein Erlöser („Merz kommt wieder – bis du bereit?“) schwebt er zurück in der Kampfzone der Erlahmten, um selbstlos Dienst zu tun – und dabei auf ein Spitzeneinkommen zu verzichten (wie auch Schulz). Für CDU-Funktionsträger älteren Semesters – und sie stellen die erdrückende Mehrheit auf einem Bundesparteitag – ist er der fleischgewordene Enkeltrick: Sie übersehen nicht nur, dass nicht Merkels Führungsanspruch 2002, sondern die spätere Abwesenheit von Merz die Schwächung des wirtschaftsliberalen Flügels verursacht hat. Sie vergessen auch, dass die wohlige Geschlossenheit rund um das Herdfeuer der Union unter Oppositionsführer Merz eine der Voraussetzungen dafür war, dass Gerhard Schröder und Joschka Fischer auf der Regierungsbank Platz nehmen konnten. Die gesellschaftspolitische Modernisierung der CDU in der Ära Merkel war ja vor allem eine nachholende. Und gerade die CDU-Abgeordneten, die es noch besser wissen müssten, jubeln nach 13 Regierungsjahren einem Mann als Hoffnungsträger zu, der ihr letzter –gescheiterter – Oppositionsführer war.
Klar: Merz sagt, angesprochen auf fortgesetzte Zeitgeistlosigkeit: Ich bin heute ein anderer. Und angesprochen auf Rückabwicklungspläne: Ich bin kein Anti-Merkel. Aber für Ersteres bleibt er Erläuterungen schuldig. Seine Anhänger wollen ihn für Letzteres wählen. Daraus ergibt sich eine Kluft zwischen Erwartungen und Erfüllbarkeit – von den aus CDU-Sicht fatalen Folgen einer Mitglieder- und Stammwählerfixierung im Parteienwettbewerb ganz absehen. Und, ja: Es sind noch dezidierte Merkel-Wähler zu verlieren.
Merz erhält auf den Regionalkonferenzen den vehementesten Beifall, wenn er – ohne den Ansatz einer Strategie – postuliert, die Werte der AfD zu halbieren und die CDU zurück zu mehr als 40 Prozent zu führen. Die letzte Person an der Parteispitze, die solche Werte erreichte, war Angela Merkel. Und es ist noch nicht so lange her. Das war 2013. Und die damals noch nicht rechtsextreme AfD scheiterte an der Fünfprozenthürde. Merkels Entscheidung, den von Griechenland und Ungarn durchgewunkenen Flüchtlingsmarsch nicht an der bayerisch-österreichischen Grenze in Blut zu ertränken, hat den Aufschwung der AfD zwar ausgelöst und ermöglicht. Aber nur die konsequente Verstärkung der Kritik aus den Reihen der Union selbst (öffentlich wahrnehmbar vor allem dank der CSU), verlieh der Erzählung der AfD Glaubwürdigkeit und Geltung und zersetzte die Wählerzustimmung zur Union.
Als die CSU und die CDU Anfang 2017 einen – kaum glaubhaften – Burgfrieden schlossen und die Bayern einige Monate lang das Trommelfeuer einstellten, stiegen die Unions-Werte. In drei Bundesländern siegte die CDU unerwartet und stellte Ministerpräsidenten in drei unterschiedlichen und bis heute stabilen Koalitionen. Nach der letzten der drei Wahlen gelang es der AfD und ihren Netzwerken unter tatkräftiger Mithilfe von CDU-Kreisen und der CSU, das Migrationsthema wieder in den Fokus der Auseinandersitzung zu ziehen; der Vorsprung der Union wurde geschreddert.
Die Landtagswahl in Bayern erlebte ein Jahr später eine Reprise des Geschehens, wobei das Auftreten der Union inzwischen so von den Merkel-Gegnern dominiert wurde, dass die Verluste in Richtung Grüne die nach rechts noch überstiegen.
Die Delegierten wissen, dass sowohl Spahn als auch viele von Merzens Unterstützern diese Sackgasse bis ans Ende durchschreiten wollen.
3. Man kann für sie sein, ohne gegen Merkel zu sein: „AKK“
Kramp-Karrenbauer, im Polit-Jargon kurz „AKK“ genannt, hat anderes vor. Und damit sind wir bei der letzten der drei Bewerber angelangt.
Kramp-Karrenbauer hat eine von Merkel und ihrer Ära abgelöste Agenda. Sie gehört weder zu ihren frühen Unterstützern noch zu den engen Begleitern ihrer Kanzlerschaft. Sie hat – im Gegensatz zu Spahn und Merz – Erfahrung als Ministerin und Regierungschefin und hat persönlich Wahlkämpfe über die eigene Wahlkreisgrenze hinaus geführt. Außerdem hat sie mit wechselnden Koalitionen regiert und mit der letzten Wiederwahl en passant die Flamme unter dem gerade abgehobenen Heißluftballon Schulz abgedreht. Schließlich hat sie ihr Regierungsamt abgegeben und, ins Risiko gehend, die Partei zu ihrem ausschließlichen Aktionsfeld erklärt und die Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms gestartet. Es gelingt ihr geschickt, sich politisch von Angela Merkel zu lösen, ohne mit ihr zu brechen. Ihre Ankündigung, die migrationspolitischen Entscheidungen des Jahres 2015 im kommenden Frühjahr grundlegend aufzuarbeiten, löst die die CDU spaltende Frage elegant von der anstehenden Personalentscheidung. Ins Merkel-Lager der „Union der Mitte“ hinein hat sie aber ein klares Bekenntnis zur Richtigkeit des Kurses von 2015 gesendet. Man kann also für Kramp-Karrenbauer stimmen, ohne sich rückwirkend zu Merkel zu bekennen. Und man hat die Aussicht, dass die Partei nach einer kathartischen Aussprache neu zu sich findet. Der Parteitag wird mit seiner kollektiven Gemütslage einen Parteivorsitzenden wollen und wählen, der dieses Versprechen einlösen kann: Die CDU wieder nach vorne blicken und geeint und kämpferisch auftreten zu lassen.
Das aber können Merz und Spahn nicht liefern. Sie setzen im Gegenteil darauf, den 2015 begonnenen Konflikt zum Gewinn der innerparteilichen Mehrheit zu nutzen – und vertiefen ihn dadurch. Dazu kommt die Gewissheit, dass beide nicht in der Lage sein würden, sich als Parteichef mit der alles andere als amtsmüde wirkenden Kanzlerin Merkel zu arrangieren. Von Merz, der ja Merkels Vorgänger als Unionsfraktionschef war, muss man nach ihrem Sturz eher eine Art Rückabwicklung ihrer Ära erwarten – und nicht wenige in der Partei erhoffen das im Grunde ja auch, nicht zuletzt mit Blick auf die eigene Karriere, wenn es zu einem ausgreifenden Personalwechsel kommt.
Bei Kramp-Karrenbauer kann man sich dagegen sicher sein, dass beide Frauen einen für die Partei gewinnbringenden Stabwechsel auch im Kanzleramt arrangieren werden. Für die harmoniebedürftige CDU eine zutiefst beruhigende Aussicht. Sie wird dann kein selbstzufriedener Kanzlerwahlverein mehr sein, sondern ein selbstzufriedener Kanzlerinnenwahlverein. Aber von der hinreißenden Vorstellungsrede des Bewerbers Merz wird man sich nach dem Hamburger Parteitag noch viele Jahre erzählen.
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