Heute Hongkong – und morgen die ganze Welt
Erst hat das Parlament seine Opposition verloren, dann ist Joshua Wong zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden: In Hongkong vergeht seit der Verabschiedung des „Sicherheitsgesetzes“ keine Woche ohne schlechte Nachrichten. Doch das Gesetz stellt den Westen noch vor ein ganz anderes Problem: Mit ihm will Peking globale Rechtsstandards setzen.
Eine Anekdote: Im September kam die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) zusammen. Bei der Generaldebatte trug Christoph Heusgen, der ständige UN-Vertreter Deutschlands, im Namen von 39 Staaten die Sorge vor, dass das chinesische „Sicherheitsgesetz“ in Hongkong im Widerspruch zu den internationalen Verpflichtungen der Volksrepublik stehe.
Doch die Reaktion kam prompt. Direkt im Anschluss erklärte der Vertreter Pakistans stellvertretend für 54 Staaten, dass es sich bei dem „Sicherheitsgesetz“ um eine innere Angelegenheit Chinas handele. Wenige Tage später wählte die internationale Gemeinschaft China für drei Jahre in den UN-Menschenrechtsrat.
Im Westen – und auch in Deutschland – ist die Mehrheitsmeinung zum chinesischen „Sicherheitsgesetz“ in Hongkong, dass sich Peking mit dem Gesetz ins politische Abseits befördert habe. Aus der Perspektive des westlichen Liberalismus erscheint das fraglos folgerichtig. Doch so folgerichtig diese Sicht sein mag: Sie verstellt den Blick für das Ausmaß des Problems. In Wirklichkeit ist China mit seiner autoritären Gesetzgebung nicht isoliert. Im Gegenteil, international erhält das Land für das „Sicherheitsgesetz“ Unterstützung.
Seit Peking in Hongkong das „Gesetz der Volksrepublik China zur Wahrung der nationalen Sicherheit in der Sonderverwaltungszone Hongkong“ eingeführt hat, ist die Freiheit dort in freiem Fall. Im Juli wurde die Parlamentswahl verschoben. Erst vor kurzem schmiss die Regierung vier prodemokratische Abgeordnete aus dem Parlament – woraufhin das gesamte prodemokratische Lager aus Protest zurücktrat. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist Hongkong damit ohne parlamentarische Opposition.
Zudem geht Peking immer aggressiver gegen die außerparlamentarische Opposition vor. Diese Woche sind die Demokratieaktivisten Joshua Wong, Ivan Lam und Agnes Chow zu Gefängnisstrafen verurteil worden. Beobachter gehen davon aus, dass die Urteile nur den Anfang für weitere Repressionen darstellen.
Doch was in Deutschland angesichts solch furchtbarer Nachrichten zu kurz kommt, ist die Auseinandersetzung mit den strukturellen Problemen, vor die das „Sicherheitsgesetz“ den Westen stellt. Die Volksrepublik will mit dem Gesetz nämlich nicht nur die Demokratiebewegung zerschlagen. Sie strebt mit ihm auch internationale Deutungshoheit bei Rechtsfragen an. Und sie hat damit, so beschreibt es Moritz Rudolf in einer jüngst veröffentlichten Analyse, mehr Erfolg als dem Westen lieb sein kann. Rudolf forscht an der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Der Experte beginnt seine Analyse mit der Beobachtung, dass westliche Demokratien bei der Bewertung der Hongkong-Frage „zusehends isoliert sind“.
Das Fundament des modernen Hongkongs, die Chinesisch-Britische Erklärung von 1984, in der die Rückgabe der ehemaligen britischen Kronkolonie von Großbritannien an die Volksrepublik geregelt ist, ist ein Vertrag voller juristischer Mängel. In Artikel 3 Absatz 2 heißt es etwa, dass die Sonderverwaltungszone „ein hohes Maß an Autonomie“ genießen werde. Doch nur einen Satz vorher heißt es, dass sie „direkt der Autorität der zentralen Volksregierung“ unterstellt sein werde. Na, was denn jetzt?
Wenn die Volksrepublik heute also argumentiert, sie habe die volle Autorität über Hongkong und das vom Parlament in Peking erlassene „Sicherheitsgesetz“ sei eine innere Angelegenheit, ist das zwar strittig, aber nicht abwegig. Das praktische Problem: Großbritannien hat es bei den Verhandlungen versäumt, einen Mechanismus einzuführen, der China zur Einhaltung der Autonomie verpflichtet. Zwar erstellt die britische Regierung seit der Rückgabe Hongkongs im Juli 1997 regelmäßig Berichte über die Umsetzung der Erklärung. Aber diese haben rein symbolischen Wert. De facto sind Großbritannien – und dem Westen – die Hände gebunden.
Zur unbequemen Wahrheit gehört: Die Ausgestaltung der Autonomie Hongkongs ist immer vom guten Willen Pekings abhängig gewesen. Und dieser ist, das macht die Volksrepublik fast täglich deutlich, an ein Ende gelangt. Seit 2014 die „Regenschirm-Revolution“ fast 80 Tage lang die Stadt lahmgelegt hat, hat die Volksrepublik darüber nachgedacht, wie sie die Proteste, die sie als Bedrohung ihrer Souveränität betrachtet, ausmerzen kann.
Dieses Nachdenken hat zum Aufstieg einer juristischen Schule geführt, die Forscher den „Etatismus“ nennen – und die Anleihen bei Carl Schmitt macht, dem antiliberalen Staatsrechtler und Starjuristen der Nazis. Das Ergebnis dieses Nachdenkens ist das „Sicherheitsgesetz“. Es ist die Gesetz gewordene „Freund-Feind-Unterscheidung“.
Doch die Bedeutung des „Sicherheitsgesetzes“ geht weit über Hongkong hinaus. Das Vorgehen in Hongkong sei ein „Testballon“, schreibt der SWP-Experte Rudolf. Peking teste damit seine internationale Deutungshoheit bei juristischen Fragen. Zudem sei es strategisch in die Seidenstraßeninitiative (Belt and Road Initiative; BRI) eingebettet.
Unter diesem Namen werden seit 2013 Projekte gebündelt, die sich in ein Handels- und Infrastruktur-Netz zwischen China und mehr als 60 Ländern in Asien, Afrika und Europa einfügen. Peking, so Rudolf, arbeite systematisch daran, wirtschaftlich abhängige Staaten von den eigenen Rechtsvorstellungen zu überzeugen. 2019 veranstaltete die Volksrepublik etwa Schulungsprogramme für Juristen aus BRI-Staaten. Sie versuche so, schreibt Rudolf, ihre Völkerrechtspraxis, ihre Rechtsauffassung und ihre Theorie des „sozialistischen Rechts chinesischer Prägung“ zu verbreiten.
Das Worst-Case-Szenario, das Rudolf fürchtet, ist dieses: Das chinesische „Sicherheitsgesetz“ nimmt für sich in Anspruch, auch außerhalb Hongkongs Gültigkeit zu haben. Artikel 38 besagt, dass das Gesetz weltweit für jeden gelte, der einen der Straftatbestände erfülle. Für die Zukunft ist denkbar, schreibt Rudolf, dass China die Extraterritorialität des „Sicherheitsgesetzes“ exzessiv auslege – „und dafür Verständnis aus den Reihen einiger BRI-Staaten erhält“. Schon heute verfügt Peking über ein stetig wachsendes Netzwerk von Auslieferungsabkommen. Praktisch bedeutet das: Ein europäischer Staatsbürger könnte, wenn er einen der vage formulierten Straftatbestände des „Sicherheitsgesetzes“ erfüllt, auf der Durchreise durch ein Land, das mit Hongkong ein Auslieferungsabkommen hat, festgesetzt – und schließlich nach Hongkong ausgeliefert werden.
Folgt man der Analyse Rudolfs, dann ist der Westen – und auch Deutschland – bereits im Hintertreffen. Denn die Volksrepublik ist nicht nur vorbereitet. Sie hat auch ein über Jahrzehnte erworbenes Verständnis europäischer Rechtsvorstellungen. Um überhaupt auf Augenhöhe mit der chinesischen Seite diskutieren zu können, sei es deswegen notwendig, dass der Bundestag, alle relevanten Bundesministerien und alle europäischen Instanzen mehr Kompetenz in Sachen chinesische Rechts- und Völkerrechtsvorstellungen erwürben, schreibt der SWP-Forscher. Auch sei es wichtig, der Marginalisierung westlicher Rechtsvorstellungen entgegenzuwirken. Im Klartext heißt das: Auch Deutschland und Europa sollten mit juristischen Ausbildungsprogrammen im Ausland für europäische Rechtsvorstellungen werben.
Die Entwicklung in Hongkong, so Rudolf, sei nur Vorbote für eine selbstbewusst auftretende Volksrepublik, die ihre sozialistisch-leninistischen Rechtsvorstellungen verbreiten wolle. „China strebt danach, eine regelbasierte Ordnung zu schaffen“, schreibt er, „in der es selbst die Leitlinien und Prozesse vorgibt.“
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